Roman 3
von Thomas Matschoss
Prolog
Die Geschichte beginnt in einer dieser Vollmondnächte, die so hell sind, dass man nicht einschlafen kann, selbst wenn man den ganzen Tag schwer gearbeitet hat. Holz gehackt oder ein halbes Haus gebaut, solche Sachen. Wenn der volle Mond orange glüht und ganz tief über dem Horizont schwebt, so dass man lange Schatten wirft – mit orangenen Umrandungen -, vor denen man an schlechten Tagen selber Angst bekommt.
Aber es war kein schlechter Tag. Und ich war nicht ängstlich. Nicht zu dieser Zeit. Ich war 12 Jahre alt und eine aufregende Zukunft lag vor mir. Eine Zukunft, die ich mir erobern würde. Erobern nicht in dem Sinn einer militärischen Operation, sondern als Metapher für eine explodierende Neugier, die all die sinn – und endlosen Wiederholungen von nur aus purer Langeweile eingeübten Tagesabläufen und nur für uralte Menschen begreifbare Rituale in die Luft sprengen würde.
Aber da hatte ich mich getäuscht. Etwas war in diesem Moment tatsächlich weggesprengt worden und es dauerte viele Jahre, bis ich begriff, dass das die Vorstellung von Zukunft überhaupt war. In der Sekunde als ich mich gebückt hatte, um etwas aufzuheben, das mir wie ein Handy vorkam. Es lag im Gras und blinkte im Licht dieses alles der orangefarbenumrandeten Helligkeit übergebenden Vollmondes.
Ich merkte sehr schnell, es war kein Handy. Aber es hatte einen Bildschirm. Und zwei Buttons. PLAY. Das war der eine.
DONT PLAY. Das war der zweite.
Ich drückte auf PLAY. Und damit änderte sich alles.
Oder gerade nicht.
Das versuche ich seitdem herauszufinden. Und ich bin jetzt fast 94 Jahre alt. Es ist die Silvesternacht des Jahres 2093. Ich sitze in einem kaputten Hochhaus in Colombo, Sri Lanka und warte.
Und noch immer glaube ich, dass etwas explodieren wird.
Wenn man einen Menschen ansieht, also wirklich ansieht, nicht nur hin – und gleich wieder weg – denn dann sieht man nur sich selbst und davon auch nur die Oberfläche – also wenn man den anderen wirklich betrachtet und man genau so betrachtet wird – und das für eine wirklich lange Zeit – und lang, das heißt immer etwas länger als das, was einem eigentlich schon lang vorkommt – also wenn man jemanden auf diese Art für eine wirklich lange Zeit anschaut, dann -
verändert sich die Welt.
Das hat er gesagt. Brendan Ford. So hat er sich mir vorgestellt. Vor vielen Jahren. Es war ebenfalls in Colombo, Sri Lanka. Ein Teehaus. Ich war da im Urlaub. Oder auf der Flucht. Je nachdem, wie ihr die Geschichte versteht. PLAY oder DONT PLAY.
Natürlich heisst er nicht Brendan Ford. Er hat keinen Namen. Nicht wie wir Menschen. Denn er ist kein Mensch.
Ihr denkt also, was ist er dann? Ein Wesen, dass sich mir vorstellen kann, mit einem englisch klingenden Namen, in einem Teehaus in Sri Lanka? Aber kein Mensch?!!!
Also nur damit ihr nicht denkt, es geht hier um irgendeine philosophische Scheiße.
NEIN. Es geht um die handfesten Dinge des Lebens. Gewalt. Liebe. Tod.
Und ich fange von vorne an oder wie der große schwedische Dichter Lars Gustaffson immer wieder geschrieben hat:
Wir geben nicht auf. Wir fangen wieder an.
Kapitel 1
Also zurück in die Nacht des orangenen Vollmondes. Spätsommer. 2012. Wie das klingt. 2012. Eine Jahreszahl aus einem Märchen. Es war einmal vor langer, langer Zeit. Aber auch diese Zeit hat es einmal gegeben. Genauso wirklich oder unwirklich wie heute. 2093. Nur dass fast alles, das die Realität des Jahres 2012 ausmachte, heute verschwunden ist. Aber auch das ist ja normal. 81 Jahre vergehen und alles verschwindet. In diesem Satz ist nichts Tragisches enthalten. Nur die Normalität unserer Vergänglichkeit und die Schönheit von Veränderungen. Oder der Schrecken. Das sind nur zwei unterschiedliche Arten die Welt und unsere Rolle darin zu betrachten.
Stop. Ich will nicht philosophieren. Ich habe es euch versprochen. Also hier in aller Kürze die Fakten.
Wie alles begann.
Meine Eltern lebten in Hamburg und arbeiteten beim Fernsehen. Meine Mutter war Schauspielerin. Ihre Paraderolle war Frau Dr. Kessler im Heidekrankenhaus. Ihr müsst euch nicht schämen, wenn ihr das nie gesehen habt. Lief im Vorabendprogramm und war der übliche Lebensrettungskitsch, der damals von vielen als kleine Flucht aus dem ach so beschwerlichen Alltag ganz gerne zur Begleitung eines ansonsten sterbenslangweiligen Abendessens angestarrt wurde. Meine Mutter war über 20 Jahre lang Frau Dr. Kessler. Das hat mir das Aufwachsen in einer Traumaltbaueigentumswohnung in Hamburg Ottensen ermöglicht, also werde ich mich nicht beklagen. Weder über Frau Dr. Kessler. Noch über meine Mutter.
Mein Vater schrieb Texte für einige zu dieser Zeit sehr angesagte Komiker. Satire. Comedy. Auch eine damals sehr beliebte Art aus der Realität abzuhauen. Er war politisch engagiert, aber das waren damals alle in den geräumigen Altbauwohnungen in Hamburg Ottensen. Ich glaube er litt an der Oberflächlichkeit seiner Texte. Das würde jedenfalls erklären, dass er zwar viele Menschen zum Lachen brachte, ich mich aber nicht erinnern kann, ihn überhaupt einmal lachen gesehen zu haben. Auch das nicht weiter tragisch. Es war nur nicht seine Art. Manchmal staunte er über die Welt und seine Mitmenschen, dann lächelte er immerhin, aber ansonsten schaute er irgendwie ausdruckslos auf das Chaos um ihn herum. Chaos, weil ich noch zwei Geschwister hatte. Zwillinge und 10 Jahre jünger als ich. Jenna und Jennifer. Meine Mutter war den beiden Mädchen rettungslos verfallen. Was immer sie anstellten, es war einfach süss. Und das waren sie auch. Zwei süsse Mädchen.
Also wirklich eine gute Familie. Eine tolle Wohnung in einem angesagten Wohnviertel in einer lebenswerten Stadt in einem der damals reichsten Länder der Erde. Ich liebte mein priviligiertes Leben. Von heute aus betrachtet war ich vielleicht ein verwöhnter, etwas altkluger und ziemlich arroganter Schnösel, aber mal ehrlich: Das waren wir doch alle zu dieser Zeit in dieser Gegend der Welt.
Das einzig Blöde war, dass meine Eltern beide einen Tick hatten. Sie liebten das Landleben. Also das, was man sich von Ottensen aus so als Landleben vorstellte. Und so machten wir immer wieder Ausflüge ins – Hamburger Umland. Nahezu jedes Wochende fuhren wir mit unserem familiengerechten siebensitzigen Kleinbus zum Wandern. Äpfel ernten. Paddeln auf kleinen verträumten Flüssen. Ich wollte lieber mit meinen Kumpels abhängen, das heisst am Computer spielen und Superheldenfilme gucken, aber als 12 jährigem wurde mir noch keine großartige Selbstständigkeit zugestanden. Immerhin waren die Ausflüge seit der Geburt der Zwillinge deutlich weniger und kürzer geworden, aber an diesem Wochenende waren die beiden Kleinen bei den Großeltern und wir endlich mal wieder zu dritt unterwegs. Das bedeutete eine mehrstündige Wanderung durch die Lüneburger Heide und Übernachtung in einem Landgasthaus in der Nähe von Amelinghausen. Diese Gegend tat damals so, als ob dort jeder zweite Mensch Schäfer war, dabei arbeiteten sie fast alle in Hamburg und saßen jeden Tag zwei Stunden allein in ihren SUV's, um zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen. Auf der Speisekarte des Gasthauses gab es praktisch nur Heidschnucken. In allen Varianten.
Ich habe meine Eltern selten so glücklich gesehen. Selbst mein Vater lächelte ein wenig. Sie wirkten wie frischverliebt und um sie in diesem Zustand nicht aushalten zu müssen, täuschte ich vor, sehr müde zu sein.
Ich hatte ein eigenes Zimmer und keinen Handyempfang. Also habe ich früh geschlafen, aber bin irgendwann von den Sexgeräuschen meiner Eltern aus dem Nebenzimmer aufgewacht. Ich wollte das nicht hören. Mein Vater klang wie eine röhrende Heidschnucke und meine Mutter stöhnte in einer unglaublich hohen Tonlage. Eigentlich klang das wie eine Orgie in einem schrägen Zeichentrickfilm. Sie hätten wenigstens das Fenster schließen können.
Ich war also hellwach und hörte meinen ausgelassenen Eltern zu, die sich in einen Heidschnuckenhirsch und eine quietschende Comicfigur auf dem Weg zum Orgasmus ihres Lebens verwandelt hatten und beschloss, dass ich das nicht aushalten müsse. Also zog ich mich an und ging hinaus. Und da war dieser orangenfarbene Riesenmond. Unheimlich und wunderschön. Ich ging hinaus in den Garten des Gasthauses, bis ich nichts mehr von der Orgie mitbekam, starrte auf den Mond und versuchte nicht an Sex zu denken. Ich war 12, aber ich wusste natürlich Bescheid. Es war 2012. Ich hatte ein Handy. Ich hatte schon alles gesehen. Aber der Gedanke an Sex zwischen meinen Eltern machte mich nervös. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern das taten, was ich in den kleinen Pornos auf dem Schulhof gesehen hatte. Dass sie ihre gewohnte Kontrolle jemals so vergessen könnten.
Also ging ich noch ein paar Schritte weiter. Auf den orangenen Mond zu.
Und da lag das komische Teil. Im orangenen Gras vor mir. Und ich bückte mich. Starrte es an. Und drückte auf den PLAY Button.
Alle Kinder hätten das gemacht. 2012! Ein handyähnliches Gerät auf dem einem die Auswahl zwischen Spielen und Nichtspielen gelassen wird. Alle 12 jährigen hätten innerhalb von drei Sekunden auf PLAY gedrückt. Egal ob in Ottensen oder in der Lüneburger Heide. Egal ob die Eltern schnarchen oder den Sex ihres Lebens haben. Egal ob der Mond viel zu groß und viel zu orange scheint.
Und außerdem wäre, auch wenn ich nicht auf PLAY gedrückt hätte, passiert, was eben passiert ist.
Zumindest denke ich das jetzt in meinem Versteck im 42.ten Stock.
Kapitel 2
Ich drücke auf PLAY.
Und sehe ein kurzes Video.
Ich habe es seitdem vielleicht ein paar hundert Mal gesehen.
Und ich habe schließlich selbst erlebt, was auf dem Film zu sehen ist.
Es ist ein Innenraum. Eine Garderobe. Nicht besonders groß. Zwei Stühle, zwei Schminktische. Zwei Spiegel.
Der Raum hat keine Fenster. Zumindest sieht es auf dem Video so aus. In der Realität habe ich Jahre später entdeckt, dass da durchaus ein Fenster war. Davor ein seltsam skelettartiger Baum, der von einem genauso orangenen Riesenmond beleuchtet wird, wie ich ihn in der Nacht des Jahres 2012 gesehen habe. Aber das wusste ich damals noch nicht. Auf dem Video waren keine Fenster zu sehen und das Licht war nicht orangen, sondern grellweiß und kam von einer Stehlampe, die der Kamera wohl genau in die Linse blendete.
Mehr sehe ich nicht von dem Raum. Eine nichtssagende Garderobe. Ich kannte das von Besuchen bei den Dreharbeiten meiner Mutter.
In dem Raum sind 4 Personen. Zwei Frauen, zwei Männer. Der jüngere der beiden Männer hat eine Pistole. Er bedroht damit den anderen Mann. Er verlangt von ihm einen Text vorzulesen. Die eine der Frauen wird diese kurze Rede mit einem Handy aufnehmen. Diese Frau weint. Sie hält das Handy hoch und Tränen laufen unaufhörlich über ihr Gesicht. Die vierte Frau hat einen viel zu großen Pullover an. Sie verschwindet fast darin. Ein selbstgestricktes Wollmonstrum mit einem gelben Smiley, das eine Maske trägt. Sie sieht aus, als würde sie am liebsten unsichtbar sein.
Der bedrohte Mann ist ein gutaussehender großer Mann, der trotz seiner offensichtlich sehr misslichen Lage noch ein überzeugendes Lächeln hinkriegt.
„Fangen Sie endlich an“, sagt der Mann mit der Pistole.
„Es wird Ihnen nicht helfen, es wird niemandem helfen“, antwortet der andere, immer noch lächelnd.
Der mit der Pistole fängt an zu zählen. Rückwärts von zehn beginnend. Seine Stimme wird von Zahl zu Zahl immer dünner. Die Frau mit dem Handy weint noch immer.
Bei drei fängt der andere an zu lesen: „Ich, Robert von Barkhausen, Präsident der Republik Zentraleuropa erkläre hiermit meinen Rücktritt von allen Ämtern. Ich tue das freiwillig“ - das Lächeln wird noch einen Tick breiter - „und aus tiefster Überzeugung, dass damit der Weg zu einem dauerhaften Frieden möglich sein wird. Als letzte Amtshandlung hebe ich das Verbot aller politischen Parteien auf und ordne demokratische Neuwahlen zum 1. März 2036 an.“
An dieser Stelle hört er auf und sagt noch einmal ganz leise zu der Frau mit der Kamera: „Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das. Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Johanna schaut zu ihm, aber der sagt nur, „Lad das Video hoch“.
Dann stehen sie alle drei ein paar Sekunden sehr still. Wie eingefroren. Nur die Frau mit dem maskiertem Smileypullover versucht noch mehr in ihrem Pulli zu verschwinden.
Plötzlich hört man einen kurzen sehr hohen Ton und eine Sekunde später ein mechanisches Klicken. Dreimal kurz hintereinander. Vielleicht Schalter, die umgelegt werden.
Der große Mann hört auf zu lächeln. „Tut mir wirklich leid, Johanna“, sagt er und im selben Moment explodiert der Raum. Rauch und Stichflammen drängen in das Bild. Ein einzelner Schuss ist zu hören. „Nein, Fritz, nein!“, schreit Johanna und damit endet das Video.
Ich musste lachen. Natürlich war das nicht komisch, aber dieses „nein, Fritz, nein“ kam mir sowas von bekannt vor. Meine Mutter sagt das andauernd. Klar, ich heisse Fritz und bin 12 Jahre alt. Sie versucht oft, mir was zu verbieten. Zu viel Zeit am Handy, zuviel Mayo zu den Bio Pommes Frites, zuviel Schimpfwörter, zu wenig Rücksicht auf meine kleinen Schwestern. Immer „Nein, Fritz, nein.“
Ich drückte gleich nochmal auf Play. Schaute mir die Szene noch einmal an. Ganz schön spannend. Gut, auch ein bisschen unheimlich, aber ich hatte schon Heftigeres gesehen. Ich hätte gern gewusst, wie es weitergeht. Hatte mein Namensvetter den Präsidenten gekillt und warum weinte Johanna die ganze Zeit?
Aber es gab auf dem merkwürdigen Gerät nur diesen einen Clip. Keinen Hinweis aus welchem Film oder welcher Serie das stammte. Ich nahm mir mein Handy – hier im Garten hatte ich Empfang und versuchte das rauszufinden, aber bei Google fand sich nichts zu den Stichworten Robert von Barkhausen, Johanna und Republik Zentraleuropa. Vielleicht war es ein Video wie es Schauspieler auf ihre Websites tun. Meine Mutter drehte manchmal mit Schauspielschüler*innen solche kurzen Spots.
Nach dem erfolglosen Googeln ging ich wieder zurück in mein Zimmer. Der Mond schien mir noch einen Hauch größer geworden zu sein und gleichzeitig blasser, aber der Mond interessierte mich nicht mehr.
Meine Eltern waren nicht mehr zu hören, aber vielleicht waren sie noch wach. Rauchten einen kleinen Joint oder machten nur eine Pause in ihrer ausgelassenen Orgie. Also suchte ich an dem Gerät nach irgendwas, mit dem man den Ton leiser drehen konnte, aber da gab es nichts. Das Gerät war nur ein flacher, kleiner Kasten. Schwarz bis auf das matte Display. Und die beiden Buttons. PLAY und DONT PLAY. Nichts weiter, nicht einmal eine Firmenbezeichnung oder irgendeine Buchse um das Ding aufzuladen. Nichts weiter. Ich kroch unter die Bettdecke, damit der Ton nicht so laut zu hören war und drückte ein weiteres Mal auf PLAY. Obwohl ich ja schon wusste, was mich erwartete, fand ich es jetzt plötzlich sehr unheimlich. Ich lag in einer Höhle unter der Bettdecke, das Display als einzige Beleuchtung und schaute den Film dreimal hintereinander an. Keine weiteren Hinweise. Die Frau, die Johanna genannt wurde, tat mir leid. Warum war sie mit diesem Idioten mitgegangen, denn das mein Namensvetter ein Idiot war, war mir von Anfang an klar. Ich hatte schon mehrere Filme gesehen, wo sich Typen wie dieser Fritz in irgendwas reingesteigert hatten. Irgendetwas, das sie weder überschauen konnten noch waren sie der Situation auch nur annähernd gewachsen. Aber sie mussten es durchziehen. Die Knarre machte sie mutig, obwohl Fritz ziemlich zittrig und überspannt und auf jeden Fall alles andere als mutig aussah. Solche Filme gingen immer schlecht aus, dachte ich und kroch aus meiner Bettdeckenhöhle heraus. Ich streckte mich aus und merkte plötzlich wie müde ich war, aber bevor ich einschlief, nahm ich noch einmal das Gerät und drückte auf den DONT PLAY Button.
Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Das stand da. Schwarz auf weiß. Mehr war nicht zu sehen.
Ich nahm mein Handy und googelte auch das. Einen Brandon Ford gab es, ein amerikanischer Golfspieler, der in den 70er Jahren mal ein paar Turniere gewonnen hatte und vor drei Jahren an Krebs verstorben war. Einen 447 Luna Tower gab es nicht in Sri Lanka.
Jetzt im Jahre 2093 sitze ich im 447 Luna Tower, also, das was noch von ihm übrig ist. Im letzten Krieg sind die obersten 12 Stockwerke weggesprengt worden und wie fast überall auf der Welt hat man die Überreste einfach sich selbst überlassen.
Der 447 Luna Tower ist 2020 fertiggestellt worden. Kein Wunder, dass ich 2012 noch nichts darüber im Internet fand. Über Brandon Ford fand ich nie etwas im Netz. Weder bei Google noch sonstwo. Er existierte nicht. Oder nicht auf eine dem Internet verständliche Art.
In dieser Nacht habe ich nur noch ein paar Minuten gegoogelt, dann wurde ich wirklich müde. Am nächsten Morgen habe ich mir das Video ein weiteres Mal angeschaut. Dann habe ich das Gerät in meiner Tasche versteckt. Irgendwie wollte ich nicht, dass es meine Eltern sahen. Sie hätten es mir wahrscheinlich weggenommen. Ich hätte es dahin zurücklegen müssen, wo ich es gefunden hatte. „Dieser Mister Ford sucht es wahrscheinlich schon händeringend“, hätte meine Mutter mit todernster Miene behauptet und mir einen langen Vortrag über den Respekt vor fremdem Eigentum gehalten. Da habe ich es lieber versteckt. Über viele Jahre habe ich es versteckt. Ich habe es mir in den nächsten Wochen noch ein paar Mal angeschaut, aber nach wie vor ist mir nichts Besonderes mehr aufgefallen. Nur die immer gleiche Szene. Der nervöse Fritz mit seiner Knarre, die weinende Johanna und der Präsident Robert von Barkhausen mit seinem ewigen „Das wird niemandem helfen“ - Gelächel. Und die Explosion. Der Schuss. „Und Nein, Fritz, nein.“ Und natürlich die namenlose Frau, die versucht in dem viel zu großen Strickpullover mit der Smileymaske zu verschwinden.
Ich habe nie jemand von dem Videoclip erzählt. Das war mein Geheimnis. Ich war richtig stolz, so ein Geheimnis zu haben, aber nach ein paar Wochen habe ich es schon beinahe selbst vergessen.
Zwei Jahre später haben sich meine Eltern für mich völlig überraschend getrennt und ich zog mit meinem Vater zusammen um. Die Zwillinge blieben bei unserer Mutter. Während des Packens hatte mein Vater plötzlich das Gerät in der Hand. „Ist das ein alter Gameboy oder was?“, fragte er mich und wollte das Ding wegschmeissen. Ich sagte, ich wolle es behalten. „Warum denn das? Das ist doch total veraltet“, sagte er und wollte schon auf den PLAY Button drücken. „Nein Papa, nein“, sagte ich, „wir haben jetzt keine Zeit für eine Runde Pacman oder Zuma.“ „Hast du denn dafür noch ein Ladekabel?“ Ich stotterte etwas, ja das hätte ich schon verpackt und nahm ihm das Ding ab. Als er den Raum verlassen hatte, drückte ich nochmal auf PLAY. Zu meiner Überraschung lief der Film sofort und ohne Probleme ab. Musste ein wirklich guter Akku drin sein, dachte ich. Ansonsten derselbe altbekannte Film. Ich steckte es tief unten in einen Umzugkiste mit lauter alten Spielsachen, die ich in der neuen Wohnung sofort auf den Dachboden brachte, wo sie bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag unberührt vor sich hingammelte.
2020 war das Jahr der Corona Pandemie, ich weiß nicht, ob ihr euch erinnert, war ja damals ne große Sache, man sollte am besten niemand anderen treffen und deshalb war meine Geburtstagsparty auch ziemlich klein ausgefallen. Zwei Freunde und Miriam, meine erste Freundin, mit der ich zu diesem Zeitpunkt schon fast vier Jahre zusammen war. Mein Vater und meine Mutter natürlich mit den inzwischen zehnjährigen Zwillingen. Meine Mutter überreichte mir ein dickes Paket und wirkte sehr nervös, als ich es auspackte.
„Du musst ihn nicht anziehen, wenn er dir nicht gefällt“, sagte sie, noch bevor ich wusste, um was es sich handelte. „Ich hab in der Quarantäne mit dem Stricken angefangen und ich fand es irgendwie witzig, aber wenn du nicht willst...“
Sie hörte mitten im Satz auf, weil ich jetzt fertig mit dem Auspacken war und den Pullover in der Hand hatte. Völlig entgeistert schaute ich auf das Smiley mit der Maske.
„Der ist ein bisschen zu groß geworden, aber ich bin ja auch aus der Übung“, stotterte meine Mutter, „also wenn er dir nicht gefällt...“
Sie tat mir leid. Es war ein häßliches Monstrum und ein Smiley mit Maske war in dieser Zeit so ungefähr das Unwitzigste, was man sich vorstellen konnte. Nicht mal unter Androhung von Folter hätte ich mir das Ding angezogen, aber meine Mutter tat mir einfach leid. Sie konnte nicht wissen, warum ich so entsetzt guckte. Und natürlich wollte ich ihr den wahren Grund nicht erzählen. Also tat ich so, als ob ich den Pulli total toll fand und zog ihn an. Miriam konnte sich nicht halten vor Lachen und auch meine beiden Kumpels verarschten meine Mutter mit völlig überzogenen Komplimenten für ihre Strickkünste. Nur mein Vater meinte, dass der Sinn für Humor bei meiner Mutter ja schon immer nicht so ausgeprägt gewesen wäre.
Um halbdrei Uhr nachts – meine Kumpels, meine Mutter und die Zwillinge waren weg, mein Vater war noch zu seiner neuen Freundin verschwunden und Miriam schlief selig – schlich ich mich auf den Dachboden, öffnete die Kiste, räumte das Lego und die Kakerlakensalatspielkarten und den ganzen anderen Kinderkram heraus, bis ich das Ding in die Hände bekam. Ich zitterte ein wenig, als ich auf den PLAY Button drückte. Das Video lief genauso wie vor über acht Jahren. Und ich sah es sofort: Der Pullover, in dem sich die unbekannte Frau verstecken wollte, war derselbe, den ich in den Händen hielt. Farbe, das Smiley, die Maske, selbst die kleinsten Details stimmten: meine Mutter war bei der Maske anscheinend die Farbe ausgegangen. Oben war sie hellgrau und die unteren Reihen waren rot, wie ein dünner mit Lippenstift gezogener Mund. Lange sass ich frierend auf dem Dachboden vor der Kiste. Unfähig zu denken, unfähig mich zu bewegen. Nicht einmal atmen konnte ich richtig. Irgendwann fiel mir das Ding aus der Hand und ich erwachte aus meiner Starre. Ich packte es in die Kiste und schlich mich zurück in die Wohnung. Ich ging ganz leise ins Bett. Miriam wachte nicht auf, aber drückte sich im Schlaf an mich. Sie war sehr warm, sie war sehr real. Ich schlief innerhalb von ein paar Sekunden ein.
Kapitel 3
Wir blieben am nächsten Morgen sehr lange im Bett. Es war Sonntag. Niemand erwartete etwas von uns. Also blieben wir einfach liegen. Irgendwann machte Miriam Frühstück: Rühreier, Brötchen mit Lachs und Frischkäse. Kaffee. Wir aßen im Bett. Danach liebten wir uns. Ich musste an die Nacht mit dem orangenen Vollmond denken. An die Geräusche meiner Eltern. Wie peinlich mir das damals gewesen war. Und dann dachte ich natürlich wieder an das Video. An den schrecklichen Pulli. An die weinende Johanna und den Typ mit der Knarre, der genauso hiess wie ich.
Und ich versuchte zu verdrängen, was ich in der Nacht sofort erkannt hatte. Fritz, der Typ mit der Knarre, hiess nicht nur wie ich, er sah auch so aus wie ich. Etwas älter natürlich, vielleicht 10, 15 Jahre, aber die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Er hatte einen 5 – Tagebart, aber sonst sah er exakt aus, wie die etwas reifere und sehr viel nervösere Version des jungen Mannes, der mich jeden Morgen aus dem Badezimmerspiegel anschaute. Acht Jahre vorher wäre ich niemals auf die Idee gekommen, aber damals war ich auch erst einen Meter fünfzig groß. Wenn Fritz ich war, wer waren dann die anderen? Gut, Robert von Barkhausen hatte sich ja als Präsident von Zentraleuropa vorgestellt. Die Frau in dem Pulli konnte ich kaum erkennen, sie hätte Anfang 20 sein können oder um die 50, sie war klein und ein wenig pummelig. Und Johanna? Etwa mein Alter, also im Video so Mitte dreißig, schwarze Haare. Von heute aus würde ich gerne sagen, dass ich mich sofort in sie verliebt habe, aber das ist sentimentaler Quatsch. Nur weil ich viele Jahre verrückt nach ihr war. Alles getan habe, um sie lächeln zu sehen. Ein Kuss von ihr mich einverstanden machte mit der komischen Welt. Weil sie alles war. Wie gesagt, sentimentaler Quatsch. In diesem Moment war Johanna ein trauriges Gesicht. Ein schönes Gesicht ja, aber vor allem ein Gesicht voller Tränen und eine Stimme, die voller Angst „Nein, Fritz, nein“, rief.
Miriam schob mich irgendwann von ihr runter. Ob irgendwas sei? Ich schwieg. Ob sie etwas falsch mache? Ich schwieg. Ob ich sie nicht mehr liebe? Ich schwieg.
Vielleicht hätte ich es ihr erzählen sollen. Vielleicht wäre dann alles anders geworden?
Aber so wie ich das heute als uralter Mann sehe, wäre alles auch dann genauso geschehen, wie es eben geschehen ist. Brandon Ford ist auf jeden Fall dieser Meinung. Er glaubt nicht daran, dass wir Menschen so etwas wie einen freien Willen haben. „Du lebst nicht in einer Welt der Entscheidungen“, sagte er einmal zu mir, „du lebst in einer Welt, die schon lange bestimmt ist.“ „Und was ist mit Ihnen?“, wollte ich wissen. „Ich entscheide selbst. Ich entscheide jeden Schritt, den ich gehe, jedes Wort, das ich sage, jede Tat, die ich begehe.“
Ich habe ihm das geglaubt. Beinahe mein ganzes Leben habe ich so gelebt, als ob das wahr wäre. Dass ich nichts zu entscheiden habe. Aber jetzt warte ich hier im 447 Luna Tower, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Ich werde ihn überraschen. Auf eine so hundertprozentig unvorhersehbare Art, dass ihm sein Kopf explodiert.
Aber, wenn mir das gelänge, wenn ich doch einen freien Willen haben sollte, dann hätte ich Miriam damals in unserem Bett voller Brötchenkrümeln und Kaffeeflecken erzählen sollen, was mir durch den Kopf ging. Dass es nichts mit ihr zu tun hatte, sondern damit, dass ich die ganze Zeit, während ich so hilflos versuchte, sie zu lieben, daran dachte, dass ich 15 Jahre später einen Menschen mit einer Pistole bedrohen werde und dass dann ein Schuss fallen wird.
Wir hätten uns das Video zusammen angesehen und sie hätte mir gesagt, dass ich keinesfalls so aussehe wie der Typ mit der Knarre.
Oder sie hätte einfach den Smileypulli verbrannt.
Oder wir hätten unsere geplante Reise nach Neuseeland gemacht und wären da geblieben. Hätten uns um Pinguine oder Kiwis gekümmert, Kanutouren für gelangweilte Touristen veranstaltet. Egal was, nur um die nächsten 16 Jahre nicht nach Zentraleuropa zurückzukehren, was auch immer dort geschehen wird.
Aber ich habe nichts gesagt. Es ist so lange her, dass ich mir meiner wahren Gründe für mein Schweigen nicht mehr sicher bin, aber ich weiß noch, dass ich schlicht und einfach Angst hatte. Dass sie mich für ziemlich durchgeknallt halten würde. Vielleicht war ich das ja auch. Dieses Gerät hätte nicht mehr funktionieren dürfen, ohne Stromanschluß. Da waren auch keine Solarzellen. Dieser Film hätte nicht existieren dürfen. Und außerdem kann man einfach nicht in die Zukunft sehen.
In meinem Kopf liefen diese und ähnliche Gedanken in Endlosschleifen. Es ist ein Wunder, dass ich nicht wirklich verrückt wurde. Aber ich habe Miriam nichts davon erzählt. Irgendwann standen wir auf, zogen uns an und machten einen langen Spaziergang. Die Elbe runter bis nach Blankenese. Es war Mitte November und wie meistens in diesen Jahren ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Es regnete nicht, sah aber so aus, als ob es jeder Zeit losplattern könnte. Und ein heftiger Wind zog auf. Der erste richtige Herbststurm.
Miriam sah so traurig aus. Ich versuchte alles, um sie aufzuheitern, aber irgendwann fing sie an zu weinen. Jetzt war ich an der Reihe, sie zu fragen, was denn los sei? Sie würde es sich schon so lange fragen. Ja was denn? Ob das noch Sinn mache mit uns beiden? Warum denn das?
So ging das etwa eine halbe Stunde, in der ich ihr schwor, dass ich glücklich mit ihr sei und wir sobald das Scheißcorona endlich vorbei sei, nach Neuseeland fahren würden. Dass sie alles für mich sei. Ich machte ihr sogar einen Heiratsantrag. Da weinte sie wieder. Aber dieses Mal war sie wütend. Warum ich sie auch noch verarschen müsse? Mach ich doch nicht.
Sie blieb abrupt stehen. Eine Sturmbö fegte über uns hinweg und für ein paar Sekunden war ihr Gesicht unter den vom Wind umtosten Haaren verschwunden. Miriam hatte wunderschöne und sehr lange kastanienbraune Haare. Diese Haare rochen so unglaublich gut. Ich liebte diesen Geruch. 73 Jahre später werde ich vergnügt und traurig zu gleich, wenn ich an Miriams Haare denke.
Ich streckte den Arm nach ihr aus, aber sie wich meiner Hand aus, so dass ich nur ihre Haare zu fassen bekam.
„Lass mich los“, schrie sie mich an. Ich hatte sie niemals so laut erlebt.
Ich öffnete meine Hand und der Wind wehte ihre Haare fort.
„Was hast du nur?“, fragte ich.
„Wer ist Johanna?“
Natürlich beantwortete ich diese Frage nicht und dann schrie sie mich richtig zusammen. Sie hätte ja zuerst geglaubt, dass sie sich verhört hätte, aber dreimal in nicht einmal 12 Stunden würde sie sich ganz bestimmt nicht verhören. Johanna und Miriam könne man ja eigentlich nicht verwechseln. Da müsse man schon ein ganz gemeines Arschloch sein.
Dreimal hatte ich sie als Johanna angesprochen. Soviel zum Thema Verrückt sein.
Das erstemal als ich nach meinem Ausflug auf den Dachboden wieder zu ihr ins Bett gekrochen war. Sie hatte wohl doch noch nicht geschlafen. „Oh, Johanna“, hätte ich ihr praktisch ins Ohr geflüstert.
Das zweite Mal dann natürlich bei unserem verunglückten Morgensex. Da hatte ich es sogar gemerkt. Sie hatte meinen Namen gestöhnt und da hatte ich sehr leise „Oh, Johanna“ geantwortet, aber ich hatte gedacht, sie hätte es nicht gehört.
Ja und das dritte Mal war kurz vor meinem Heiratsantrag gewesen. Da muss ich den verfluchten Namen einfach so vor mich hingenuschelt haben. „Was sagst du da?“, hatte Miriam mich gefragt und da habe ich sie gefragt, ob ich sie heiraten will. Bekloppter geht es nicht.
Miriam hatte das alles rausgeschriehen. In den herbstlichen Sturm. Jetzt war sie still und ich sah sie. Sie war meine Freundin. In meinem 20 – jährigen Leben war sie das Wichtigste, das Aufregendste und das Schönste, was mir bis dahin passiert war. Ich wollte ihr die Wahrheit sagen.
Aber ich sagte, ich hätte Johanna in dem Schnupperwochenende an der Schauspielschule kennen gelernt und mich verliebt. Das war zwar nicht die Wahrheit, aber zumindest das mit dem Verlieben würde sowieso irgendwann in den nächsten 15 Jahren passieren. Da war ich mir sicher.
Kapitel 4
Wenn man es nicht mit einem übermäßigem Hang zum Melodrama betrachtet, war die Trennung von Miriam kurz und schmerzlos. Anstatt noch für Monate oder Jahre unseren Alltag in eine freudlose Version unseres Miteinanderseins zu verwandeln, gingen wir schon an diesem Nachmittag auseinander. Sie fuhr mit der S – Bahn zurück nach Ottensen. Ich ging langsam und wie betäubt zu Fuss zurück. Natürlich fing es irgendwann auch noch zu regnen an, aber das war mir sowas von egal.
Miriam habe ich nur noch dreimal in meinem Leben gesehen. Das erste Mal gleich am selben Tag. Sie holte ihre Sachen bei mir ab. Wir sprachen so gut wie nicht miteinander. Also ich habe es probiert, es täte mir leid und ob wir es nicht doch noch mal versuchen sollten. Ja, ich war 20, ich war verwirrt und melodramatisch und mit „Gefühle in schöne Worte fassen“ hatte ich es schon gar nicht. Miriam war tough. Ich hätte nie gedacht, dass sie so stark sein konnte. Sie schaute mich an und schwieg. Nur einmal lachte sie kurz auf. Ich fragte natürlich, was denn jetzt so komisch sei?
„Na du. Du bist ein Idiot. Ein total blöder und hässlicher Idiot. Und das wusste ich schon in diesem Moment.“
Mit diesem Satz gab sie mir ein Foto wieder, auf dem ich wirklich nicht besonders vorteilhaft aussah. Wir hatten es ganz am Anfang unserer Beziehung gemacht. Ein Selfie nach einer durchgemachten Nacht. Nachdem wir das erste Mal wirklich heftig geknutscht hatten. Es war „unser“ Foto. Ich hatte es ihr erst vor einem halben Jahr geschenkt. In einem für meine Verhältnisse ziemlich teuren Rahmen. Den gab sie mir nicht zurück.
Ein halbes Jahr später habe ich sie das zweite Mal gesehen. Beim Einkaufen in einem türkischen Gemüseladen. Dieses Mal haben wir vergleichsweise viel geredet. Vor allem sie. Ja, es geht ihr gut. Sehr gut, sogar. Sie würde jetzt nach Heidelberg gehen. Zum Studieren. Jura. Da hätte sie richtig Bock drauf, sagte sie gleich zweimal hintereinander. Richtig Bock. Dass das ewige Abhängen nach dem Abi endlich zu Ende wäre. Immer nur Party sei doch ziemlich öde.
Natürlich konnte ich mir nicht verkneifen, sie zu fragen, ob sie nicht mehr nach Neuseeland wolle, denn das war ursprünglich ihre Idee gewesen.
Vielleicht mal in den Semesterferien, sagte sie.
Und dann wollte sie wissen, ob ich denn fahren wollte? Neuseeland hätte doch jetzt die Grenzen wieder aufgemacht.
Ich sei mir im Moment nicht wirklich hundertprozentig klar, was ich machen wollte, sagte ich und tat so, als ob ich unbedingt die Qualität der Tomaten begutachten müsste.
„Hat Johanna keine Lust darauf?“
„Ich bin nicht mit ihr zusammen“, nuschelte ich, ohne den Blick von den Tomaten zu heben.
„Dann sollte es wohl einfach nicht sein“, sagte sie. Da sah ich sie endlich an und für einen langen Moment stand da eine tolle Frau mit jetzt kurzen Haaren vor mir, „es tut mir leid“, sagte ich.
„Schon gut“, antwortete sie und lächelte und dieses Lächeln gab mir einen Stich ins Herz, so stark und so wunderschön schmerzhaft, dass ich sie fast umarmt hätte.
„Es sollte einfach nicht sein“, sagte sie noch einmal „und auch wenn du und Johanna nicht zusammen gekommen seid, haben wir uns dadurch getrennt und gegenseitig viel Schmerz erspart. Alles gut so, wie es ist.“
Ein paar Sekunden standen wir halb weise, halb bekloppt lächelnd voreinander, dann sagte sie „Machs gut, Fritz“, umarmte mich kurz und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ihre Haare rochen auch kurz geschnitten wahnsinnig gut.
Das dritte Mal habe ich Miriam erst Mitte des Jahrhunderts wiedergesehen. Ich hätte sie niemals erkannt, aber sie sprach mich an. In der Metro in Rom. Sie hatte wieder lange Haare, aber sie waren weiß geworden. Wir hatten nur zwei Stationen Zeit, um die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens durchzugehen. Sie war verheiratet. Ja, einigermaßen glücklich. Sie hatten vor kurzem Silberhochzeit gefeiert. Drei Kinder, deshalb hätte sie auch nie richtig als Juristin gearbeitet, aber seit kurzem würde sie in der Kanzlei ihres Mannes mitarbeiten. Sie wären sehr oft geschäftlich in Rom, eine immer noch schöne Stadt, auch wenn die Italiener momentan gerade mal wieder kurz vorm Durchdrehen seien, aber ich wüsste ja wie das sei. Die Kanzlei hätte vor allem Klienten aus Zentraleuropa, die geschäftliche Beziehungen über Südeuropa in die Vereinigten Staaten von Afrika, haha lachte sie, das sei ja in Wirklichkeit eine chinesische Kolonie... na ja, das sei alles hochspannend und ziemlich komplex. Dass da überhaupt noch Handel möglich wäre, wundere sie manchmal. Die beiden Jungs würden studieren. Jura, der eine, Medizin der andere und ihre jüngste Tochter sei gerade für ein Jahr nach – da musste sie lachen – Neuseeland gegangen.
Kurz bevor sie aussteigen musste, sagte sie, sie hätte natürlich von meiner Tat gehört und sie hätte es zuerst einfach nicht verstanden, warum ich so etwas tun konnte, aber als sie mich im Fernsehen gesehen hätte und dann später vor Gericht, hätte sie immer gedacht, dass ich wie ein Mann gewirkt hätte, der genau das getan hatte, was er tun musste und das hätte ihr auf eine komische Art sehr imponiert.
Ja, sagte ich, das sei in etwa auch mein Gefühl gewesen.
Dann lachte sie und sagte „und mit einer Johanna bist du ja doch noch zusammen gekommen.“
Ich lächelte etwas gequält.
„Tut mir leid“, sagte sie und sah auch so aus, als ob sie es meinte. Die S – Bahn bremste ab. „Wir müssten uns unbedingt mal treffen“, sagte sie und wollte meine Handynummer wissen, aber ich hatte aus bestimmten Gründen zu diesem Zeitpunkt kein Handy und außerdem würde ich am nächsten Tag Rom Richtung Süden verlassen, also sagte ich nur „bin nur auf der Durchreise, vielleicht sehen wir uns ein ander Mal, würde mich freuen.“
„Wenn das Schicksal es will“, sagte sie und bei dem Wort musste ich wie seit Jahren immer an Brandon Ford denken. Aber weder er noch das Schicksal hatten für mich und Miriam ein weiteres Wiedersehen vorgesehen.
Kapitel 5
Als ich Miriam bei unserem zweiten Wiedersehen in dem türkischen Gemüseladen erzählt hatte, dass ich momentan nicht so hundertprozentig genau wisse, was ich wolle, war das haltlos übertrieben. Null Prozent wäre ehrlicher gewesen. Mein Abi lag ein ganzes Coronajahr hinter mir und ich hatte seitdem absolut nichts gemacht. Ich habe es natürlich auf Corona geschoben, aber mal ehrlich: Ohne die Pandemie hätte ich auch nichts gemacht. Vielleicht wären Miriam und ich nach Neuseeland gefahren. Aber da hätte ich auch nichts getan. Außer dem Zauberwort, was dem Nichtstun so einen lockeren, irgendwie doch noch aktiven Touch geben sollte: Abhängen. Und Kiffen. Mit beidem hatte ich das letzte Jahr einigermaßen rumbekommen. Das Schauspielschulschnupperwochenende hatte ich nur meiner Mutter zuliebe gemacht. Ich hatte es gehasst. All diese zwangskreativen Seelenstripteasetänzer*innen. Am schlimmsten waren die Lehrer*innen. Verklemmte Versager, die andauernd davon quatschten, dass man beim Spielen aus sich rauskommen sollte. Ich wollte nicht aus mir rauskommen. Ich wollte irgendwie mit mir klarkommen. Das war schon schwierig genug. Nach dem Wochenende habe ich meiner Mutter erklärt, dass die Schauspielerei nichts für mich wäre. Sie hat es zähneknirschend akzeptiert. Keine Ahnung warum sie unbedingt wollte, dass ich in ihre Fussstapfen treten sollte. Sie hatte doch die Zwillinge. Die hatten schon ab ihrem sechsten Lebensjahr gedreht. Zuerst hauptsächlich Werbung, aber später auch Rollen in Vorabendserien und anderen Schwachsinn. Überall wo zwei niedliche Zwillingsmädchen gebraucht wurden, waren sie zur Stelle. Aber ich tue ihnen unrecht. Jenny hat immerhin später in Hollywoodfilmen mitgespielt, bevor es mit Amerika endgültig den Bach runter ging.
Jennifer allerdings hat, nach ihrem achtzehnten Geburtstag nie wieder eine Rolle angenommen. Von einem Tag auf den anderen hat sie verkündet, sie hätte keine Lust mehr auf den substanzlosen Lügenkram. Wir waren einige Zeit zusammen auf Demonstrationen gegangen. Gegen Robert von Barkhausen und seine Partei der Mitte. Sie hat sich sehr viel schneller als ich radikalisiert und als es ab den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts los ging mit dem schleichenden Ende der Demokratie, war sie eine Zeit lang total im Widerstand gegen Von Barkhausens Partei der Mitte aufgegangen. Knapp drei Jahre vor meiner „Tat“ ist sie spurlos verschwunden. Ich glaubte damals, sie sei von Barkhausens Milizen ermordet worden, der Rest der Familie wähnte sie quicklebendig im Untergrund. Bis heute, also das 93 – jährige heute - hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört.
Aber zurück ins Jahr 2021. Zu dem Tag, an dem ich zum ersten Mal Robert von Barkhausen sah. Also außer in dem kurzen Video, auf dem ich ihn mit einer Pistole bedrohte.
Die Zwillinge hatten in einem Tatort mitgespielt. Ernste Rollen! Meine Mutter war völlig aus dem Häuschen. Wir mussten uns den Film unbedingt zusammen anschauen. Die ganze Familie. Mein Vater mit seiner derzeitigen Freundin samt pubertierenden Sohn, Jenny und Jennifer, meine Mutter und ich – du kannst gerne jemand mitbringen – das war eigentlich als Frage gedacht, ob ich nicht vielleicht doch wieder eine Freundin hatte, aber direkt zu fragen, war nicht gerade die Stärke meiner Mutter. Wir waren die beste Patchworkfamilie aller Zeiten, aber das waren damals eigentlich alle in Hamburg Ottensen.
Meine Mutter hatte Käsespießchen gemacht. Damit hatte sie mal als eine Art nostalgischem Gag angefangen. Bei einem 50er Jahre Buffett. Zu einer Mottoparty als wir noch eine normale Familie waren. Kleine Plastikspieße mit Goudastückchen, Weintrauben und schwarzen Oliven. Seitdem ist das ihr Standard bei allen Familienfesten. Nur die Plastikspieße waren inzwischen durch hölzerne Zahnstocher ersetzt worden.
Meine Mutter war so aufgeregt, dass sie den Fernseher schon um ein paar Minuten vor acht anschaltete.
Und da sah ich ihn das erste Mal. Kurz bevor die Nachrichten anfingen. Eine Werbung für die Talkshow, die nach dem Krimi gesendet wurde. Der Tatort handelte von einem siebzehnjährigen Jungen aus wohlhabender hanseatischer Familie, der aus unerfindlichen Gründen unbedingt Mitglied eines kriminellen Clans werden wollte. Albaner oder Ägypter, auf jeden Fall Muslime. Meine Schwestern spielten die Schwestern des Jungen, die irgendwann von einem der Clanjungs entführt wurden. Ich kann mich nicht an Details erinnern, es war wie fast immer ziemlicher Schwachsinn, aber die Macher glaubten wohl ein brisantes Thema am Wickel zu haben, denn es gab hinterher eine Talkrunde zu Clankriminalität und Parallelgesellschaften. Vor der Tagesschau wurden die üblichen Verdächtigen als Talkgäste vorgestellt: Die Justizministerin, zwei Politiker*innen von FDP und Grünen und die unsägliche Alice Weidel von der AFD. Und dann er: Robert von Barkhausen. Sozialwissenschaftler und Bestsellerautor. Mehr stand da nicht. Er sah unverschämt gut aus. Und unverschämt jung. Wie ich wenig später herausfand war er zu diesem Zeitpunkt 32. In dem Moment, als ich die Einblendung mit seinem Bild sah, hatte ich mir gerade ein Käsespießchen genommen. Ich erschrak dermaßen, dass ich mir den Zahnstocher in die Unterlippe rammte. Ich schrie kurz auf und alle starrten mich an.
„Alles gut“, sagte ich schnell und wischte mir die Lippe ab. Ein paar Tropfen Blut, weiter nichts. Ich stand auf und ging zur Toilette. Dort googelte ich ihn. Da waren jetzt haufenweise Einträge. Ich hatte sicher mehrere Jahre nicht mehr nach ihm geschaut. In dieser Zeit hatte er wohl ziemlich Karriere gemacht. Er hatte in der Tat Sozialwissenschaften studiert. Mit summa cum laude abgeschlossen. Und er hatte ein Buch veröffentlicht, dass sich wohl ganz ordentlich verkauft hatte. „Mitte sucht Heimat.“ Das war der Titel. Es wurde in einer Kritik als das langerwartete wertkonservative Manifest bezeichnet, von einem anderen Kritiker wurde er „ein unglaublich smarter rechtspopulistischer Demagoge“ genannt. Er schien keiner Partei oder irgendeiner rechten Verbindung anzugehören und vor allem auf Kongressen und Tagungen der bürgerlichen Gesellschaft aufzutreten. Seit ein paar Monaten hatte er eine Kolumne in einer großen, früher eigentlich eher dem linken Spektrum zuzuordnenden Wochenzeitung. Es gab viele Fotos. Auf nahezu allen lächelte er. Und er sah wirklich symphatisch aus. Auf einigen Fotos hatte er eine schöne Frau im Arm. Seine Frau. Sie hatten wohl zwei Kinder, aber von denen gab es keine Fotos. Er hatte keine Website, war aber auf Twitter und den anderen Socialmediakanälen sehr aktiv.
Irgendwann klopfte es an der Toilettentür.
Es war Jennifer. Sie wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung sei.
„Aber klar“, rief ich ihr zu.
„Der Film fängt gleich an“, sagte sie. Ich machte das Handy aus und ging nach draußen.
Jennifer hatte im Flur auf mich gewartet. „Ich bin ganz gespannt“, sagte ich und versuchte zu lächeln, „Mama meint ja, ihr müsstet den Oscar kriegen.“
„Wir hatten eine gute Szene, wo wir mit den Entführern über Fussball gequatscht haben, aber die haben sie aus dem Film rausgeschnitten. Jetzt sind wir nur kurz zu sehen. Die meiste Zeit heulen wir.“
„Das ist doch toll“, sagte ich, ohne eine Ahnung zu haben, warum ich das sagte.
„Heulen ist einfach“, sagte sie, „lachen ist schwierig.“
„Aber wirst du nicht auch erschossen?“
„Erschossen werden ist das Allereinfachste“, sagte Jennifer.
Dann gingen wir ins Wohnzimmer, wo schon die Tatortmelodie erklang. Meine Mutter sah mich vorwurfsvoll an und mein Vater sagte, „Hinsetzen und Klappe halten.“
An den Film erinnere ich mich wie gesagt so gut wie gar nicht. Nur dass meine Mutter weinen musste, als die beiden Mädchen erschossen wurden.
„Ist doch nur ein Film“, sagte mein Vater.
Nach dem Tatort wurden die Mädchen überschwänglich von allen gelobt und meine Mutter machte noch eine Flasche Wein auf. Das war schon die dritte. Ohne Alkohol funktionierte die Patchworkfamilie nicht so gut.
Ich sass sehr nah am Fernseher und wartete auf die Talkshow. Mir war schlecht. Zuviele Käsespießchen. Zuviel Wein und zuviel Angst vor der Zukunft.
Die Talkshow begann und als Alice Weidel von der AFD vorgestellt wurde, stellte mein Vater den Fernseher aus. Ich protestierte, aber er sagte nur seinen Standardsatz: „Diesen Leuten darf man nichts schenken. Am allerwenigsten seine Aufmerksamkeit.“ Er war ganz gut in solchen kurzen Pointen und hatte in den letzten Jahren ein Schweinegeld mit AntiTrump - und Anti AFD – Witzen verdient.
Ich sagte, „aber da ist auch so ein junger Bestsellerautor, von Barkhausen...“
„Robby!“, schrie die Freundin meines Vaters wie ein Fan irgendeiner Boygroup.
„Noch ein Grund auszuschalten“, sagte mein Vater in ihre Richtung.
„Wieso, ist der denn auch so schlimm wie die Weidel?“, wollte ich wissen.
„Nee, der ist nur extrem gutaussehend“, sagte die Freundin.
Dann mischte sich meine Mutter ein. Sie wollte jetzt erstmal auf Jenny und Jennifer anstoßen und das Polikergequatsche würde sie sich schon ganz lang nicht mehr antun.
Ich beschloß mir die Talkshow später in aller Ruhe in der Mediathek anzuschauen und ließ mir von meiner Mutter noch ein Glas Wein einschenken. Wir stießen auf die „unglaublich begabten Charakterdarstellerinnen“ - Originalzitat meine Mutter – an und mir fiel zum ersten Mal ein wirklicher Unterschied zwischen meinen beiden kleinen Schwestern auf. Jenny genoß das Lob, aber Jennifer wirkte so, als ob es ihr peinlich sei. Wieder sagte sie, „das war doch nur ein bisschen Geheule und Heulen ist total einfach.“
„Oooh nein“, widersprach meine Mutter vehement und dann fing sie an, Anekdoten von ihren Dreharbeiten zu erzählen und es war klar, wenn sie niemand stoppte, würde es die ganze Weinflasche so weiter gehen. Mein Vater hatte wohl Lust, sich mit ihr zu streiten und schlug sich auf Jennifers Seite. Ich setzte mich neben die Freundin meines Vaters und fragte sie, ob sie das Buch von „Robby“ gelesen habe. Ich habe keine Ahnung mehr, wie sie hiess, ich glaube, mein Vater und sie waren auch nur kurz zusammen, aber sie war deutlich jünger als er.
Sie hätte es zu Weihnachten von ihren Eltern bekommen, aber erst vor kurzem gelesen. Es sei irgendwie bewegend. Ein junger Mann, der sich so viele Fragen stellt. „Ist das nicht eher ein Rechter?“, fragte ich so unbedarft wie möglich. „Nee, Robby doch nicht“, sagte sie, „also konservativ sicher, nicht wie wir alle in der irgendwie linken Ökoblase zuhause. Nee auf mich wirkt der wie ein ehrlich auf der Suche befindlicher Optimist“.
„Und wonach sucht der?“
„Na nach seiner Heimat. So heisst das Buch ja auch.“
„Mitte sucht Heimat“, korrigierte ich sie.
„Du kommst wohl nach deinem Vater“, sagte sie und lächelte mich komisch an, „der ist auch so'n Korinthenkacker.“
Dann meinte sie, dass sie es mir gerne leihen würde, aber ich sagte nur, ich würde nicht so viel lesen. Danach schwiegen wir ein paar Minuten und hörten den Anekdoten meiner Mutter und den dazwischengestreuten Sticheleien und Bonmots meines Vaters zu. Der pubertierende Sohn spielte irgendein Ballerspiel auf dem Handy, das hatte er schon während des Tatorts mehr oder weniger heimlich getan.
Das war meine Familie. Eine andere hatte ich nicht. Ich trank meinen Wein aus. Dann stand ich auf und sagte die Kabbelei meiner Eltern einfach unterbrechend. „Ich muss jetzt los“.
Mein Vater bot an, mich nach Hause zu fahren, aber davon wollte ich nichts wissen. Ich wollte so schnell wie möglich von allen weg. Ich war schon in der Tür, als Jennifer mir plötzlich nachlief und mich umarmte. „Was ist denn?“, fragte ich sie.
„Ich zeig dir gerne, wie man weint.“
„Warum denn das?“
„Du siehst so traurig aus.“
Dabei sah sie mich ganz ernst an. Meine Güte, sie war gerade elf Jahre alt geworden. Ich musste schlucken, sonst hätte ich wirklich losgeheult.
„Das sind die Nachwirkungen von dem Tatort“, sagte ich und küsste sie auf die Stirn. Dann verschwand ich und ging so schnell wie möglich nach Hause. Es war an der Zeit, mich der Zukunft zuzuwenden. Es war an der Zeit, meinen Gegner kennen zu lernen.
Kapitel 6
Ich war ein paar Wochen vorher zuhause ausgezogen und wohnte jetzt in einer WG in St. Pauli. Als ich um kurz nach Mitternacht dort ankam, waren meine beiden Mitbewohner noch auf. Sie saßen in der Küche und tranken Bier. Ich setzte mich dazu und als ich endlich in meinem Zimmer war und meinen Laptop aufklappte, um mir die Talkshow anzuschauen, wurde es draußen schon wieder hell und ich war sturzbetrunken.
Ganz sicher lag es daran, dass ich den seltsamen Eindruck hatte, dass Robert von Barkhausen nur zu mir sprach. Erst viel später merkte ich, dass er das einfach konnte. Wenn er im Fernsehen oder auf einer Versammlung redete – und ich habe ihn wirklich oft reden hören – dann sprach er immer so, dass man das Gefühl bekam, er meine mit dem, was er sagte, immer jede einzelne Zuhörer*in.
Was er in der Talkshow sagte, war im Vergleich zu seinen späteren Auftritten eher harmlos. Er frage sich schon seit vielen Jahren, was eigentlich eine Gesellschaft ausmache? Wohlstand? Sprache? Werte? Vielleicht die Dinge, die selbstverständlich sind. Wo man sich zuhause fühlt. So was wie: welche Dinge auf einen schön gedeckten Frühstückstisch gehörten? Damit man sich zuhause fühlt. „Das sei ja wohl überall unterschiedlich“, sagte die Grüne und er stimmte ihr zu - er stimmte überhaupt allen immer zu, selbst wenn er gleich danach das Gegenteil sagte. Und er frage sich, ob diese Vielfalt auf dem Frühstückstisch, um mal bei dem einfachen Beispiel zu bleiben, ob diese Vielfalt nicht auf Dauer die Welt klein mache, in der man sich zuhause fühlen kann. Also die Heimatmöglichkeiten einer Gesellschaft nicht minimiere. Daraufhin lud Alice Weidel ihn ein, bei der AFD mitzumachen. Aber da hörte er für einen Moment auf zu lächeln. „Sie von der AFD benutzen den Heimatbegriff als etwas Rückwärtsgewandtes. Ich suche die Heimat für die Zukunft. Denn wir werden sie brauchen. Aber Sie sind nicht zukunftsorientiert, deshalb danke für das freundliche Angebot.“ Jetzt lächelte er Alice Weidel wieder an und zwar auf eine Weise, dass selbst sie für einen Moment verstummte.
Irgendwann um diese Zeit bin ich eingeschlafen. Aber natürlich habe ich mir seinen Auftritt am nächsten Tag gleich nach dem Aufwachen noch einmal angesehen. Er war ein guter Redner und er gab sich wirklich ungeheuer fortschrittlich. Und antikapitalistisch. „Wenn unser Wohlstand identisch mit unserer Heimat ist, werden wir keine Zukunft haben“, das sagte er ein klein wenig abgewandelt mindestens drei mal und die Moderatorin nickte sehr von ihm und seiner Äußerung angetan. Alle, außer Frau Weidel, die wie immer beleidigt war, schienen ihn zu mögen. Er hatte einen leisen Humor und wie gesagt, er sah gut aus. Natürlich mochte er keine kriminellen Muslime, keine Zwangsheiraten und terroristische Gefährder müssten unbedingt abgeschoben werden, egal wie es in deren Heimatländern gerade aussehen würde, aber darin waren sich ja alle einig und er brachte es zudem in einem fragendlächelnden Tonfall vor, dass man es ihm total abnahm, dass er nur auf der Suche war, eben „Mitte sucht Heimat“, wie ja auch sein Buch hiess. Ich wollte etwas an ihm und seinem Gerede entdecken, was mich dazu bringen konnte, ihn in 15 Jahren mit der Pistole zu bedrohen, aber als die Sendung vorbei war, sagte ich nur leise „Scheisse“ und schaltete noch einmal das „Ding“ an. Ohne Frage, derselbe Mann, dieselbe eindringliche Stimme, dasselbe Lächeln.
„Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das.“
Es klang so, als würde er diesen Satz schon jetzt zu mir sagen.
„Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Ihr Freund?! Wann würde ich sie kennen lernen? Für einen Moment verlor ich mich in einen kitschigen und ein klein wenig sexuell aufgeladenen Tagtraum von mir und Johanna, aber dann schlief ich noch einmal für ein paar Minuten ein.
Ich wachte auf und dachte wieder an von Barkhausen. Wie konnte dieser Mann schon in wenigen Jahren die Wahlen gewinnen und in ein paar weiteren Jahren die Demokratie in Deutschland – oder Zentraleuropa, wie es dann hiess – abschaffen und zwar auf eine Art und Weise, dass die Mehrheit der Menschen glaubte, das sei überhaupt nicht geschehen?
Aus meiner heutigen Sicht ist diese Frage natürlich Quatsch. Nicht er hat das geschafft. Keine Diktatur kommt an die Macht, weil der Diktator das will. Es ist immer die Mehrheit der Bevölkerung, die es ermöglicht. Meistens aus Begeisterung über den immer gleich gedeckten Frühstückstisch. Und aus Angst, dass er irgendwann nicht mehr so reich gedeckt sein wird. Und natürlich aus Feigheit. Weil man das ganze liebgewonnene Frühstück samt Tisch und Haus drumherum verlieren könnte.
Bei unserem ersten Treffen in dem Teehaus in Sri Lanka habe ich Brandon Ford die Frage gestellt, wie von Barkhausen so schnell an die Macht kommen konnte, obwohl doch zu dieser Zeit die meisten Menschen in Deutschland für die Demokratie waren? „Selbst wenn ihr Menschen doch so etwas wie eine Entscheidungsmöglichkeit hättet“, sagte er, „und du weisst, das habt ihr nicht: Ihr würdet immer das wählen, was bequemer für euch ist, das Vertraute dem Fremden vorziehen, euer Brötchen mit Marmelade dem undefinierbaren und ein klein wenig für eure Nasen streng riechenden Brei, und euer prall gefülltes Bankkonto würdet ihr für euer selbstverständliches Recht auf ein klein bisschen Sicherheit halten. Und so scheint es euch immer folgerichtig, die zu ermächtigen, die euch versprechen, dass das so bleibt. Aber nur damit du mich nicht falsch verstehst: das war und ist auf der ganzen Welt so, nicht nur in deinem piefigen Zentraleuropa.“
Ich gebe Brandon Ford aus verschiedenen Gründen nicht gerne Recht, aber in diesem Falle blieb mir nichts anderes übrig. Selbst 2021 gab es genug Beispiele für diesen Mechanismus. Genug Mächtige in der ganzen Welt, die von einer großen Mehrheit gestützt wurden, die genau diese Art von Herrschaft haben wollte. Oder die einfach nur zu bequem waren. Und zu ängstlich. Und zu feige.
Nachdem ich die Talkshow zu Ende gesehen hatte, stand ich auf und schlurfte in die Küche. Meine beiden Kumpels sassen da schon bei Kaffee und frischen Brötchen. Ich setzte mich dazu. Die beiden wollten wissen, warum ich mir denn so früh morgens schon so eine langweilige Talkshowscheiße antun würde? Ich erzählte da sei so ein rechter Intellektueller aufgetreten, der sei echt gefährlich.
Sie hatten noch nie von ihm gehört. Und sie fragten auch nicht wirklich nach. Also redeten wir bald über Fußball und als der Kaffee leer getrunken war, holte ich drei Bier aus dem Kühlschrank und sagte, „man soll ja da weiter machen, wo man aufgehört hat.“
Am nächsten Tag wachte ich früh auf und fühlte mich beschissen. Schwerste Kopfschmerzen, ein Magen wie mit porösen Kieselsteinen gefüllt. So durfte das nicht weitergehen. Ich blieb im Bett liegen und nahm mir mein Handy. Von Barkhausens Auftritt war ne große Nummer auf allen Kanälen. Er hatte von allen Parteien Zustimmung bekommen, auch wenn niemand außer der AFD ihm direkte Mitarbeit angeboten hatte. Ich klickte mich durch eine Menge Kommentare und die waren viel radikaler als seine fragende Suche nach Heimat. Wie immer tobten sich die Idioten aus. Und von Barkhausen schien durch seinen Auftritt zum neuen Idol aller Idioten geworden zu sein. Was hatte ich da nur nicht mitbekommen?
Die Kieselsteine in meinem Magen schwammen jetzt in einer ätzenden Flüssigkeit. Ich stand gerade noch rechtzeitig auf, um es bis zum Klo zu schaffen.
Nachdem ich sauber gemacht hatte, duschte ich kalt, zog mich an, nahm eine Aspirin und setzte mich an den Küchentisch. Meine Kumpels waren beide zur Arbeit. Anscheinend vertrugen sie deutlich mehr als ich. Mir war nicht mehr schlecht, aber seltsam dumpf. Minutenlang starrte ich auf eine Ecke in der Küche. Altpapierstapel und unser Mülleimer mit dem FUCKNAZI Aufkleber. Da gab es nichts Besonderes zu entdecken. Ich hatte einen Kloß im Hals. Atmete schwer, obwohl ich mich in den letzten Minuten keinen Zentimeter bewegt hatte.
Ich dachte an die weinende Johanna in der Garderobe, ich dachte an die weinende Miriam an der Elbe und ich dachte an meine kleine Schwester Jennifer, wie sie mich gestern abend plötzlich umarmt hatte. Ich nahm mein Handy und schrieb ihr eine Nachricht: „Kannst du mir das Heulen beibringen?“
Zwei Minuten später hatte ich die Antwort: „Atme tief ein. Zieh den Rotz hoch, reib dir die Augen und halt die Luft so lange an, bis du nicht mehr kannst, dann atme alles auf einmal aus.“
„Danke“, schrieb ich zurück.
„Hast du was?“
„Nein, alles gut.“
„Warum willst du dann heulen?“
„Ich hab mit jemand gewettet, dass ich in 10 Sekunden aus dem Stand heulen kann.“
„Na dann viel Glück.“
Ich trank noch einen Schluck Kaffee. Dann atmete ich tief ein. Zog den Rotz hoch und rieb mir die Augen.
Mir wurde wieder schlecht. Noch einen Schluck Kaffee, dann wiederholte ich die Prozedur. Dieses Mal schaffte ich es. Ich hielt die Luft an, bis mir fast schwarz vor Augen wurde, dann atmete ich aus.
Ein halbgarer Seufzer war alles, was ich produzierte. Es half nichts. So ging es nicht weiter. Wenn ich nicht wollte, dass von Barkhausen und seine versammelten Idioten die Macht übernehmen würden und vor allem, wenn ich nicht in 15 Jahren mit einer Knarre vor ihm stehen wollte, dann müsste ich wohl oder übel versuchen, mit der Bequemlichkeit aufzuhören, mit der Ängstlichkeit und mit der Feigheit.
Kapitel 7
Die nächsten 8 Jahre verbrachte ich mit genau diesem Versuch und um es gleich vorwegzunehmen: Ich war nicht sonderlich erfolgreich. Ich habe Politikwissenschaft studiert. Ich dachte, dass würde mir helfen, die Mechanismen zu verstehen, wie von Barkhausen an die Macht kommen könnte, aber während ich mehr oder weniger intensiv studierte, gründete er seine Partei der Mitte und erreichte gleich bei den ersten Wahlen ein Ergebnis von mehr als 20 %. Aber das hatte die AFD ja vorher auch schon in einigen Bundesländern locker geschafft. Nicht dass ich mich gar nicht engagiert hätte. Einige Zeit arbeitete ich bei Humans Right Watch mit, natürlich bei Fridays for Future, obwohl ich mir da schon zu alt vorkam, mit ein paar Kommiliton*innen wollte ich später eine eigene Organisation gründen, die sich gegen die Partei der Mitte direkt engagierte, aber über ein paar Sitzungen in einer Kneipe kamen wir nicht hinaus. Und so ging es mir mit meinem Engagement fast überall. Ein paar Mal ging ich zu irgendwelchen Treffen, auf Demos, Lichterketten und Trauermärschen, wenn zum Beispiel wieder irgendwo ein Flüchtlingslager in Flammen aufgegangen war. Natürlich suchte ich bei diesen Gelegenheiten immer nach Johanna und ich traf auch immer wieder Frauen dieses Namens, aber es war nie die aus dem Video. Ich hätte mir das damals nicht eingestanden, aber meine eigentliche Motivitation, mich auf die eine oder andere Weise politisch zu engagieren, war die Suche nach Johanna. Betrat ich zum ersten Mal einen Raum, in dem sich eine Initiative gegen Rechts oder eine Organisation zur Unterstützung der Pressefreiheit traf, war ich immer seltsam aufgeregt. Als ob ich zu einem Date gehen würde. Ich scannte die Frauen auf eine Ähnlichkeit mit dem weinenden Gesicht ab und wenn auch nur die kleinste Chance auf einen Treffer bestand, bekam ich innerhalb von Minuten ihren Namen raus und wenn sie wieder Lara, Maria oder Julia hiess, erlosch mein Interesse an ihr sofort. Da konnte sie noch so klug, engagiert, nett oder hübsch oder alles auf einmal sein. Hin und wieder kam es trotzdem zu kleinen Flirts, aber außer ein paar Onenightstands hat sich nichts daraus ergeben. Oder um es ehrlicher zu formulieren: Habe ich nichts zugelassen. Johanna würde ja irgendwann kommen. Und warum sollte ich dann einer Lara, Maria oder Julia Aufmerksamkeit schenken, oder Zuneigung, von Liebe ganz zu schweigen?
Und so war es auch mit meinem politischen Engagement. Ich wollte einerseits die Machtübernahme von Robert von Barkhausens Partei der Mitte verhindern, aber ich wusste andererseits, dass es mir nicht gelingen würde. Ich hatte keine Chance. Die Zukunft stand fest. Ich hatte nichts zu entscheiden. Dafür brauchte ich keinen Brandon Ford.
Ich unternahm zwei mehr oder weniger halbherzige Versuche, meinem Schicksal zu entrinnen. Das erste war an Silvester 2022. Ich hatte mir vorgenommen, ab jetzt nicht mehr an die Vorbestimmtheit meiner und unserer aller Zukunft zu glauben und hatte deshalb um halb drei Uhr nachts angefangen, allen auf der Party befindlichen Menschen den Maskensmileypulli aufzudrängen, aber natürlich wollte niemand das Monstrum haben. Um 10 nach drei ging ich mit dem festen Vorsatz, ihn und damit die Zukunft samt Robert von Barkhausen und der Republik von Zentraleuropa und der in Endlosschleife weinenden Johanna zu vernichten auf den Balkon, aber da stand dann eine Lara, Maria oder Julia, ich weiß es wirklich nicht mehr und sie war furchtbar nett und sie mochte den Pulli und laberte mich voll, den dürfte ich keinesfalls verbrennen, vor allem nachdem ich ihr erzählt hatte, dass es ein Geschenk meiner Mutter war. Ja und dann habe ich ihr erzählt, dass das Ding mir einfach kein Glück brachte, dass meine Freundin sich am nächsten Tag, nach dem ich den Pulli bekommen hatte, von mir getrennt hätte und dass ich mich seitdem nicht mehr verliebt hätte.
Dabei muss ich sie wohl komisch angeschaut haben, jedenfalls knutschten wir eine halbe Stunde später heftig miteinander und der Pulli lag ein paar Tage vergessen auf dem Balkon herum. Ende Januar war es mit Laramariajulia schon wieder vorbei und ich versteckte den Pulli ganz tief in meinen Kleiderschrank.
Der zweite Versuch war der Plan einer Reise nach Sri Lanka. Den Luna Tower finden. Brandon Ford aufsuchen und ihn fragen, woher er sich das Recht anmaßt, meine Zukunft zu kennen?
Aber wie das Wort Plan schon mehr als andeutet: Ich fuhr nicht nach Sri Lanka. Ich kannte niemand, der mit mir gefahren wäre und alleine wollte ich nicht: Zu bequem. Zu ängstlich. Zu feige.
Ganz klar: Ich war einsam. Ich war unzufrieden. Ich war ängstlich. Ich war feige. Aber hätte mich jemand damals angesprochen und direkt gefragt, wie es mir ginge: Alles gut. Alles easy. Warum fragst du? Ganz o.k. Und dir?
Und so war es in diesen Jahren ja auch politisch: Ganz o.k. Nicht wirklich alles gut und schon gar nicht easy. Aber ganz sicher ganz o.k., also für uns, für mich und meine Kumpels und Kommiliton*innen, allen Laras, Marias und Julias, meinen Eltern und ihren Freund*innen aus der Kultur – und Medienbranche. Corona war vorbei und wir hatten alle immer noch unsere priviligierte Nische in der Welt, die sich ziemlich rasant, aber für uns immer noch auf eine irgendwie unmerkliche Art, veränderte. Die Gewalt gegen demokratische Einrichtungen wurde häufiger und heftiger, in immer mehr demokratischen Ländern gab es Verfassungsänderungen, die die Pressefreiheit einschränkten. Die Justizorgane verloren stückchenweise ihre Unabhängigkeit und in einem Land nach dem anderen wurden Änderungen an den Wahlgesetzen vorgenommen, die immer nur das eine Ziel hatten: Die Macht derer zu sichern, die gerade an der Macht waren. Die Europäische Union hatte, um sich selbst zu erhalten, die ursprünglich noch als undemokratisch geltenden Veränderungen vieler Länder in immer abstruseren Konstruktionen akzeptiert und sich damit jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt. Und trotzdem drohte ein Staat nach dem anderen, aus der Gemeinschaft zu verschwinden.
Den großen weltweiten Technologiekonzernen ging es nach wie vor blendend. Die Menschen liebten ihre Handys. Sie waren ihr Zugang zur Welt. Ihre Sicht auf die Welt. Sie ersetzten längst die reale Welt. Bilder. Worte. Meinungen. Haltungen. Werte. Die Welt war gleichzeitig unendlich groß und sehr sehr klein geworden. Und so sah es am 12. Februar 2028, dem achtzehnten Geburtstag der Zwillinge in meiner kleinen Welt aus: Alles gut. Alles easy. Warum fragst du? Ganz o.k. Und dir?
Kapitel 8
Meine Mutter hatte zusammen mit den beiden eine Riesenparty geplant. Über 100 Gäste. Da platzte selbst unsere fette Ottenser Altbauwohnung aus allen Nähten. Mein Vater war natürlich da, samt derzeitiger Freundin. Er wechselte sie alle paar Jahre, so dass er zwar älter, aber die Freundinnen immer ungefähr Anfang 30 blieben. Die derzeitige hatte einen 5 jährigen Sohn, den sie ebenfalls mitgebracht hatte, samt dem dazugehörigen Erzeuger. Patchwork at its best. Ebenfalls eingeladen waren natürlich Jennys und Jennifers Schulfreund*innen und vor allem jede Menge Medienleute. Schauspieler*innen, Castingagent*innen, Drehbuchautor*innen und auch ein oder zwei allerdings nicht mehr wahnsinnig angesagte Regisseur*innen. Meine Mutter war selbst nicht mehr sonderlich gut im Geschäft, wie die meisten Schauspieler*innen über 50. Die Heideklinik war vorletztes Jahr endgültig eingestellt worden, aber Frau Dr. Kessler musste schon drei Jahre vorher einen tränenreichen Serientod sterben. Meine Mutter behauptete standhaft, dass sie sowieso nicht mehr gewollt hätte, aber das glaubte ich ihr nicht. Die Angebote wurden immer weniger, inzwischen drehten die Zwillinge mehr als sie. Aber meine Mutter war eine Kämpferin. Deshalb hatte sie nahezu alle für sie wichtigen Leute eingeladen. Offiziell natürlich für die Karriere ihrer Töchter – ich muss doch niemand und nichts mehr beweisen -, sagte sie im Vorfeld mehr als einmal und dass sie viel lieber endlich wieder Theater spielen wollte, was ich ihr ebenfalls nicht glaubte, aber auch von dieser Seite kamen keine Angebote.
Ich hatte kurz zuvor mein Studium endgültig abgebrochen und jobbte wie schon die Jahre zuvor in einem angesagten Bioladen, der vor kurzem bereits die 4.te Filiale aufgemacht hatte. Ich hatte da als Aushilfsverkäufer und Regaleinräumer in den Semesterferien angefangen und war jetzt beinahe für den gesamten Einkauf zuständig. Von welchem Müsli wieviel Portionen zu welchem Zeitpunkt und solche Sachen. Das machte mir Spaß und irgendwie hatte ich ein Händchen dafür. Die meiste Zeit saß ich am Computer, schrieb Mails oder telefonierte mit den Lieferanten. Es war eine gute Arbeit, die mich weder über – noch unterforderte und die Frau, der die Läden gehörten, war sehr zufrieden mit mir. Geld verdiente ich nicht übermäßig, aber ich brauchte auch nicht viel. Trotzdem war ich der Meinung und kommunizierte das auch so, dass ich das nur so für den Übergang machen würde. Ich wäre mir noch nicht richtig klar, aber ich würde mich bald eher im politischen Bereich sehen. Soziale Kampagnen machen oder doch bei einer NGO anfangen. Sowas eben. Ich glaubte mir selbst. Alles gut, alles easy, genau.
Kurz vor der Party saß ich noch in meinem kleinen Büro über dem größten der 4 Biomärkte. Es hatte ein ziemliches Problem mit einem der vielen Fairtradelabels gegeben. Anscheinend hatten sie ihre eigenen Standards nicht wirklich ernst genommen und waren jetzt in mehreren afrikanischen Ländern rausgeschmissen worden. Das war die Zeit kurz bevor sich diese Länder zu den Vereinigten Staaten von Afrika zusammentaten.
Wir mussten entscheiden, ob wir den Kaffee und die Schokoladen aus dem doch nicht so Fairtradelabel im Sortiment behalten wollten oder nicht. Ich hatte erst kurz zuvor größere Mengen geordert, weil unsere Kundschaft das Zeug wie blöd gekauft hatte, aber jetzt brach in unserer Handywelt ein Shitstorm los, also tendierte ich zur Schadensbegrenzung und meinte, wir können das Zeug doch medienwirksam an eine der vielen Obdachlosentafeln verschenken, anstatt uns der Gefahr auszusetzen, in den Sog dieses Betrugsskandals zu geraten. Aber meine Chefin fürchtete den finanziellen Verlust und war der Ansicht, dass dahinter doch wie immer die Chinesen stecken würden, die ja mit ihrem vielen Geld in nicht einmal zwei Jahren alles kaputt gemacht hätten, was wir uns in zwei Jahrzehnten gemeinsam mit den Afrikanern aufgebaut hätten und so zogen sich die Beratungen ziemlich hin. Die Party sollte um 20.00 beginnen und um 10 vor acht saß ich immer noch in dem Büro und redete mir den Mund fusslig. Als ich zum x.ten Mal auf mein Handy schaute, fragte mich eine Pushnachricht: Wird Von Barkhausen der nächste deutsche Bundeskanzler? Anscheinend hatten Beratungen zwischen seiner Partei der Mitte und zwei kleineren Parteien ergeben, dass diese zur nächsten Bundestagswahl ein Bündnis schmieden wollten und dem wurde in ersten Umfragen eine deutliche Mehrheit vorhergesagt.
„Was ist denn los?“, wollte meine Chefin wissen, „du bist ja ganz blaß geworden?“
„Ach nur wieder der unsägliche von Barkhausen“, sagte ich und schlug vor, dass wir unsere Entscheidung vertagen sollten, da ich jetzt wirklich mal los müsste.
Sie stimmte mir zu und wir verabredeten uns für den nächsten Morgen. Um 10.00 sollte ich mit einem schlüssigen Konzept auftreten, wie wir die größten Verluste vermeiden konnten und bei aller Liebe, ich solle das Geschenkmodell vergessen, wir könnten uns das im Moment einfach nicht leisten.
Als ich schon in der Tür stand, fragte sie mich noch, was denn mit von Barkhausen schon wieder sei? „Ach der wird der nächste Bundeskanzler“, sagte ich und erklärte ihr kurz, was ich gelesen hatte.
„Den wählt doch niemand“, sagte sie.
„Über 20 % haben das schon getan.“
„Ja aber vielmehr wird das einfach nicht werden. Soviele Idioten gibt das bei uns einfach nicht“, sagte sie und lachte.
„Wenn du dich da nicht irrst“, sagte ich und verließ ebenfalls lachend den Laden.
Als ich endlich bei meiner Mutter ankam, war die Party längst in vollem Gange. In der Küche stand ein Riesenbüffett, das schon zur Hälfte leer gegessen war und im Wohnzimmer drängelten sich die Medienleute um meine Eltern. Die Zwillinge hatten ihre Zimmer im hinteren Teil der Wohnung und da waren alle ihre Freund*innen. Ich gratulierte Jenny und überreichte ihr mein Geschenk. Sie bedankte sich, wirkte aber überhaupt nicht in Feierlaune. Ich fragte sie, wo ihre Schwester sei, aber sie tat so, als ob sie meine Frage nicht gehört hätte und verschwand zwischen ihren Freund*innen.
Also kämpfte ich mich zu meiner Mutter durch, die ebenfalls merkwürdig angespannt wirkte. Normalerweise genoß sie solche Gelegenheiten und war immer eine phantastische Gastgeberin. Als sie mich sah, gab sie mir ein Zeichen, ich solle zurück auf den Flur gehen. Sie würde gleich nachkommen.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie kam. Sie dirigierte mich in mein ehemaliges Zimmer, dass sich inzwischen in ein kleines Jogastudio verwandelt hatte. Sie schloß die Tür und in dem Moment fiel die Gastgeberinrolle komplett von ihr ab und ich erschrak.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie. Sie atmetete schwer und kämpfte einen Moment mit den Tränen.
„Wo ist Jennifer?“, fragte ich. Meine Mutter atmetete noch einmal schwer. Dann erzählte sie. Jennifer wäre schon den ganzen Tag so merkwürdig drauf gewesen. Total schweigsam und schlecht gelaunt. Die meiste Zeit saß sie in ihrem Zimmer und arbeitete irgendwas am Computer. Jenny sagte nur, sie hätte keine Ahnung, was mit ihr los sei.
Eine Stunde bevor die ersten Gäste kommen sollten, kam sie wohl endlich aus ihrem Zimmer. Sie müsse mit uns reden. Ob das denn unbedingt jetzt sein müsse, wir hätten noch soviel vorzubereiten, aber sie meinte, es ginge leider nicht anders. Sie wisse schon, dass es furchtbar schlechtes Timing sei und sie würde sich damit auch richtig beschissen fühlen, aber nachher würden die ganzen Fernsehleute kommen und dann würden alle über die Serie reden, die ihnen vor kurzem angeboten worden war. Zwillingsmädchen auf einem Reiterhof, die aber nicht wissen, dass sie Zwillinge sind. Der völlig unnötige x.te Aufguss vom „doppelten Lottchen“, aber meine Mutter war der Meinung, dass das der endgültige Durchbruch für die beiden werden würde.
Jennifer stand in der Küchentür und machte eine Pause. Meine Mutter meinte, den Kampf in ihren Augen sehen zu können, den sie gerade mit sich selbst ausfechten würde, aber Jennifer hat mir später erzählt, dass sie Zahnschmerzen gehabt hätte und deshalb wäre ihr Gesichtsausdruck wohl etwas verzerrt gewesen. Im Gegenteil, meinte sie, nachdem sie sich entschieden hatte, war ihr ganz leicht ums Herz gewesen.
Und die Entscheidung war, dass sie die Reiterhofserie nicht machen würde, dass sie überhaupt mit dem Drehen aufhören würde. Das hätte ihr alles viel zu wenig Substanz.
„Substanz!“, sagte meine Mutter zu mir und legte soviel Verachtung in die Aussprache dieses Wortes, wie sie nur konnte. „Als ob es beim Fernsehen jemals um Substanz gegangen ist.“ Aber Jennifer hätte gar nicht darüber reden wollen. Sie hätte nur ihre Entscheidung verkündet. „Wie ein auswendig gelerntes Statement“, sagte meine Mutter. Das einzige, was nach dem Hammer mit der Absage wegen der Substanzlosigkeit noch kam, war, dass sie jetzt leider los müsse, sie hätte noch ein Meeting wegen der Vorbereitung zu einer Demo gegen von Barkhausens Kanzlerpläne. Sie wünsche allen eine schöne Party und würde sicher später noch dazu stoßen. Dann wandte sie sich direkt an ihre Schwester und sagte: „Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht anders“ und verließ Küche und Wohnung.
Meine Mutter stand in diesem Moment so trostlos auf ihrer Jogamatte, dass ich sie einfach in den Arm nehmen musste. Ich tat das und sie weinte an meiner Schulter. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich, dass meine Mutter weinte. Weil ihre erwachsene Tochter keine verlogene Kitschserie spielen wollte. „Das wird schon wieder“, sagte ich.
Die Party war dann genau so, wie solche Partys immer waren. Irgendwo lief laute Musik, obwohl kaum jemand tanzte. Wegen der Lautstärke ähnelten die Gespräche eher einem gegenseitigen Anschreien, was den Lärmpegel noch einmal erhöhte. Alle tranken sehr viel und alle hatten viel Spaß. Ich versuchte mit Jenny zu reden, aber sie ging mir standhaft den ganzen Abend aus dem Weg. Meine Mutter hatte sich schnell wieder im Griff und flirtete mit der Hälfte ihrer männlichen Gäste, mein Vater stritt sich den halben Abend mit seiner Freundin, weil die ihren 5 – jährigen Sohn partout nicht im Jogastudio ins Bett legen wollte. In der Küche standen wie immer die meisten Leute und tauschten sich gegenseitig darüber aus, was ihre Handys ihnen in den letzten 24 Stunden an Einsichten beschert hatten.
Jennifer schien niemand zu vermissen. Auf jeden Fall redete niemand über sie. Ich stand die meiste Zeit in der Küche in der Nähe des Buffetts. Dippte abwechselnd Weißbrot in eine ziemlich heftige Aioli oder nahm einen von meiner Mutters Käsespießchen. Dazu trank ich ein Bier nach dem anderen und verschwand alle halbe Stunde einmal zum Rauchen auf den Balkon.
Gegen Mitternacht ging in der Küche eine Diskussion über Politik los. Diskussion ist vielleicht der falsche Ausdruck. Es war mehr ein abwechselndes Halten von Kurzvorträgen. Oft rauschten auch zwei oder drei Vorträge gleichzeitig durch die Küche, so dass nichts mehr zu verstehen war, aber das machte niemand etwas aus, weil wir alle sowieso dieselbe Sicht auf die Welt unserer Handys hatten. Man fand die Entwicklung der politischen Lage irgendwie bedrohlich, aber war sich auch einig, dass es nicht wirklich schlimmer werden würde, weil es doch genug Menschen gab, die wie man selber dachten. Dann gab es die etwas pessimistischeren Beiträge, vor allem in Bezug auf den Klimawandel, der müsse doch jetzt endlich mal gestoppt werden, andere fanden, da wäre in den letzten zehn Jahren doch schon ne ganze Menge passiert. Nur weil du dir schon vor 5 Jahren einen dicken Tesla geleistet hast und außerdem seien doch die Batterien immer noch umweltschädlicher als ein sparsamer Benziner. Und ob wir denn wüssten, dass in Grönland der Eisschild in den letzten zehn Jahren über 7,23 Billionen Tonnen Eis verloren hat. 7,23 Billionen Tonnen!!! Alle nickten besorgt, als hätten sie eine Vorstellung davon, wieviel das sein könnte. Nahezu alles wurde in Windeseile durchdekliniert: Die Verschandelung der Landschaft durch die viel zu vielen Windräder, der immer weiter herausgezögerte Kohleausstieg, die Stagnation der Wirtschaft seit beinahe 3 Jahren, aber auf was für einem Niveau, die Gefahr durch die Immobilienblase, aber andererseits ist die Eigentumswohnung natürlich jetzt ordentlich was wert. Ja und zuguterletzt auch noch der Lieblingsfeind des aufgeklärten Stadtbewohners in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts: die industrielle Landwirtschaft. Unser Landschaftsverbrauch durch das andauernde Steakessen. Du musst das gerade sagen, ich hab dich doch neulich bei Mac Doof gesehen! Da hätte er plötzlich so einen Heißhunger gehabt und außerdem, der Mensch sei nun mal evolutionstechnisch ein Carnivor, sonst hätten wir ganz andere Zähne, und dann schossen sich alle auf die Überbevölkerung ein, das sei doch nun mal das Hauptproblem, wir sind einfach zu viele, ja vor allem hier in der Küche, ob man nicht langsam mal tanzen wolle?
Daraufhin verschwanden die Frauen aus der Küche und es blieben außer mir nur noch 4 Männer übrig. Drei so zwischen 50 und 60, der vierte vielleicht in meinem Alter. Der schoss sich langsam auf von Barkhausen ein. Alle waren sich einig, dass der unbedingt verhindert werden müsste und das würde auch geschehen, aber der Älteste fand, dass er in manchen Dingen ja nicht völlig daneben liege. Hoho, da regten sich die anderen aber richtig auf und dann legte der andere nach: Die Frauenfeindlichkeit der Islamisten! Da waren sich alle einig, dass das in keinem Falle zu tolerieren sei, aber deshalb könne man von Barkhausen doch in keinem Fall wählen und natürlich müsse man die Flüchtlingsproblematik nach wie vor in den Herkunftsländern lösen und so weiter und so weiter...
Ich kam gerade wieder von einer meiner Rauchpausen vom Balkon zurück, als einer der Männer mit einem verschwörerischen Unterton sagte, dass sich das von Barkhausen – Problem ja unter Umständen auch von alleine erledigen würde. Vielleicht würde sich ja irgend ein „Verrückter“ erbarmen , er deutete dabei Anführungszeichen um das Wort „Verrückter“ an - und den Möchtegerndiktator aus der Welt ballern. „Den würde ich sofort für den nächsten Friedensnobelpreis vorschlagen“, sagte ein anderer und darüber lachten sie sich alle kaputt.
Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte mich besser im Griff haben sollen. Ich hätte nicht so viel Bier trinken sollen. Ich hätte einfach früh nach Hause gehen sollen. Oder wie blöd tanzen. Irgendwas anderes, als mir das Gelaber die ganze Zeit anzuhören und zu schweigen. Aber hinterher ist man immer schlauer.
„Ihr kotzt mich sowas von an, ihr selbstgerechten Arschlöcher“, sagte ich plötzlich. Sehr laut und ein wenig lallend. „Ihr tut nichts außer Scheiße reden und dann sollen andere auch noch für euch die Arbeit machen.“ Immerhin habe ich nicht in der ersten Person gesprochen, aber ich war sehr kurz davor, mich als zukünftigen Attentäter und damit Retter der westlichen Welt und Friedensnobelpreisträger in spe zu offenbaren. Die Männer waren einen Moment vor Verblüffung auf stumm gestellt und zu meinem Glück kam in diesem Moment Jennifer in die Küche.
„Da bist du ja“, lallte ich und fiel ihr um den Hals. „Alles Gute zum Geburtstag und herzlich willkommen in der beschissenen Welt der wie immer alles besserwissenden Erwachsenen.“
„Du bist ein bisschen betrunken“, sagte sie und löste sich von mir.
Die vier Männer starrten mich an.
„Was war das denn eben?“, wollte der wissen, der den Knaller mit dem Friedensnobelpreis gemacht hatte.
Ich hätte ihm am liebsten einfach in die Fresse gehauen, aber Jennifer nahm meine Hand und sagte zu den Männern, „mein Bruder ist ein bisschen betrunken“ und zu mir „vielleicht entschuldigst du dich besser mal“.
„Tut mir leid“, nuschelte ich. „Ich konnte euer Gelaber einfach nicht mehr ertragen.“
„Musst ja nicht zuhören“, sagte der eine, lachte aber.
„Das macht er jetzt auch nicht mehr“, sagte Jennifer und schob mich auf den Balkon.
Dort sassen wir ungefähr die nächsten zwei Stunden. Jennifer holte eine Wolldecke und zwei dicke Pullover. Langsam wurde ich wieder nüchtern. Ich erzählte ihr, dass ich das unreflektierte Geschwätz der 4 Männer einfach nicht mehr ausgehalten hätte. Jennifer meinte, dass das nicht wirklich unreflektiert sei, nachdenken würden wir alle schon, jeder halt so gut wie er könnte, wir seien nur alle so – sie suchte lange nach dem richtigen Wort – so satt, so substanzlos. Da musste ich lachen und erzählte ihr, wie unsere Mutter sie vorhin nachgemacht hatte. Jennifer lächelte etwas verquält, dann sagte sie, „ich habe mich bei beiden entschuldigt“.
„Warum das denn?“, wollte ich wissen.
„Die ganze Aktion war ziemlich arrogant von mir und dann auch noch so kurz vor der Party und das beste war dann auch noch einfach wegzulaufen und den beiden keine Chance zu geben, mir irgendwas dazu zu sagen. Also das hatte überhaupt keine Substanz von mir. Mama ist auch noch ganz schön sauer, aber wie immer behält sie das lieber für sich.“
„Und deine Schwester?“, fragte ich?
„Jenny ist die größte“, sagte sie und strahlte. „Sie hat gesagt, es wäre höchste Eisenbahn, dass wir endlich mal verschiedene Sachen machen würden, also solle ich mal schön die Welt retten und sie würde ordentlich Kohle mit dem substanzlosen Reiterhofkitsch verdienen.“
„Das freut mich, dass ihr euch wieder vertragt“, sagte ich. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Unter der Decke eng aneinander geschmiegt, schwiegen wir ein paar Minuten. Dann fragte meine kleine – meine sehr große, achtzehnjährige Schwester plötzlich, ob ich sie mal ganz fest drücken könne?
Ich nahm sie in den Arm und sagte, es sei doch jetzt alles gut.
„Ja“, sagte sie, „aber ich hab manchmal so eine Angst“.
„Aber wovor denn?“
„Vor der Zukunft“, sagte sie.
„Ich pass auf dich auf“, sagte ich und drückte sie noch fester.
Kapitel 9
Und dieses „ich pass auf dich auf“, meinte ich in diesem Moment todernst. In den nächsten 4 Jahren bis zu ihrem endgültigem Verschwinden habe ich wirklich alles in meiner Macht stehende versucht, um diesen Satz auch in die Tat umzusetzen. Aber was heisst schon „in meiner Macht stehend“? Brandon Ford würde mich wahrscheinlich etwas höhnisch angrinsen, wenn er das hören würde, denn seiner Meinung nach habe ich keine Macht. Nicht über meine Zukunft und schon gar nicht über die Zukunft von anderen Menschen.
Natürlich sah ich mich immer wieder mit der Knarre in der Hand in von Barkhausens Garderobe stehen, aber was an dieser Tat, wie immer sie auch ausgehen sollte, könnte bedeuten, dass ich auf Jennifer aufpasste?! Nichts. Überhaupt nichts.
Und genauso endeten im Grunde alle meine Versuche auf meine Schwester aufzupassen.
Ich ging mit ihr zusammen auf Demos, aber wenn die Wasserwerfer zum Einsatz kamen, war ich meistens schon wieder zuhause oder hatte sie kurz vorher im Durcheinander der immer härter werdenden Polizeieinsätze aus den Augen verloren. Sie tauchte dann spät in der Nacht bei mir auf. Völlig durchnäßt, die Augen vom Reizgas geschwollen und immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt, weil sie das Pfefferspray auch noch eingeatmet hatte. Aber sie hat sich nicht beklagt. Niemals. Sie saß in meiner Küche, trank ein Bier und plante schon die nächste Aktion. Meine Schwester kam nach meiner Mutter, sie war eine Kämpferin, aber wer bei dem Wort Kampf an Steinewerfen, Autosanzünden oder ähnliche Aktionen denkt, liegt komplett falsch. Jennifer war wie so viele andere bei den Demos in diesen Jahren immer weiß gekleidet und ihr Widerstand war strikt gewaltlos.
Aber das nützte ihr nichts. Anfang der 30er Jahre hatte das Aktionsbündnis, in dem wir beide mitarbeiteten zu den sogenannten weißen Nächten aufgerufen. Es ging um ein ganzes Bündel von Gesetzesänderungen, die von Barkhausens Regierung plante, die die Grundrechte der Bürger*innen wie Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Pressefreiheit in sogenannten von der Regierung auszurufenden Notstandsituationen extrem einschränkte. Diese Gesetze trugen auf ihre Weise massiv zum Ende der Demokratie bei, aber natürlich sagte das damals niemand aus der Regierung. Um dieses Schweigen zu brechen, auf die Gefahren aufmerksam zu machen und diese Notstandsgesetze zu verhindern, riefen wir zu den Weißen Nächten auf. In allen Großstädten sollten in den Abendstunden beginnende Demonstrationen stattfinden, die überall in kleinere Aktionen und möglichst die ganze Nacht andauernden Straßenfeste münden sollten. Diese weißen Nächte gingen aber als rote Nächte in die Geschichte ein, wegen des vielen Blutes, dass in diesen drei Tagen vergoßen wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es weit über 100 Tote in ganz Deutschland und natürlich wurden die Notstandsgesetze kurz darauf verabschiedet und galten samt ihren noch weitaus schärferen Nachfolgegesetzen ab da für viele Jahre. Um es kurz zu sagen: Diese Nächte waren der Anfang vom Ende. Und auch damals passte ich nicht auf Jennifer auf.
Wir waren am Spätnachmittag zusammen losgezogen, in unseren weißen Outfits. Niemals in meinem Leben habe ich einen schöneren Menschen gesehen als Jennifer in dieser ersten weißen Nacht. Natürlich war sie auch an normalen Tagen eine wunderschöne Frau von gerade mal 20 Jahren. Und sie hatte sich wirklich in Schale geworfen. Einen taillierten weißen Hosenanzug, der aussah als ob er für einen Filmball entworfen wäre. Und sie hatte sich weiße Blumen ins Haar gesteckt. Chrysanthemen. Aber was ihre Schönheit ins Magische erhob, war ihre Hoffnung. Sie war so voller Hoffnung, dass diese weißen Nächte von Erfolg gekrönt sein würden.
Dazu kam noch, dass sie zu dieser Zeit zum ersten Mal so richtig verliebt war. Er hiess Djakery und war Ende der 20er Jahre aus Äthiopien nach Deutschland gekommen. Er war einen Meter 95 groß und hatte ebenfalls einen weißen Anzug an, sogar mit einem weißen Zylinder. Die Kostüme hatte Jenny gemeinsam mit meiner Mutter aus dem Fundus einer Filmausstatterin geliehen.
Daneben sah ich ziemlich popelig aus. Ein weißes T – Shirt zu meiner üblichen blauen Jeans und meine Hoffnung war aus den bekannten Gründen eher marginal. Da half die Chrysantheme, die Jennifer mir an einer Kette um den Hals gehängt hatte, auch nicht viel.
Die Schlägertrupps kamen um kurz nach Mitternacht. Bis dahin war es wirklich mehr ein Fest als eine Demonstration. Bands spielten. Es wurde getanzt und gesungen. Es waren so viele Menschen. Was sollte uns passieren? Die Regierung würde einlenken müssen. Da wo wir waren, waren es ungefähr 100 rechte Schläger. Mit Knüppeln und Messern und sie zögerten keine Sekunde. Ich war kurz vorher losgezogen, um uns ein Bier zu holen und war deshalb etwas außerhalb der Schneise der Gewalt, die die Schläger durch das weiße Fest zogen. Jennifer war mittendrin. Soviel zum Thema Aufpassen. Ich habe sie erst Tage später im Gefängnis wieder gesehen.
Gut, ich habe die drei Bier sofort weggeworfen und versucht zu Djakery zu kommen, dessen weißen Zylinder ich aus der Menge herausragen sah, aber ich kam nicht durch die in alle Richtungen wegrennenden weißgekleideten Menschen hindurch. Irgendjemand bekam mich am Hals zu fassen und zerriß die Kette mit der Chrysantheme. Aus mir nicht ganz verständlichen Gründen wollte ich sie unbedingt aufheben und dabei trat mir jemand mit schweren Stiefeln auf die Finger. Ich fiel hin und saß vielleicht eine Minute meinen Kopf mit den Händen irgendwie schützend inmitten der rasenden Menge. Dann trampelten ein paar Leute einfach über mich rüber und ich verlor das Bewußtsein.
Aber letztendlich habe ich Glück gehabt: Mein Ringfinger war gebrochen und ist, weil ich in dem Chaos der nächsten Tage keine ärztliche Behandlung bekam, etwas krumm wieder angewachsen. Meine linke Hand sieht deswegen immer ein klein wenig so aus, als ob ich mit Mittelfinger und Ringfinger ein V abbilden wollte. Eine bleibende Erinnerung an die weißen Nächte. Aber an sich völlig harmlos. Jennifer hatte eine gebrochene Schulter und mehrere Platzwunden am Kopf. Und Djakery – ich zögere selbst jetzt, über 60 Jahre später, es auszusprechen, war tot. Mehrere Messerstiche in den Unterleib. Jennifer versuchte selbst blutüberströmt die Wunden mit ihrem weißen Anzug irgendwie zu stopfen, aber er starb in ihren Armen.
Der ganze Angriff dauerte vielleicht zwei Minuten und wurde in fast allen Städten zur selben Zeit durchgeführt. Etwa zehn Minuten später – Djakery war gerade gestorben, riegelte die Polizei den Platz ab und nahm alle weißgekleideten Demonstranten fest, die noch da waren, die meisten von ihnen mehr oder weniger schwer verletzt. Ich war in diesem Moment gerade wieder zu mir gekommen, weil mich irgendjemand aus der Gefahrenzone trug.
In den Medien wurden das Ganze als Straßenschlacht zwischen linken und rechten Chaoten dargestellt, das durch das schnelle Eingreifen der Polizei beendet werden konnte. Die Notfallgesetze wurden im Eilverfahren erlassen. 100 Tote. Von Barkhausen versprach in einer zentralen staatlichen Trauerfeier, dass er alles dafür tun würde, dass so etwas nie wieder passieren könne.
Jennifer kam nach zwei Wochen wieder aus dem Gefängnis heraus, aber Djakerys Ermordung hatte ihren Kampfgeist gebrochen. Sie war schweigsam, zog sich von allen Freund*innen und Aktivitäten zurück und wartete scheinbar apathisch auf den Prozess, der ihr und vielen anderen wegen schwerer Ruhestörung und terroristischem Anschlag auf das Staatswohl gemacht werden sollte.
In diesen Tagen wurde mir klar, dass ich nur auf eine Weise auf meine Schwester aufpassen konnte. Und zwar so, wie ich es schon 2012 in der orangenen Vollmondnacht auf dem Video gesehen hatte. Ich wusste, dass meine Chefin in den Bioläden sich ein Jahr zuvor aus Angst vor möglichen Plünderungen eine Pistole besorgt hatte. Ich wusste, wo sie die Waffe aufbewahrte. Ich ging wie immer zur Arbeit in den Laden, hörte ihren Klagen zu, dass die Geschäfte nicht mehr liefen, weil die Nachfrage zusammengebrochen war, bestellte trotzdem Bergblumenkäse und einen Haufen Gemüse und in einem unbeobachteten Moment nahm ich mir die Pistole aus der Schublade neben der Kasse, wünschte ihr eine gute Zeit und verschwand.
Am selben Abend sass ich in meiner kleinen Küche – ich wohnte damals alleine in einer winzigenen Anderthalbzimmerwohnung in St. Pauli – und betrachtete die Pistole. Sie war geladen. Sechs Schüsse. Dann holte ich den Videoplayer aus seinem Versteck und drückte auf PLAY. Ich hätte es auch ohne nachzuschauen sagen können: Natürlich sah die Pistole exakt so aus, wie die Knarre, die ich in dem Video auf Robert von Barkhausen richtete. Ich legte Pistole und den Player zurück in das Versteck. Ich würde sie erst in cirka drei Jahren brauchen.
Kapitel 10
Diese drei Jahre brachten extreme politische Turbulenzen mit sich. Es begann alles mit der zweiten Bankenkrise dieses Jahrhunderts. Nachdem 2008 die faulen Immobilienkredite der Auslöser waren, waren es 2032 schlichte massenhafte Fehlspekulationen mehrerer großer Investmentbanken, bzw. ihrer angeblich fehlerfrei funktionierenden inzwischen den ganzen Handel selbstständig kontrollierenden Algorithmen. Panikverkäufe liessen zuerst die Aktienmärkte kollabieren und wie immer hatte das massive Auswirkungen auf die reale Existenz vor allem des ärmeren Teils der Weltbevölkerung. Als Folge davon und den immer deutlicher spürbaren Auswirkungen der Klimakrise kam es innerhalb kürzester Zeit zu einer Verzehnfachung der weltweiten Migrationsbewegungen und das führte in vielen europäischen Ländern und der USA zu einem Rechtsruck. Die Europäische Union brach endgültig auseinander und die sehr viel kleinere Republik Zentraleuropa entstand. Von Barkhausens Partei der Mitte und ihre Verbündeten bekamen in der ersten Wahl sofort die absolute Mehrheit. Die Proteste dagegen wurden schnell niedergeschlagen, aber in diesem Zusammenhang wurden – auf der Rechtsgrundlage schon wieder verschärfter Notstandsgesetze – alle oppositionellen Parteien verboten. Weltweit kam es in vielen Ländern der westlichen Welt zu vergleichbaren Veränderungen. Die Zahl der militärischen Konflikte nahm kurzfristig zu, aber da die undemokratischen Regierungen gut zusammenarbeiteten, beruhigte die Weltlage sich schnell wieder. Eben diese Regierungen führten das auf ihr „besonnenes Eingreifen“ zurück, was ihnen erstaunlich viele Menschen glaubten, so dass sie im Laufe des Jahres 2035 in ihren Ländern kaum noch auf offenen Widerstand trafen.
Es waren politisch vielleicht die drei turbulentesten Jahre dieses Jahrhunderts. Auf jeden Fall für mich, denn auch in meinem Leben änderte sich nahezu alles.
Von meinem 93 jährigen Heute aus betrachtet, waren diese drei Jahre von 1932 bis 35 zwar politisch eine einzige Katastrophe, aber in meinem kleinen Kosmos waren eben diese Jahre meine glücklichste Zeit. Obwohl sie natürlich mit Djakerys Tod und Jennifers daraus resultierendem Rückzug aus dem Leben alles andere als glücklich begannen.
Kurz nachdem ich mir die Pistole besorgt hatte, zog Jennifer wieder zurück in unsere alte Wohnung. Sie wollte ihre Ruhe haben, sagte sie mir, aber ich besuchte sie fast täglich. Meistens sass ich mit ihr eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, dass sie ansonsten laut meiner Mutter nur zu den Mahlzeiten verliess. Wir tranken eine Tasse Tee und ich erzählte ihr, was ich in meinem Handy so alles von den Schwierigkeiten in der Welt mitbekommen hatte. Jennifer schwieg. Manchmal stellte sie eine Frage oder sagte etwas wie „ach so, das ist ja irre“, aber das war wohl nur, weil sie mir ansah, wie sehr ich mir Sorgen machte und wie wahnsinnig ich mich freute, wenn sie ausnahmsweise mal ein paar Worte an mich richtete.
Jenny drehte fast durch vor Angst um ihre Schwester und fing andauernd an zu heulen, aber unsere Mutter war einfach großartig. Sie war mit einer warmherzigen Selbstverständlichkeit für ihre Tochter da, wie ich es ihr gar nicht zugetraut hätte. Meine Mutter wirkte ausgeglichen, ruhig und auf eine unaufdringliche Art optimistisch. Jennifer bräuchte sehr viel Zeit, Ruhe und Kraft, um zu trauern und sie würde dafür sorgen, dass sie die bekommt, sagte sie zu mir.
„Und wenn es das Einzigste ist, was ich für sie tun kann“, fügte sie hinzu und gestattete sich ausnahmsweise einen kleinen Seufzer.
„Du bist toll“, sagte ich zu ihr, worauf sie mich komisch ansah.
„Findest du?“
Ich nickte.
„Danke“, sagte sie.
Auch mein Vater war auf seine Weise sehr für Jennifer da. Er kam alle paar Tage vorbei und bestand darauf, dass Jennifer mit ihm nach draußen ging. Komischerweise widersprach sie ihm nicht und ging mit ihm an die Elbe spazieren oder sie machten Ausflüge ins Umland wie wir früher alle zusammen. Einmal gingen sie sogar in den Zoo. Ansonsten, also ohne meinen Vater, verließ sie nie die Wohnung.
Mein Vater fühlte sich auch für die – wie er sagte – praktischen Dinge zuständig. Er brachte zu seinen Besuchen immer eine halbe Kühlschrankfüllung mit. Er sorgte für Jennifers ärztliche Betreuung. Sie hatte noch einige Zeit mit den Nachwirkungen ihrer Verletzungen aus den weißen Nächten zu tun. Eine therapeutische Behandlung der seelischen Folgen hatte Jennifer allerdings mehrfach abgelehnt.
Vor allem aber kümmerte sich mein Vater um den bevorstehenden Prozess. Er hatte Kontakt mit einer Anwaltskanzlei aufgenommen und damit begann meine glückliche Zeit.
Es war am Tag, als der Aktienindex in ein paar Stunden um 27 % gefallen war. Ich kam am frühen Nachmittag zu meinem täglichen Besuch bei Jennifer an und war total überrascht, Lachen aus ihrem Zimmer zu hören.
Ein klares lautes Lachen. Weder Jenny noch meine Mutter lachten so und in den letzten Wochen lachten sie sowieso nicht. Mein Vater lachte ja nie und außerdem war es eindeutig eine Frau, die da in Jennifers Zimmer lachte. Laut und ausdauernd. Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe mich in dieses Lachen verliebt, bevor ich wusste, wer da so wunderschön lachte.
„Dein Vater hat jetzt Nägel mit Köpfen gemacht“, sagte meine Mutter als ich sie fragend ansah. „Das ist eine Anwältin“, sagte sie. „Eine Frau Dr. Lange.“
„Doktor Johanna Lange“, sagte ich, ohne eine Sekunde nachzudenken.
„Du kennst sie?“, fragte meine Mutter.
„Keine Ahnung“, sagte ich, „Ich glaube Papa hat mal den Namen erwähnt.“
Und in dem Moment öffnete Dr. Johanna Lange die Tür zu Jennifers Zimmer und trat endgültig in mein Leben.
Natürlich habe ich sie total entgeistert angesehen und mich die ersten Minuten unseres Kennenlernens wie ein emotionaler Zombie verhalten, aber Johanna hat mir später erzählt, dass sie sich eigentlich gleich in den ersten Minuten in mich verliebt hätte. Ich habe etwas von Liebe auf den ersten Blick gestammelt und sie hat sehr selig geguckt. Nur dass das mit dem ersten Blick in meinem Fall natürlich nicht wirklich stimmte, es sei denn, man lässt die zwanzig Jahre, in denen ich Johannas weinendes Gesicht mehrere hundert Male angestarrt hatte, einfach außer Acht.
Johanna übernahm Jennifers Verteidigung und da ich ja mit ihr zusammen bei der weißen Nacht gewesen war, befragte sie mich gleich am nächsten Tag zu meiner Version der Ereignisse. Wir wurden innerhalb von ein paar Tagen ein Paar. Es fühlte sich wunderbar einfach an. So als ob wir gar keine andere Möglichkeit gehabt hätten. Ich weiß, Brandon Ford würde sagen, dass wir genau das auch nicht hatten. Keine Chance, nicht glücklich zu werden und wenn es auch nur für knapp drei Jahre war. Es musste so kommen. Das Schicksal wollte, dass wir zusammen kamen. Man ist ja bei glücklichen Entwicklungen viel eher geneigt, dem Schicksal eine bestimmende Kraft zuzugestehen. Also: Wir gehörten einfach zusammen. Da war nichts zu machen.
Kapitel 11
Entschuldigt, dass ich schon wieder aus meinem „Alterssitz“ Widerspruch anmelde: Aber heute denke ich, vielleicht ist dieses ganze Glücksgerede ja Quatsch. Ist Glück nicht eine sehr merkwürdige Kategorie um dauerhafte Gefühlsbewegungen zu beschreiben? Niemand ist 3 Jahre durchgängig glücklich. Außer in Kitschfilmen.
Sagen wir es mal mit den fast 60 Jahren Abstand, die ich jetzt in meinem Hochhausversteck auf diese drei Jahre habe: Ich war wirklich gern mit Johanna zusammen. Ihr Lachen war wahnsinnig ansteckend und obwohl das ja politisch wirklich harte Zeiten waren, haben wir viel gelacht in diesen 3 Jahren. Wir gingen oft ins Kino und fast immer in irgendwelche dämlichen Komödien. Slapstick war uns am liebsten. Wo Leute gegen Hauswände liefen und dämliche Grimassen zogen, weil sie in Rosinenbrötchen bissen, in denen doch Senf steckte. Je bekloppter, desto glücklicher waren wir.
Schon wieder dieses Wort.
Natürlich will ich jetzt eher an diese Momente denken, an Abende mit einer riesigen Schüssel mit selbstgemachten Kartoffelsalat oder Käsefondue und dazu alte Mr. Bean Filme gucken. An Fahrradtouren ins Hamburger Umland – ich zeigte ihr alle Highlights aus meinen Familienausflügen. An einen Urlaub im nördlichen Norwegen. Wir wanderten tagelang durch endlose, eigentlich ziemlich öde Landschaft, bis wir kurz vor dem Nordkap einfach wieder umdrehten. Die Sonne ging niemals unter und manchmal wanderten wir die ganze Nacht durch. Manchmal saßen wir stundenlang vor unserem kleinen roten Zelt und lasen Bücher über Polarexpeditionen. Nichts besonderes, nichts Spektakuläres, nur zwei Menschen, die gut miteinander sein konnten.
Ich sitze in meinem Hochhaus in Sri Lanka und warte auf Brandon Ford. Ich will ihn überraschen. Ich will etwas tun, was das Schicksal nicht für mich vorgesehen hat. Zum ersten Mal, seit ich auf den PLAY Button gedrückt habe, will ich meinem Schicksal wirklich entkommen. Keine Ahnung, ob das überhaupt einen Unterschied macht. Aber ich werde es tun. Es fühlt sich genau wie die anderen Male so an, als ob ich es tun muss. Aber es ist meine Entscheidung.
Um Brandon Ford überraschen zu können, sollte ich wach bleiben, nicht in sentimentalen Erinnerungen an sonnendurchtränkte Nächte in Nordnorwegen versinken. Nicht an die Erzählungen von Amundsen, Scott und diesem Engländer Ernest Shakelton denken. Nicht an Johannas Augen. Nicht an ihre Art auf ihre Lippen zu beissen, wenn sie hart nachdachte. Nicht an ihre rote Windjacke. Nein. Nicht an das Glück denken. Da war ja auch genug anderes in diesen drei Jahren.
Der Prozess gegen Jennifer, der aufgrund Johannas Verteidigung mit einem vergleichsweise milden Urteil von zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung endete. Vergleichsweise milde, weil andere von den eigentlichen Opfern 5 – 10 Jahre aufgedrückt bekommen hatten. Johanna legte natürlich Berufung ein und in dieser Zeit sahen wir uns sehr wenig, weil sie auch viele andere Mandate in diesen Prozessen übernommen hatte. Sie liebte ihre Arbeit und sie war eine verdammt gute Anwältin, aber in den Prozessen tauchten eine Menge Zeugen auf, auch von der Polizei, die genau gesehen haben wollten, wie Jennifer einen am Boden liegenden Mann mehrfach in den Unterleib getreten haben sollte. Es gab sogar Handyvideos davon. Sie war zwar meines Erachtens nicht wirklich darauf zu erkennen, aber für zwei Jahre reichte es bei der Justiz dieser Zeit allemal. Es war keine Zeit für Gerechtigkeit und deshalb waren zwei Jahre noch ein vergleichsweise gutes Urteil.
Vor allem, weil Von Barkhausen in einer „großen Geste der Versöhnung“ ein halbes Jahr später alle Menschen begnadigte, die unter drei Jahren bekommen hatten, also auch Jennifer. Sie kam an einem sonnigen Tag im März frei. Wir holten sie gemeinsam ab. Meine Mutter, mein Vater, Jenny, ich und Johanna. Jennifer hatte sehr abgenommen und sie war immer noch schweigsam. Aber sie umarmte uns alle und lächelte dabei sogar. Mein Vater hatte einen Tisch in einem Sushi – Restaurant bestellt und ich erinnere diesen Abend als einen der schönsten, den unsere Familie je miteinander verbracht hat. Still, sich auf das phantastische Essen konzentrierend, haben wir uns immer wieder angesehen. Ohne etwas zu sagen. Es war ja sowieso alles klar. Wir waren für einander da. Und würden es immer sein.
Dachte ich damals noch, aber dieser Abend war auch der letzte, den wir als Familie verbrachten. Jennifer verschwand schon eine gute Woche später auf Nimmerwiedersehen.
Sie war einfach nicht mehr da. Ohne etwas zu sagen. Ohne einen Brief, ohne eine Nachricht. Sie verschwand am Vormittag, meine Mutter war bei ihrer Jogagruppe, Jenny bei ihrem Freund und ich und mein Vater waren ja sowieso nur sporadisch da. Noch zwei Tage vorher hatte sie sich mit anderen aus der alten Widerstandsgruppe getroffen, deshalb glaubten meine Eltern Zeit ihres Lebens, dass sie einfach nur in den Untergrund gegangen wäre, aber ich teilte und teile ihre Ansicht nicht. Keine Ahnung, warum ich sie lieber als totes Opfer als als lebendige Täterin sehe? Es ist sowieso egal. Sie hat keine Spuren hinterlassen. Sie hat einen Rucksack mitgenommen und soweit wir das übersehen konnten, nur ein paar Klamotten. Ihr Handy lag auf ihrem Nachttisch. Für meine Eltern ein entscheidender Hinweis für ihre Untergrundtheorien.
Am Abend vor ihrem Verschwinden tauchte sie überraschend bei mir auf. Johanna saß wie meistens über ihren Akten und so setzten wir uns an den Küchentisch. Wir tranken ein Bier miteinander, was mich etwas wunderte, weil meine Schwester wenig trank und wenn, dann eher mal ein Glas Wein.
Wir stoßen miteinander an und plötzlich sagte sie „auf Djakery“, was mich fast aus den Socken haute, weil sie seinen Namen seit seiner Ermordung nicht mehr ausgesprochen hatte.
„Auf Djakery“, sagte ich.
Dann schwiegen wir wieder.
Irgendwann sagte sie mit einem kleinen Lächeln, dass sie vielleicht doch besser mit Jenny die Reiterhofserie hätte drehen sollen.
„Das ist Quatsch“, sagte ich. „Das war völlig ohne Substanz.“ Jennifer lachte. Sie lachte wirklich.
Johanna kam zu uns und fragte, „kann man mitlachen?“
„Ein alter Familienwitz, ohne Substanz und unerklärbar“, sagte Jennifer.
„Schade“, sagte Johanna, nahm sich einen Schluck von meinem Bier und liess uns wieder allein.
„Du hättest diesen Kitsch gar nicht drehen können, das war einfach nicht deine Bestimmung“, sagte ich, immer noch lachend.
Jennifer wurde auf einen Schlag sehr ernst. „Glaub bloß nicht so einen Scheiß“, sagte sie. „Du kannst dich immer entscheiden, ob du etwas tust oder nicht.“
„Es sei denn, das Schicksal hat etwas dagegen.“
„Du redest Scheiße“, sagte sie, „und du weißt das: Dieses Schicksalgelaber hat keinerlei Substanz“. Sie betonte das Wort wieder in der Art unserer Mutter, aber jetzt lachten wir nicht mehr.
Ich war niemals in meinem Leben so nah dran, die ganze Geschichte zu erzählen. Jennifer das Video zu zeigen. Den Pullover und die Pistole, aber dann hätte ich es auch Johanna erzählen müssen und wie hätte sie reagiert, wenn sie gewusst hätte, dass ich praktisch schon seit vielen Jahren auf sie gewartet hatte? Egal, denn ich habe es nicht erzählt: Zu verrückt, zu feige, zu was auch immer: Ich habe den Mund gehalten und Jennifer ist ein paar Minuten später gegangen. Sie hat mich umarmt und das letzte, was sie zu jemals zu mir sagte, war: „Pass auf dich auf.“
Kapitel 12
Die nächsten Tage waren die Hölle. Wir suchten nach einer Spur von Jennifer und als wir keine fanden, suchten wir nach einer Erklärung. Johanna und ich trafen uns mit den Resten der Widerstandsgruppe, aber die sagten nur, Jennifer wäre an dem letzten Abend sehr ruhig gewesen. Sie hätten eine ziemlich heftige Diskussion über die grundsätzliche Richtung des Widerstands gehabt und Jennifer wäre hundertprozentig für einen gewaltlosen Weg gewesen. Auch die Erinnerung an den Mord an Djakery hätte sie nicht umstimmen können. Sie hätte es nicht wirklich so ausgedrückt, aber jetzt mit ihrem Verschwinden, waren es eindeutig Abschiedsworte, die sie an die Gruppe gerichtet hätte. Meine Eltern waren der Meinung, dass genau das darauf hindeuten würde, dass Jennifer in den bewaffneten Kampf abgetaucht wäre, weil die Mitwisser natürlich genau das Gegenteil behaupten müssten, aber ich glaubte ihnen.
Aber warum war sie dann verschwunden? Es gab keine Erklärung. Für keines der möglichen Szenarien. Es gab nur das Verschwinden. Das riesige Loch, dass seitdem in unserer Familie existierte. Es gab keine Möglichkeit, dieses Loch zu füllen, keine irgendwie passende Art, damit umzugehen. Darüber zu schweigen war keine Lösung, obwohl wir auf Dauer eher dazu neigten. Aber die endlosen Diskussionen über die möglichen und unmöglichen Gründe ihres Verschwindens schmerzten nur und führten zu nichts. Meine Mutter gab Unmengen von Geld für Privatdedektive aus, aber keiner von denen brachte auch nur einen lausigen Hinweis zustande.
Ihr Zimmer blieb unberührt, bis meine Mutter in den 50er Jahren mit Mitte siebzig zuerst in ein Altenheim zog und kurz darauf verstarb. Mein Vater lebte noch ein paar Jahre länger, aber ich habe ihn in seinen letzten Jahren nur noch sehr selten gesehen. Jenny heiratete ein Jahr nach Jennifers Verschwinden, bekam zwei Kinder und arbeitete zeitweise sehr erfolgreich als Schauspielerin. Sie ist erst letztes Jahr verstorben und ich war kurz vor ihrem Tode noch bei ihr. Sie hatte wie man so schön dämlich sagt, einen guten Tod. Kurze aber schwere Krankheit und nach zwei Wochen war alles vorbei. Ihre Kinder waren bei ihr, ihr Mann und ich als ein merkwürdiger Schatten aus der Vergangenheit. In den letzten drei Tagen war sie nicht mehr ganz bei sich, sie erkannte uns nicht mehr und sprach nur noch wenig. Es dauerte etwas, bis ich kapierte, dass fast alle ihre Sätze an ihre Zwillingsschwester gerichtet waren: „Wo bist du?“ „Los, lass uns Kakerlakensalat spielen!“ „Du musst meinen Text abhören!“ „Ich kann mir den Unsinn nicht merken.“ „Wo bist du?“ „Wo bist du?“ Und dann ihr letzter klarer Satz: „Warst du glücklich?“
Ich habe genickt, als sie Frage nach dem Glück stellte. Ich saß an Jennys Bett, dachte an Jennifer und an Johanna und da habe ich genickt. Ja, ich war glücklich in dieser Zeit, in der soviel Schlimmes passierte. Ich war auch zuvor immer mal glücklich und auch später wieder. Also die Frage ist einfach idiotisch. Jeder ist glücklich. Jeder ist unglücklich. Also ja, ich war immer wieder ein glücklicher Mensch, aber ich war auch Zeit meines Lebens ein getriebener Mensch. Seit ich als 12 jähriger auf PLAY gedrückt hatte, war ich immer auf der Flucht vor dem, was ich über meine Zukunft wusste. Was ich über meine Zukunft zu wissen glaubte. Oder ich bewegte mich mit einer seltsamen Euphorie auf die Erfüllung meines Schicksals zu. Womit ich wieder bei Brandon Ford lande und es wird jetzt endlich Zeit, von unserem ersten Treffen zu erzählen.
Je länger ich mit Johanna zusammen war und wir unsere Glücksmomente inmitten der allgemeinen Katastrophe genossen, desto klarer wurde mir, dass ich dieses Glück verlieren würde: „Nein, Fritz, nein.“ Schon als 12 jähriger hatte ich kapiert, dass Johanna nicht wollte, dass Fritz auf Robert von Barkhausen schoss. Fritz war der überforderte Loser und Johanna war eher ein Opfer der Situation. Sie machte nur aus Liebe zu Fritz mit, so hatte ich mir das jahrelang erklärt. Je näher der Tag des Attentats kam, wirkte sie auf dem Video für mich so, als ob sie bei der ganzen Aktion nicht dabei sein wollte. Vielleicht hatte sie keine Ahnung, was Fritz, also ich, geplant hatte. Ich hatte ihr ja bis jetzt nichts gesagt und hielt für ausgeschlossen, dass ich ihr das Video zeigte. Sie würde mich innerhalb kürzester Zeit verlassen. Aber sie würde mich auch verlassen, wenn ich es ihr nicht sagte und sie trotzdem zu dem Treffen mit von Barkhausen in der Garderobe mitnehmen würde. Natürlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, wie ich dorthin kommen sollte, aber ich wusste, dass mein privates Glück mit Johanna auf einer Lüge aufgebaut war und spätestens am Tag X beendet wäre, an dem das Video zur Gegenwart werden würde, egal ob ich auf Von Barkhausen schiessen würde oder nicht.
Als das Jahr 2034 begann, war ich fast am Durchdrehen. Um mich herum veränderte sich die Welt in einem rasanten Tempo. Alle scheinbaren Sicherheiten drohten sich in Luft aufzulösen. Demokratie. Frieden. Wohlstand. Aber das interessierte mich damals nur sehr sehr peripher. Ich wachte morgens an Johannas warmen Körper geschmiegt auf und wusste, ich würde sie verlieren. Alles würde ich verlieren. Innerhalb von zwei Jahren würde ich zum Mörder werden – komischerweise konnte ich mir in dieser Zeit nicht vorstellen, dass der Schuss, der deutlich als Letztes auf dem Video zu hören war, nicht aus meiner Pistole stammte. Damals war ich mir sicher, dass die Garderobe in dem Moment, als das Video abbrach, gestürmt wurde und natürlich würde ich dabei getötet. Aber nicht ohne Robert von Barkhausen mit in den Tod zu nehmen. Johanna würde ebenfalls sterben. Weiter konnte ich nicht denken. Die namenlose Frau in dem von meiner Mutter gestrickten Maskensmileypulli spielte in meiner Phantasie keine Rolle.
Ich sitze jetzt 93 jährig im Luna Tower, also war meine Phantasie zumindest in diesem Punkt ziemlicher Blödsinn, aber zu Beginn des Jahres 2034 war das für mich die Realität. Genauso sichere Zukunft wie das Video und das klägliche Nachdenken, zu dem ich noch in der Lage war, drehte sich nur darum, wie ich diese Zukunft verhindern könnte. Noch einmal: Es kam für mich nicht in Frage, Johanna davon zu erzählen, weil sie mich für verrückt halten würde und zwar nicht im Sinne von ein bisschen durchaus auf sympathische Weise durchgeknallt, sondern im Sinne von psychotisch – verrückt. Er bildet sich ein, die Zukunft zu kennen. Er glaubt, ein Zeitreisender zu sein. Herr Doktor, sperren sie ihn weg. Pumpen Sie ihn mit Medikamenten voll. Er drückt immer auf einen kleinen schwarzen Kasten und behauptet, dann ein Video zu sehen. Er sieht es wahrscheinlich auch. Kann man ihm helfen? Elektroschocks? Psychopharmaka?! Am besten alles auf einmal. Und der Herr Doktor würde nicken und ich würde in irgendeiner Klinik für die ganz hoffnungslosen Fälle verschwinden.
Vielleicht wäre es besser so gekommen. Vielleicht war ich in diesem Sinne verrückt. Es ist nutzlos, darüber nachzudenken. Ich habe es nie darauf ankommen lassen. Ich habe das Video nie jemandem gezeigt.
Also gab es zwei Möglichkeiten: Ich war verrückt, dann würde nicht viel passieren, solange ich still hielt und mich von Von Barkhausen fern hielt. Oder die Zukunft meines Videos war meine Zukunft. Und die von Johanna. Und von Robert von Barkhausen und die der namenlosen Frau in dem Pulli. Dann hatte ich keine Chance. Ich würde alles verlieren und zum Mörder werden und selber sterben. Gemeinsam mit Von Barkhausen und Johanna.
Ja, ich weiß, dass habe ich gerade schon erzählt. Aber Anfang 2034 dachte ich diese Geschichte in einer Art Endlosschleife. Kein Ausweg. Nirgends. Keine Chance. Kein Entrinnen und was die schicksalshafte Endgültigkeit zementierenden Worte sonst noch herumflattern.
Alle paar Tage schaute ich mir wieder und wieder heimlich das Video an. Aber da gab es schon lange nichts mehr zu entdecken. Den Pullover zu verbrennen, hatte ich als Möglichkeit längst aufgegeben: Dann hätte eben jemand anderes einen identischen Pulli gestrickt und die Frau in dem Video hätte dieses Exemplar an und eben nicht das von meiner Mutter gestrickte. Entweder ich war verrückt oder das war die Zukunft. Als ich eines Nachts wieder an meinem Schreibtisch sass und den Player gerade wieder zu der Pistole ganz hinten in meine Schublade mit den Steuerunterlagen verschwinden lassen wollte, drückte ich plötzlich, ohne zu wissen warum, noch einmal auf den DONT PLAY Button: Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Da war die Lösung. Der Ausweg. Die einzige Chance auf eine andere Zukunft. Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka. Seit meinem sehr halbherzigen Versuch vor mehr als 10 Jahren, nach Sri Lanka zu reisen, hatte ich nie wieder an diese Möglichkeit gedacht. Ich hatte Brandon Ford aus reiner Gewohnheit alle halbe Jahre gegoogelt, aber er tauchte nach wie vor nicht im Internet auf. Also nicht im Zusammenhang mit Sri Lanka und dem 447 Luna Tower. Es gab nach wie vor den Golfspieler, ein Footballspieler dieses Namens tauchte irgendwann auf, es gab ein Autohaus in Florida und ein anderer Brandon Ford hatte Kochbücher geschrieben. Kochen wie Harry Potter und so etwas Beklopptes. Ich hatte schon vor Jahren an alle diese Brandon Fords etwas kryptisch formulierte Mails geschrieben, ich hätte Nachricht bekommen, dass ich sie kontaktieren sollte. Wenn Ihnen die Adresse 447 Luna Tower in Colombo, Sri Lanka etwas sagen würde, dann sollten Sie sich bitte bei mir melden. Ich würde mir Sorgen um meine Zukunft machen. Weder vom Golf – noch vom Footballspieler bekam ich eine Antwort. Das Autohaus schickte mir einige Zeit Newsletter mit phantastischen Gebrauchtwagenangeboten, nur der Kochbuchbrandon schickte mir eine kurze persönliche Antwort. Wenn ich mir Angst über die Zukunft machen würde, würde er mir seine Kürbispasteten ala Hermine empfehlen. Die würden mit ihrer süssen Zauberkraft sämtliche Sorgen in Windeseile in Luft auflösen.
Über diese Brandon Fords kam ich nicht weiter. Ich hatte auch schon in den 20 er Jahren alle Bewohner des 447 Luna Towers herausgefunden. Natürlich wohnte da kein Brandon Ford. Da konnte ich mir die Reise nach Sri Lanka sparen.
Erst im Jahre 2034, als ich spät nachts und ziemlich verzweifelt wieder auf den DONT PLAY Button drückte, wusste ich, dass die Lösung nur so zu finden war: Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Noch in der Nacht buchte ich für den übernächsten Tag einen Flug nach Colombo. Ich arbeitete damals schon einige Zeit für eine größere Biolädenkette, die die 4 Läden meiner ehemaligen Chefin aufgekauft hatte. Bio war zwar kein Wachstumsmarkt mehr wie die ganzen 20 er Jahre, aber als eine hochpreisige Nische funktionierten die Läden immer noch sehr gut. Ich hatte sehr viele Überstunden angesammelt und bekam zu meinem Erstaunen auch kurzfristig eine Woche Urlaub. Aber nur, wenn ich einem unserer Lieferanten, einer sehr exklusiven Bioteefirma im Hochland Sri Lankas einen Besuch machen würde. Ich sagte zu und erzählte Johanna beim Abendessen, dass ich kurzfristig geschäftlich nach Sri Lanka müsse. Johanna versuchte zu meinem Entsetzen sofort, sich die nächsten Tage freizuschaufeln, damit sie mich begleiten konnte, aber das scheiterte zum Glück an einem unaufschiebbaren Prozesstermin.
Also brachte sie mich am nächsten Tag zum Flughafen. Wir umarmten uns lange und ich war so verliebt wie ein das erste Mal die Wonnen der Liebe erlebender Teenager. Ich war mir sicher, dass ich Brandon Ford in Colombo treffen würde und dass nach diesem Treffen mein Schicksal ein anderes sein würde, ein sehr viel Glücklicheres. Um dem ganzen nur ein klein bisschen vorzugreifen: Die erste Annahme stimmte. Die zweite nicht.
Kapitel 13
Ich kam am späten Nachmittag in Colombo an und noch bevor ich in meinem Hotel eincheckte, fuhr ich zum 447 Luna Tower. Am Eingang des Hochhauses standen 2 Securityleute, denen ich erzählte, ich müsste unbedingt zu Mister Brandon Ford, der müsste hier wohnen. No, no Mister Ford in Luna Tower. Vielleicht hat er hier ein Büro? No, no Bureaus in Luna Tower. Only Appartements and Luxury Flats. And no, no Mister Brandon Ford. Aber Brandon Ford hätte mir den 447 Luna Tower als Kontaktadresse gegeben. No, no Mister Ford in Luna Tower. Ich war wegen dieser Auskunft nicht wirklich überrascht, meine Internetrecherchen hatten ja das gleiche ergeben. Die Hoffnung stirbt zuletzt, hatte ich wohl gedacht und war noch im Flugzeug voller Zuversicht gewesen. Aber dann stand ich vor dem Luna Tower und kam nicht einmal herein. Die beiden Securityleute waren sehr nett und sahen mir wohl meine Enttäuschung an. Im obersten Stockwerk gäbe es ein Restaurant mit einer phantastischen Aussicht. Vielleicht würde Mister Ford ja da arbeiten. Wenn ich wollte, würden Sie fragen, ob ich noch einen Tisch für heute abend bekommen könne. Natürlich wollte ich und ich bekam einen Tisch für 20.00. Also ab ins Hotel, frisch machen und wieder zurück zum Luna Tower. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber dafür in Raten. Das Essen war gut, die Aussicht wirklich schön, aber natürlich auch hier: No Mister Ford.
Und so ging es weiter: zwei Tage fragte ich in allen möglichen und unmöglichen Orten nach ihm: In Hotels und Restaurants, auf Ämtern und Botschaften, ich hing überall in der Nähe des Luna Towers Zettel mit meiner Handynummer auf, aber natürlich meldete sich niemand. Den dritten Tag verbrachte ich damit, wahllos amerikanisch oder englisch aussehende Touristen anzusprechen, ob sie vielleicht Brandon Ford seien oder ob sie einen Mann dieses Namens kennen würden. An allen Abenden ging ich ins Restaurant im Luna Tower und wartete auf ihn, aber gegen 22.00 am dritten Abend war mein letztes bisschen Hoffnung aufgebraucht: No Mister Brandon Ford in ganz Colombo.
Ich kratzte meine übriggebliebene Vernunft zusammen und mietete mir am nächsten Tag ein Auto und fuhr in die Berge, verbrachte einen schönen Tag auf der Teefarm unseres Lieferanten – natürlich fragte ich auch da nach Brandon Ford – mit demselben negativen Ergebnis, dann liess ich mir von meinen Gastgebern einen Vorschlag machen, was ich mit meinen restlichen zwei Tagen in Sri Lanka anfangen sollte und ganz klar, bei nur zwei Tagen gab es nur eine Möglichkeit: Ich sollte unbedingt den Adams Peak besteigen, einen über 2000 Meter hohen heiligen Berg, auf dem jeder gute Buddhist mindestens einmal gewesen sein muss. Auf der Spitze des Berges ist ein kleines Kloster, wo man Buddhas Fussabdruck sehen kann – für andere Religionen gehört der Fussabdruck anderen Heiligen. Nur 5 Stunden Fussmarsch über mehr als 5000 Stufen und mehr als einem Höhenkilometer bergauf. Man geht mitten in der Nacht los, um die Hitze des Tages zu vermeiden. „Und warum soll ich mir als Nichtbuddhist diese Strapaze antun?“, fragte ich meinen Gastgeber. Der erzählte mir zuerst etwas von dem Supersonnenaufgang und den Ausblick den man da oben hätte und als ich antwortete, dass ich für keinen Sonnenaufgang der Welt soviele Stufen bergauf stiefeln würde, sagte er und wirkte dabei sehr ernst: „Wenn du da hoch gehst, wirst du ein Jahr länger leben.“
„Wirklich? Ein Jahr länger?“, sagte ich, „länger als was?“
„Länger als das Schicksal es eigentlich für dich vorgesehen hat“, sagte er und lächelte jetzt.
Er sagte noch, seine Großmutter sei jetzt 90 und die würde seit zwanzig Jahren jedes Jahr da hochkraxeln, aber da hatte ich mich schon entschieden. Ich fuhr noch am selben Tag an den Fuss des Berges und machte mich um ein Uhr nachts auf den Weg.
Um es kurz zu sagen: Der Aufstieg war die Hölle. Es war kalt, es war unglaublich steil und ich war völlig außer Form. Die letzten Tage hatte ich wenig geschlafen. Der Jetlag, der Kampf mit meiner rapide schwindenden Hoffnung. Ich hatte im Restaurant des Luna Tower zuviel Gin Tonic getrunken, ich war zuviel durch Colombo gerannt, die letzten beiden Tage war ich zuviel durch den wahnsinnigen Verkehr Sri Lankas gefahren. Und jetzt diese endlosen Treppenstufen. Aber ein Jahr mehr leben, als das Schicksal es für mich vorgesehen hatte! Das hiess, ich würde das Attentat um mindestens dieses eine Jahr überleben und wenn ich es wie die Oma meines Gastgebers machen würde, würde ich Brandon Ford aber sowas von austricksen.
Ich weiß, dass klingt alles ziemlich bescheuert, aber so war ich zu diesem Zeitpunkt drauf. Wirklich kurz vor dem Durchknallen.
Ich kam pünktlich zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel an. Stellte mich in die Massen, die alle den Sonnenaufgang filmten. Wurde mindestens ein Dutzend Mal mehr oder weniger freundlich aus dem Handybild gewinkt. Irgendwann hatte ich es satt und verliess das Kloster und machte mich an den Abstieg, ohne Buddhas Fussabdruck gesehen zu haben. Nach ein paar Hundert Abwärtsstufen taten mir die Knie bestialisch weh. Ich setzte mich auf eine der Stufen, rieb mir das schmerzende Knie und stürzte mich so tief es überhaupt nur ging ins Selbstmitleid.
In diesem Moment zeigte mir mein Handy, dass es eine Nachricht empfangen hatte. Unbekannter Absender, es wurde nicht einmal eine Nummer angezeigt, aber ich wusste sofort, dass er es war:
You can't outsmart your fate, young Man, schrieb er: Du kannst das Schicksal nicht austricksen und dass ich morgen um 15.00 in den Pagoda – Tearoom in Colombo kommen soll. Unterschrieben hatte er nur mit seinem Vornamen: Brandon.
Kapitel 14
Ich war schon eine Stunde früher da. Der Laden sah mehr wie eine große Kantine aus, als wie ich mir einen Tearoom vorgestellt hatte. Es war leer. Ich setzte mich an einen Tisch im hinteren Bereich, von dem ich den Eingang beobachten konnte. Ich aß ein Reiscurry und trank eine Cola. Danach nahm ich einen Kaffee und ich hatte mir gerade einen zweiten geholt, als er das Lokal betrat. Wieder wusste ich sofort, dass er es war. Ungefähr 50 Jahre, ein drahtiger Typ, kurze, ursprünglich wohl etwas rötliche Haare. Dreitagebart. Ein Jeanshemd und eine Leinenhose. Und eine Sonnenbrille.
Er kam direkt an meinen Tisch und setzte sich, ohne zu fragen, mir gegenüber. Aus seiner Hosentasche holte er ein exakt meinem Videoplayer gleichendes schwarzes Abspielgerät. PLAY und DONT PLAY Button. Ein mattes Display. Sonst nichts.
Er sah mich an. Also seine schwarzen Brillengläser starrten mich an. Er schwieg. Ich ebenso. Manchmal scheint die Zeit still zu stehen. Das sagt man so einfach und es soll eigentlich nur heissen, dass man gerade sehr sehr wach ist. Dass ein Moment als wahnsinnig intensiv empfunden wird. Dass das Wollen verschwunden ist, der Atem von alleine ein und ausströmt. Und doch ist es natürlich nur eine Metapher: Die Zeit steht nicht wirklich still. Niemals.
Ich bin mir nicht sicher, weil ich nicht auf die Uhr geschaut habe, aber von dem Moment an, als Brandon Ford den Videoplayer auf den Resopaltisch gelegt hatte und mich seine schwarzen Brillengläser fixierten, stand die Zeit auf eine andere Art still. Auf eine wirklichere Art. Alle äußeren Geräusche waren verschwunden. Ich dachte nicht den Hauch eines noch so winzigen Gedankens. In dem Lokal waren kaum Menschen und ich habe nur Brandon Ford angesehen. Also habe ich nicht bemerkt, ob sich in diesem Zeitloch, wie ich es für mich nenne, noch irgendjemand bewegt hat. Ob nur ich und Brandon Ford in diesem Zeitloch waren oder das ganze Lokal? Oder ganz Colombo? Die ganze Welt?
Natürlich ist das verrückt. Das geht nicht. Man kann die Zeit nicht anhalten. Man kann nicht in die Zukunft sehen. Aber da lag so ein Videoplayer auf dem Tisch vor mir und ich wollte unbedingt wissen, was darauf zu sehen war. Das war mein erster bewusster Gedanke und damit war das Zeitloch verschwunden. Alles wieder wie wir es kennen. Geräusche. Gedankenmüll. Bewegungen. Alles normal.
Er lächelte. Ab dem Moment, an dem ich dachte, dass ich wissen will, was auf dem Videoplayer zu sehen ist, lächelte er. Ein durchaus freundliches Lächeln, wenn man mit einer pechschwarzen Brille freundlich lächeln kann.
„Also das funktioniert so“, sagte er, „du darfst mich verschiedene Sachen fragen. Aber nicht auf alle Fragen bekommst du Antworten. Du musst dich schon ein bisschen anstrengen. Keine naheliegenden Fragen. Zum Beispiel nicht, warum ich mit dir deutsch rede. Nichts, worauf du dir die Antwort eigentlich selber geben kannst. Natürlich keine intimen Dinge. Keine Frechheiten. Und vor allem nicht die eine, die endgültige Frage. Alles andere werde ich beantworten. Drei falsche Fragen und unser kleines Spiel ist vorbei. Die Frage, ob du das Video sehen darfst, ist gestattet, aber sie ist automatisch die letzte Frage. Also wie gesagt, streng dich an.“
Natürlich wollte ich fragen, ob ich verrückt bin? Aber war das nicht sehr naheliegend? Ob er wirklich existierte? Woher er die Zukunft kennt? Ob das Attentat in der Garderobe wirklich meine Zukunft ist? Ob gerade die Zeit still stand? Wer sind Sie? Wer sind Sie? Wer sind Sie?
Ich sagte nichts. Er ging mir plötzlich nur noch auf die Nerven. Egal wer er war. Ich war kaputt, meine Knie schmerzten wie blöde, ich war schon seit Tagen kurz vorm Durchdrehen.
„Hören Sie, Mister Ford, ich bin nicht hierher gekommen, um mit Ihnen dämliche Quizspielchen zu spielen“, sagte ich schließlich und versuchte wie ein richtig harter Bursche zu wirken.
„Das ist mir bekannt und solange Sie keine Fragen stellen, können wir auf dieses Spiel ja durchaus verzichten“, sagte er und sein Lächeln wurde noch einen Tick breiter.
„Ich bin hierher gekommen, weil ich glücklich bin“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
„Was verstehen Sie unter Glück?“
„Keine naheliegenden Fragen bitte“, sagte ich und versuchte genauso zu lächeln wie er.
„Verzeihen Sie bitte, Sie haben recht, das ist naheliegend, allerdings ist es letztendlich vielleicht durchaus eine wichtige Frage, wenn Sie über das Leben der Menschen nachdenken wollen. Sie können die Frage auch umformulieren, vielleicht verstehen Sie dann eher, wovon ich spreche: Auf was für ein Leben glauben Sie, einen Anspruch zu haben?“
„Ich möchte vor einem kleinen roten Zelt sitzen und mich mit meiner Freundin ohne Worte verstehen. Ich möchte im Sommer schwimmen gehen. Ich möchte morgens aufstehen und mich auf die Arbeit freuen und abends mit Freunden etwas unternehmen. Ein Bier trinken. Ins Kino. Ich möchte so schnell ich nur kann mit dem Fahrrad fahren. Ich möchte einfach mein Leben weiterleben, so wie es kommt.“
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche, aber das wollen Sie nicht. Nicht so wie es kommt, sondern in einer Kontiniutät, auf die Sie glauben, einen Anspruch zu haben.“
Ich weiß nicht, warum ich plötzlich an Jennifer denken musste, aber ich sagte: „Ich möchte meine verschwundene Schwester wiedersehen. Ich möchte wissen, ob sie noch lebt.“
„Ist das eine Frage an mich?“
Ich hatte Angst vor einer endgültigen Antwort, also schüttelte ich nur schnell den Kopf.
Ich schwieg wieder, um meine Fragen an ihn irgendwie sortiert zu kriegen. Denn mir war hundertprozentig klar, dass mit Brandon Ford nicht zu verhandeln war.
Während ich alle möglichen Fragen in meinem Kopf durchging und die allermeisten davon sofort wieder verwarf, passierte etwas Merkwürdiges, aber wieder bin ich nicht sicher, ob dass nur meine hyperempfindliche Wahrnehmung war oder, ob es wirklich passierte. Ich hatte das Gefühl, dass ich schrumpfte. Sehr langsam, nahezu unmerklich zog ich mich in mir zusammen. Gleichzeitig blieb die äußere Hülle unversehrt, so dass es niemand bemerken konnte. Meine Augen traten zurück, vielleicht einen halben Zentimeter, der Zwischenraum zur ursprünglichen Form war eindeutig wahrzunehmen, meine Hände verkleinerten sich, meine Füße, aber am deutlichsten spürte ich die Veränderung am Herzen. Es fühlte sich an, als ob es nur noch faustgroß war, eine kleine Faust, die zusehends schrumpfte. Es schlug und pumpte dünnes Blut durch meine immer enger werdenden Adern. Wahrscheinlich würde ich gleich als ein halber Zwerg vom Stuhl fallen und kollabieren.
„Ich erzähle dir etwas von mir“, sagte Brandon Ford und in dem Moment hatte ich meine ursprüngliche Form wieder. „Vielleicht beantwortet diese Geschichte einige deiner Fragen.“
Ich nickte, froh meine normale Größe wieder zu haben.
„Ich war vielleicht in dem Alter, als du das Video gefunden hast, die Nacht mit dem orangenen Mond“.
„Da war ich 12“, sagte ich.
„12“, sagte er und lächelte einen kurzen Moment vor sich hin. „Das ist bei mir ganz schön lange her, denn ich bin ein klein wenig älter, als du mich freundlicherweise einschätzt. Ich lebte mit meinen Eltern in Kalifornien, ganz in der Nähe des pazifischen Ozeans. Wir waren da nur ein paar Jahre, mein Vater versuchte sich in dieser Zeit als Profisurfer und meine Mutter als Schauspielerin.“
„Meine Mutter ist auch Schauspielerin“, sagte ich.
„Ich weiß“, sagte er und fuhr genervt fort, „bitte lass einfach diese unnötigen Zwischenbemerkungen. Ich weiß, wer du bist und ich weiß, dass du weisst, dass ich das weiß, also tu bitte nicht so naiv.“
Wieder begann ich zu schrumpfen und nickte nur.
„Und bitte hör auf, deine Minderwertigkeitsgefühle mir gegenüber in körperliche Symptome umzuwandeln.“
Augenblicklich hatte ich meine ursprüngliche Größe wieder.
„Deine Mutter hat mal 20 Jahre lang eine Ärztin in der Heideklinik gespielt“, sagte er, „über so etwas wäre meine Mutter wahnsinnig froh gewesen. Ihre künstlerischen Höhepunkte waren kurze Auftritte in Teenagerhorrorfilmen wie „Die Todesrochen von Santa Barbara“. Da durfte sogar mein Vater mitspielen und sie wurden beide schon nach 10 Minuten in der ersten Rochenattacke massakriert. Auch mein Vater schaffte es nie auch nur annähernd in die erste Liga der Surfer, aber diese Jahre am Pazifik waren wirklich toll. Wir hatten sehr wenig Geld, aber wir hatten uns und das Meer und wir waren – nun du würdest es wahrscheinlich – glücklich nennen.
Eines Abends waren wir zu dritt noch am Strand gewesen, wir hatten ein kleines Lagerfeuer gemacht und Stockbrot und Würstchen gegrillt. Die Sonne war blutrot im Meer untergegangen und meine Eltern waren ganz kuschelig geworden. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, sie könnten gerne schon voraus gehen – wir wohnten nur wenige Minuten entfernt – ich wollte noch ein bisschen sitzenbleiben und die Sterne und den Mond aufgehen sehen. Meine Eltern waren eher Hippies und ich war für mein Alter schon ziemlich erwachsen, also verabschiedeten sie sich schon bald. Mein Vater legte noch etwas Holz nach und meine Mutter gab mir ihren dicken Pullover, nur falls mir später kalt würde.
Ich wünschte den beiden viel Spaß und eine gute Nacht und zog den Pullover meiner Mutter an. Ich glaube, ich bin innerhalb von ein paar Minuten eingeschlafen und als ich wieder aufwachte, war das Feuer ausgegangen. Ein strahlender Sternenhimmel war über mir aufgetaucht. Es war wunderschön und ich war sehr einverstanden mit mir und der Welt um mich herum. Und dann verfärbte sich das Meer ganz langsam. War es gerade noch dunkel und sternenglitzernd gewesen, wurde es jetzt allmählich, aber mit gleich bleibendem Tempo orangenfarben. Ja, der Mond ging auf und er war sehr groß und sehr sehr orange.“
Brandon Ford machte eine kleine Pause in seiner Erzählung und ich sah mich in genau diesem Licht auf der Wiese in der Lüneburger Heide stehen.
„Ich sehe, du erinnerst dich“, sagte er und erzählte weiter. „Ich richtete mich auf und drehte mich dem Mond zu und in diesem Moment sah ich es zum ersten Mal.“ Er zeigte auf den Videoplayer vor sich, aber mir war auch ohne diese Geste klar, was er meinte.
„Ich war etwas verwirrt, weil es zu dieser Zeit noch keine Handys oder ähnliches gab, aber es sah genauso aus. Sie sehen alle so aus. PLAY oder DONT PLAY. Genau wie du, drückte ich auf PLAY und sah einen kleinen Film auf dem meine Eltern mich in einem blauen Auto mit einem Kennzeichen aus Kentucky vor einer Schule absetzten, auf der der Name Western Hills Highschool, Frankfort Kentucky stand. Es war ein flaches langweiliges Gebäude in einer langweiligen Straße in einer langweiligen Stadt in einem langweiligen Staat. Der Film zeigte nur ein, zwei Minuten wie das blaue Auto einen vierspurigen Highway lang fuhr, dann zweimal abbog und vor der Schule abbremste. Meine Eltern und ich stiegen aus. Ich sah nur unwesentlich älter aus, als ich damals war und schien ziemlich schlecht gelaunt zu sein. Meine Eltern wünschten mir einen schönen ersten Schultag, umarmten mich beide, stiegen sofort wieder in das Auto und fuhren weg. Ich schaute dem blauen Auto einen Moment nach und drehte mich dann in die Richtung, wo man die Kamera vermuten musste. Ich schaute genau in die Kamera. Ungefähr fünf Sekunden, dann hörte der Film auf. Ab diesem Moment war mein Leben, wie ich es bis dahin kannte, zu Ende.
Schon eine Woche später hörte ich wie meine Eltern in einem scheinbar unbeobachteten Moment über den bevorstehenden Umzug nach Frankfort, Kentucky sprachen und 6 Wochen später stand ich vor der Western Hill Highschool und starrte in die Richtung einer nicht vorhandenden Kamera, denn soviel kann ich dir verraten, diese Videos werden nicht aufgenommen. Sie existieren einfach. Und noch eins kann ich dir verraten, ohne dass du eine Frage verbrauchen musst: Die Zukunft ist nicht dein Feind. Sie ist nur eine andere Form von Gegenwart.“
Brandon Ford machte eine Pause. Oder er war fertig mit seiner Geschichte. Da er sich nicht bewegte, wenn er nicht sprach, konnte ich einen möglichen Unterschied nicht erkennen. Ich war wie erschlagen. Es ist lange her, aber ich weiß noch genau, dass es das war, was ich fühlte: irgendjemand hatte einen dicken Stein genommen und ihn mir auf den Kopf gehauen. Also schwiegen wir wieder. Aber dieses Mal stand die Zeit nicht still. Ich versuchte, wieder zu mir zu kommen. Den Stein von meinem Schädel zu rollen.
„Hast du wirklich gar keine Fragen?“, sagte er nach einer langen Weile. „Oder bist du nicht mutig genug?“
Damit erwischte er mich. Ich wollte mutig sein. Quatsch, ich war mutig. Dass ich hier mit ihm sass, dass ich überhaupt nach Colombo geflogen war, bewies meinen Mut. Ich erklärte ihm das mit ziemlich vielen Worten, in die ich auch einiges ihn Beleidigendes einstreute. Ich sei nicht gekommen, um seine dämliche Kindheitsgeschichte zu hören und Ähnliches. Leider steigerte ich mich ziemlich in diese Richtung hinein und beendete mein sinnloses, aber irgendwie befreiendes Geschwafel damit, dass er sich nicht so aufplustern solle, mit seiner dämlichen Sonnenbrille, was er denn von mir denken würde, dass würde mich überhaupt nicht beeindrucken und dann wiederholte ich den vorletzten Satz: „Was denken Sie denn von mir?“
„Ich denke, du bist selbstverliebt, du bist ängstlich und du nimmst dich viel zu wichtig“, sagte er und lächelte wieder.
„Wer sind Sie?“ Die Frage war mir einfach so rausgerutscht. Ich wollte sie ja von Anfang an stellen, aber ich befürchtete, dass sie zu den falschen Fragen gehörte. Eine auf die es von ihm keine Antwort gab. Und so war es auch.
„Ich habe gesagt, keine naheliegenden Fragen. Also bleiben nur noch zwei.“
Und dann wurde sein Lächeln richtig breit. „Ich will mal nicht so sein und trotzdem antworten, aber es bleibt bei nur noch zwei Fragen. Du wolltest wissen, wer ich bin?“
Ich nickte.
„Mein Name ist Brandon Ford. Ich bin Amerikaner. Du kennst ein bisschen was aus meiner dämlichen Kindheit. Ich lebe seit vielen Jahren abwechselnd hier in Sri Lanka oder ich bin weltweit unterwegs. Geschäftlich unterwegs. Und damit du keine Frage nach der Art meiner Geschäfte stellst: Ich handle mit Informationen. In ziemlich großem Stil.“
Als er Informationen sagte, tippte er kurz auf den Videoplayer vor sich, als ob ich nicht selbst darauf gekommen wäre, welche Art von Informationen er meinte.
Ich wurde langsam wirklich wütend. Ich fand ihn herablassend, er behandelte mich wie einen kleinen Jungen und das ging mir schon auf den Geist, als ich noch ein kleiner Junge war. Also drehte ich jetzt richtig auf. „Ach so, sie handeln mit Informationen! Das heisst, ich darf noch dafür bezahlen, dass sie mein Leben zerstören, sie arroganter alter Sack. Ich habe nichts bei Ihnen bestellt und ich wäre sowas von froh, wenn Sie Ihre beschissene Zukunft wieder zurücknähmen. Nehmen sie ihre verdammten Informationen“ - natürlich tippte ich bei diesem Wort ihn nachmachend auf den Videoplayer - „und verschwinden Sie aus meinem Leben. Gehen Sie zurück nach Frankfort, Kentucky.“
Jetzt lachte er.
Und natürlich regte mich das erst richtig auf.
„Finden Sie das komisch, Sie alter Sack?“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, wusste ich es. Falsche Frage. Naheliegend. Und ein bisschen frech. Und genau das sagte er mir.
„Sie haben nur noch eine falsche Frage. Denken Sie lieber etwas nach als nur ihre kleinteilige Wut an mir auszulassen. Und um auch diese Frage zu beantworten: Ja, ich finde das komisch, ich alter Sack. Ich finde Sie komisch. Diese Angst, die Sie ohne sich umzuschauen, auf den Abgrund zutreibt. Sie hätten mir drei vernünftige Fragen stellen können. Sie hätten drei Antworten bekommen, aber Sie echauffieren sich lieber in kleingeistigen Beleidigungen. Ich habe Sie nicht gezwungen auf Play zu drücken. Das haben Sie schon ganz alleine entschieden. Aber Sie wollen die Folgen dieser Entscheidung nicht annehmen. Sie fliegen einen halben Tag hierher, in der eigentlich völlig absurden Hoffnung, mich zu treffen, damit ich Ihnen die Folgen Ihrer Entscheidung korrigieren kann. Aber Sie trauen sich nicht einmal diese Frage zu stellen und bitte, tu'n Sie es nicht. Die Frage können Sie sich ebenfalls selbst beantworten. Ich handele nur mit Informationen, ich verändere Sie nicht oder stelle Sie gar her. Ich bin nur eine Art geschäftstüchtiger Postbote. Und Sie sind ein viel zu kleiner Fisch, als dass ich mich normalerweise mit Ihnen befassen würde.“
Er machte wieder eine Pause. Ich dachte fieberhaft nach. Die Frage, warum er sich trotzdem mit mir befasste, lag auf der Hand. Es war eine Einladung, diese Frage zu stellen. Aber war die Antwort nicht naheliegend? War Sie zu intim? Ich wollte unbedingt das Video auf dem Player sehen. Und wenn Brandon Ford diese Frage nicht gefiel, dann würde er es mir niemals zeigen. Aber ich musste diese Frage stellen.
„Warum sind Sie hier?“, sagte ich und war hundertprozentig sicher, dass unsere Unterredung damit beendet sein würde.
„Weil mich jemand darum gebeten hat“, sagte er und fuhr gleich darauf fort, „die Frage wer das gewesen ist, ist leider zu intim. Normalerweise sind die Dinger so programmiert“ - wieder zeigte er auf den Player vor sich, „dass sie meinen Namen und die Kontaktadresse nur abspielen, wenn du als erstes auf den DONT PLAY Button drückst, aber in der Frühphase der Massenproduktion gab es ein paar Fehler. Dein Exemplar gehörte leider dazu.“
„Danke“, sagte ich.
„Wofür?“, wollte er wissen.
„Sie beantworten viel mehr als ich frage.“
„Sie erinnern mich an mich selbst. Damals in Frankfort Kentucky. Ich war sehr wütend. Viele Jahre lang, aber das wird jetzt wirklich zu intim. Haben Sie sonst noch Fragen?“
Ich dachte nicht mehr nach, ob ich etwas falsch machen könnte. Ich fragte einfach, was mir in den Sinn kam.
„Ich möchte Sie um etwas bitten: Bitte geben Sie mir einen Beweis, dass ich nicht verrückt bin.“
„Ist das wirklich Ihre Sorge?“
„Ja“, sagte ich ohne zu zögern.
Brandon Ford schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt gleich 16.00. Gehen Sie in ihr Hotel. Nehmen Sie eine Dusche und ruhen Sie sich ein bisschen aus. Dann gehen Sie heute Abend auf den Peetah Markt. Das ist nicht weit von hier am Strand. Da sind sehr viele Leute. Ein bisschen touristisch, aber ganz nett. Bleiben Sie mindestens solange, bis Sie den Beweis sehen.“
„Danke“, sagte ich wieder. „Darf ich noch eine Frage stellen?“
„Aber sicher.“
„Würden Sie bitte einmal ihre Sonnenbrille abnehmen?“
„Das ist eine wirklich überraschende Frage und ich will Ihrer Bitte gerne nachkommen, obwohl es auf Dauer vielleicht etwas -“, er machte wieder eine seiner langen Pausen, „entschuldigen Sie bitte, dass ich solange nach dem richtigen Wort gesucht habe, aber ich möchte Ihnen keine unnötige Angst machen...“
„Was ist das richtige Wort?“
„Noch eine gute Frage: Wenn ich die Brille abnehme, werden wir uns anschauen. Wir werden uns sehr lange in die Augen schauen und das könnte – ich betone den Konjunktiv, etwas gefährlich werden. Und nein, die Frage auf welche Art gefährlich ist nun wirklich viel zu intim.“
Noch eine Pause. Aber dieses Mal nur kurz.
„Soll ich die Brille jetzt abnehmen?“
„Ja“, sagte ich.
Und dann sagte er die Sätze, die ich schon am Anfang meines Berichts zitiert habe:
„Wenn man einen Menschen ansieht, also wirklich ansieht, nicht nur hin – und gleich wieder weg – denn dann sieht man nur sich selbst und davon auch nur die Oberfläche – also wenn man den anderen wirklich betrachtet und man genau so betrachtet wird – und das für eine lange Zeit – und lang, das heißt immer etwas länger als das, was einem eigentlich schon lang vorkommt – also wenn man jemanden auf diese Art für eine wirklich lange Zeit anschaut, dann - verändert sich die Welt.“
Und nahm die Sonnenbrille ab. Er hatte braune Augen. Und wir sahen uns sehr lange an.
Ich spürte im ersten Moment keine Veränderungen, aber nach einer gewissen Zeit spürte ich etwas Merkwürdiges: Ein leichtes Ziehen. Über den Augen, in der Mitte meiner Stirn. Und dann hörte ich Geräusche. Als ob jemand eine Treppe hinuntergeht. Eine metallene Wendeltreppe. Klipp Klapp. Sehr langsam, aber stetig stieg jemand in mir herab. Vielleicht 50 Stufen, dann wurde es wieder still. Mehr war nicht, aber das war real.
Die Veränderungen kamen erst sehr viel später. Und ich empfinde sie als heftig, aber nicht wirklich gefährlich. Obwohl, vielleicht doch. Aber dann für ihn. Für Brandon Ford.
Ein paar Sekunden, nachdem es in meinem Kopf still geworden war, setzte er seine Brille wieder auf.
„Sind Sie gerade in meinem Kopf eine Treppe herunter gegangen?“, fragte ich ihn.
„Schade“, sagte er, stand abrupt auf und steckte den Player ein, „ich hatte Sie für einen intelligenteren Fragesteller gehalten.“ Damit ging er los.
„Werde ich bei dem Attentat sterben?“, schrie ich ihm in einer Lautstärke hinterher, dass alle Menschen in dem Lokal zu uns beiden schauten. Er blieb nicht stehen und zuckte nur im Gehen mit den Schultern, als ob ihm nichts auf der Welt egaler sein konnte.
Ich rannte hinter ihm her und holte ihn auf der Strasse ein. Er blieb zu meiner Überraschung einfach stehen.
„Werde ich Sie noch einmal wiedersehen?“, fragte ich. Jetzt war schon alles egal.
„Sie sind ganz schön hartnäckig“, sagte er. „Und das Video“ – er holte den Player aus seiner Hosentasche, „wollen Sie wahrscheinlich auch noch sehen, oder?“
„Aber sicher“, sagte ich.
„Ich hätte die Brille nicht abnehmen sollen, ich habe ja gesagt, es ist gefährlich“, sagte er und lächelte mit einem Anflug des Bedauerns.
„Also Frage eins, die zentrale Frage nach Ihrem Tod. Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Das ist nicht vorgesehen und bitte nicht fragen, warum nicht? Oder von wem nicht vorgesehen? Es gibt einfach keine Videos vom Ende. Bei niemandem. Ist mir noch nie untergekommen und du kannst mir glauben“, duzte er mich plötzlich, „ich habe sehr sehr viele von den Dingern gesehen.
Zweite Frage, nach dem Wiedersehen und frag mich nicht, warum ich auch das noch beantworte: Ja, wir werden uns wiedersehen.“
„Das freut mich“, sagte ich und meinte das auch so. „Warum haben Sie mir so viel mehr Fragen beantwortet, als Sie ursprünglich wollten?“
„Habe ich das?“, fragte er zurück.
„Ja. Das haben Sie.“
„Und ich glaube, ich habe dir das schon gesagt: Du erinnerst mich ein wenig an mich selbst, als ich jünger war. Also eine gewisse sentimentale Identifikation.“
„Was meinen Sie damit?“
„Nun ja, ich mag mich. Du erinnerst mich an mein jüngeres Ich, also glaube ich, dich zu mögen.“
Und damit hielt er den Player vor mich und ich drückte auf den PLAY Button.
Es war ein sehr kurzes Video. Es zeigte Johanna, wie sie mich in Hamburg vom Flughafen abholte. Sie sah sehr glücklich aus. Sie fragte mich, wie der Flug war und überhaupt die Reise, ob ich mich erholt habe? Ich sagte gar nichts. Ich umarmte sie nur. Drückte sie fest. Ich konnte mein Gesicht dabei nicht sehen. Dann lösten wir uns voneinander und sie zeigte mir etwas auf ihrem Handy. „Hast du das gesehen, das muss gestern in Colombo gewesen sein. Haben Sie sogar in den Nachrichten gezeigt. Hast du je einen solchen Mond gesehen?“
Ich nickte und dann sagte ich „ich war dabei, das war gestern Abend am Strand“. Damit war das Video beendet.
„Damit wäre das mit dem Verrücktsein ja auch noch geklärt“, sagte Brandon Ford, steckte den Player wieder in seine Hosentasche, überquerte die Straße und verschwand in einer kleinen Gasse.
Ich kehrte in mein Hotel zurück, nahm eine Dusche und legte mich nackt und ohne mich abzutrocknen auf das Bett. Zwei Stunden später machte ich mich auf den Weg zum Peetah Markt. Ich trank an einem der unzähligen Stände einen frischen Mangosaft und setzte mich dann an den Strand. Eine halbe Stunde später tauchte der größte Mond, den ich je gesehen hatte, aus dem Meer auf. Riesig und in einem knalligen Orange leuchtend. Alle Menschen um mich herum waren wahnsinnig aufgeregt und zückten ihre Handys, um dieses Bild um die Welt zu schicken. Ich wurde zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz ganz ruhig. Ich war nicht verrückt.
Kapitel 15
Am nächsten Abend landete ich in Hamburg. Johanna holte mich wie geplant vom Flughafen ab. Und jetzt wollt ihr wissen, wie es ist, eine Situation in der Gegenwart zu erleben, die man in der Vergangenheit schon als Zukunft gesehen hat? Die Frage zu formulieren ist das einzig Schwierige daran. Das Erlebnis ist von einer überraschenden Einfachheit. Es ist ein bisschen wie Theater spielen. Da hat man seinen Text gelernt oder eine Geste und versucht sich dann vor Publikum möglichst entspannt daran zu erinnern, was man in den Proben verabredet hat. So hat mir das meine Mutter sehr oft erklärt. Nur als ich Johanna am Flughafen in die Arme nahm und sie mir dann den orangenen Riesenmond vom Strand zeigte, war es genau das, was in diesem Moment geschehen musste. Es fühlt sich nicht anders an als jede andere vergleichbare Situation. Nur dass ich schon wusste, dass sie gleich sagen würde: „Hast du das gesehen, das muss gestern in Colombo gewesen sein. Haben Sie sogar in den Nachrichten gezeigt. Hast du je einen solchen Mond gesehen?“
Und ich wusste, was ich zu sagen hatte, aber nicht, weil ich wie im Theater diesen Text gelernt hatte, sondern weil es der Satz war, der in diesem Moment gesagt werden musste: „Ich war dabei, das war gestern Abend am Strand.“ Ich hätte das auch gesagt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich das sagen würde.
Jeder Mensch kennt doch so etwas wie die berüchtigten Dejavu – Erlebnisse. Dass man weiß, was jemand gleich sagen wird, weil man denkt, dass man diesen Moment schon genauso erlebt hat. Aber das ist ja nur so, weil so viele Momente inclusive aller Träume sich so ähneln. Niemand erlebt ein und dasselbe genau gleich ein zweites Mal. Nicht einmal ich. Denn einen Moment auf einem Video zu sehen und selbst in diesem schon unzählige Mal gesehenen Moment in der Realität zu agieren ist etwas sehr sehr Unterschiedliches. Nur der Unterschied zwischen einem x – beliebigen Moment aus der Realität, den man neu und ohne Dejavu – Gedanken erlebt und einem Moment, von dem man weiß, dass er passieren wird, der ist gar nicht so groß.
Das Merkwürdigste war, dass ich den Moment, als ich ihn real erlebte, überhaupt nicht merkwürdig fand. Ich freute mich, Johanna in den Arm zu nehmen. Ich liebte sie, weil sie wegen des Mondvideos so begeistert war und meinen Kommentar sagte ich mit einem gewissen Stolz, weil laut den Handynachrichten, der orangene Mond der größte Mond gewesen sei, der jemals beobachtet worden war: „Ich war dabei, das war gestern Abend am Strand.“
Johanna wollte wissen, ob ich mich denn ein bisschen erholt hätte. Und ich sagte wahrheitsgemäß, dass ich sehr kaputt sei. Ich erzählte ihr von Colombo, von der Fahrt zu unserem Teelieferanten in den Bergen, von meinem Aufstieg auf den Adams Peak und meinen immer noch leicht schmerzenden Knien. Ich erzählte von der ganzen Reise. Nur von Brandon Ford erzählte ich nichts. Es ging nicht. Als wir zuhause noch ein Glas Wein tranken, hätte ich fast davon angefangen. Für einen Moment schien es mir ganz einfach. Ich wollte schon den Videoplayer holen, ihr den kurzen Film zeigen und dann von Brandon Ford anfangen, aber plötzlich hörte ich wieder jemand die metallene Wendeltreppe in mir herabsteigen. Klipp Klapp. Nur ein paar Stufen. Dann war es wieder still. Und ich beschloss ihr lieber nicht davon zu erzählen. Es würde so oder so genau so kommen, wie ich es schon so oft gesehen hatte. Und ich würde überleben. Brandon Ford hatte gesagt, wir würden uns noch einmal begegnen. Und ich war mir auf eine komische Art sicher, dass diese Begegnung nicht in den nächsten 12 Monaten passieren würde.
Also lebte ich mein Leben so, als ob ich keine Ahnung hätte, was in von Barkhausens Garderobe passieren würde. Und das war das Beste, was ich tun konnte. Ich arbeitete. Ich lebte glücklich mit Johanna zusammen. Ich traf mich hin und wieder mit Jasmin und meiner Mutter. Wir suchten immer noch nach einem Lebenszeichen von Jennifer. Von Barkhausen war Präsident von Zentraleuropa, die Wirtschaftskrise hatte den Abbau der Demokratie beschleunigt und in einigen Ecken der Welt begannen neue, aber zunächst noch kleinere Kriege.
Ich versuchte, mich irgendwie anständig zu verhalten, aber mir wurde immer klarer, dass das nicht reichte. Immer öfter ertappte ich mich dabei, dass ich mir eine radikalere Lösung ausmalte. Und dieses Szenario führte unweigerlich dazu, dass ich mit der in meinem Schreibtisch versteckten Pistole in von Barkhausens Garderobe gehen und ihn zwingen würde, seinen Rücktritt und freie Wahlen bekannt zu geben. Ich hatte keinerlei Ahnung, wohin das führen sollte. Natürlich würde es die freien Wahlen niemals geben und von Barkhausen würde trotzdem Präsident bleiben. Es sei denn, ich schoss ihn nieder.
Seit meinem Treffen mit Brandon Ford hatte ich keine moralischen Bedenken mehr wegen meines Schusses. Ich ging inzwischen sogar davon aus, dass ich ihn erschiessen würde. In dem Moment, an dem seine Spezialeinheit die Garderobe stürmen würde, würde ich abdrücken. Er hatte es mehr als verdient. Schon wegen Djakery. Und da waren so viele Tote mehr. Ich war mir ja auch sicher, dass Jennifer inzwischen tot wäre und bei dieser Vorstellung konnte ich es kaum erwarten, von Barkhausen zu töten. Es würde niemandem helfen, wie er in Endlosschleife sagte. Es würde keinen Sinn machen. Aber es wäre mehr als gerecht. Und ich würde überleben.
Nur Johannas Rolle bei der ganzen Sache verstand ich nicht. Sie kämpfte auf ihre Weise gegen von Barkhausen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig bei einer Aktion wie der meinen mitmachen würde und ich war mir sicher, dass ich sie niemals dazu zwingen würde. Also warum war sie da? Warum filmte sie von Barkhausens Rücktrittsrede und weinte die ganze Zeit dabei?
Der Sommer 2035 war wunderschön. Die Kriegsgefahr war gerade wieder ein klein wenig zurückgegangen und die Wirtschaftskrise betraf wie immer eher die sowieso schon ärmeren Länder. Wenn man mitten in Zentraleuropa lebte wie wir, konnte man immer noch ein paar schöne Tage genießen. Natürlich war es wie fast jedes Jahr zu warm, aber die Abende waren wahnsinnig toll. Johanna und ich machten eine Fahrradtour zur Mecklenburgischen Seenplatte. Schliefen im Zelt, paddelten und schwammen jeden Tag in einem anderen See. Eines Abends machte ich ihr, ohne lange darüber nachgedacht zu haben, einen Heiratsantrag und sie sagte Ja. Wir stellten uns vor, im nächsten Sommer in dieser Gegend zu heiraten.
Natürlich kam es nie zu dieser Hochzeit, denn im nächsten Sommer waren wir beide im Gefängnis.
Kapitel 16
Brandon Ford hat gesagt, dass die Zukunft nicht der Feind ist, sondern nur eine andere Art von Gegenwart. Und die Zukunft, von der ich jetzt erzählen werde, ist inzwischen schon über ein halbes Jahrhundert Vergangenheit. Ich weiß schon lange, warum Johanna bei der ganzen Aktion dabei war. Da war ja noch eine vierte Person. Ihr erinnert euch, die auf dem Video nicht so richtig zu erkennen war. Eine Frau undefinierbaren Alters, nicht besonders groß, die meinen inzwischen schon uralten Maskensmileypullover trug. Um es kurz zu machen, sie hiess Barbara, sie lebte in Berlin und war eine alte Freundin von Johanna. Sie kannten sich seit dem Kindergarten. Sie war Maskenbildnerin und arbeitete beim Fernsehen. Sie besuchte uns Ende Oktober 2035 in Hamburg und die Nächte waren schon ziemlich kalt. Wir sassen auf unserem Balkon und sie fror etwas. Ich holte ihr einen Pulli und ohne darüber nachzudenken, nahm ich den Maskensmileypulli ganz unten aus dem Schrank. Ich wusste in diesem Moment noch nicht, dass sie die 4. Person war, weil ich ihr Gesicht auf dem Video ja nicht erkennen konnte. Aber vielleicht hatte ich ja so eine Ahnung. Ich brachte den Pulli auf den Balkon und Barbara war begeistert. Sie lachte sich über das Smiley mit der Maske kaputt und zog ihn an. Er war ihr in der Tat viel zu groß, aber sie wollte sich nicht mehr von ihm trennen. Natürlich habe ich ihn ihr geschenkt und ich schwöre, dass sie mir erst eine halbe Stunde später erzählt hat, dass sie nächste Woche Robert von Barkhausen für eine politische Sendung schminken würde. Nächste Woche. Noch eine Woche, bis die Zukunft endlich Gegenwart werden würde.
In den nächsten Minuten erinnerten wir uns gemeinsam an die Coronazeit am Anfang der 20er Jahre und waren uns schnell einig, wieviel lieber es uns jetzt wäre, wir würden wie durch einen Zauber wieder in der Pandemie stecken, als in den unzähligen sehr viel dramatischeren Krisen unserer Zeit. Was hätte man damals besser machen können, besser machen müssen, damit wir heute nicht so tief in der Scheiße stecken würden? Und natürlich führte uns diese Frage zu der viel entscheidenderen Frage, was man tun müsste, um aus dieser Scheiße wieder rauszukommen. Was wir tun müssten. Ob man nicht viel viel radikaler denken müsste. Radikaler handeln. Und ich schwöre noch einmal, dass nicht ich unser Gespräch in diese Richtung gelenkt habe.
In meiner Erinnerung gingen die wirklich radikaleren Szenarien von Barbara aus, aber vielleicht will ich mir Johanna nicht einmal in der Vergangenheit als eine im Wortsinn über Leichen gehende eiskalte Rächerin vorstellen.
Sie erzählte ihrer Freundin an diesem Abend die Geschichte von Djakerys Ermordung und Jennifers anschließendem Verschwinden so eindringlich, als wäre sie dabei gewesen. Nun ja, sie hatte das schon mehrfach in den Prozessen geschildert und sie war eine gute Anwältin. Barbara bat sie irgendwann damit aufzuhören. „Sonst kann ich nicht anders als nächste Woche ein Rasiermesser in einer Schubalde des Schminktisches zu verstecken und Von Barkhausen damit die Kehle durchzuschneiden.“
Einen Moment schwiegen wir alle drei.
Dann fragte Johanna, ob sie denn ernsthaft denke, dass sie zu so einer Tat überhaupt fähig wäre. Einem Menschen die Kehle durchzuschneiden?!
Barbara schwieg noch einen Moment, dann lachte sie und sagte: „Nee, das kann ich wohl nicht.“ Und lachte noch einmal und dieses Lachen wirkte traurig wie ein kleiner grauer Teich im November.
Wir verließen kurz darauf den Balkon und wechselten das Thema. Kurz vor dem Schlafengehen fragte uns Barbara sehr unvermittelt, ob uns Georg Elser ein Begriff sei. Mir sagte der Name nichts, aber Johanna kannte ihn: er hatte im November 1939, also kurz nach dem Beginn des zweiten Weltkrieges ein gescheitertes Attentat auf Hitler und die gesamte Führung der Nationalsozialisten gemacht.
Sie hätte vor kurzem einen uralten Film über den Typen gesehen, sagte sie. Ein toller Film über eine echt irre Geschichte: Hitler wäre 13 Minuten vor der Explosion aus dem Lokal abgehauen und sie würde sich fragen, wie sich wohl die Welt verändert hätte, wenn der Elser seinen Zeitzünder etwas schlampiger gebaut hätte und die Bombe ein paar Minuten früher explodiert wäre? Hitler wäre tot gewesen. Hätte das die Geschichte verändert? Und dann lachte sie wieder ihr kleines, trauriges Novemberlächeln.
Ganz ehrlich: Ich habe mir nichts dabei gedacht. Solche Gespräche über die richtigen und effektivsten Formen des Widerstands führten wir damals öfter. Natürlich immer rein theoretisch. Es gab wohl immer noch nicht genug Leidensdruck, als dass wir es ernsthaft bedacht hätten und so hatten wir es meistens am nächsten Tag schon wieder vergessen. Nun gut, ich hätte mir Gedanken machen müssen, denn ich wusste, dass Barbara bei meinem Attentat dabei war, aber sie verkroch sich in einer Ecke und in meinem Pullover. Es war mein Attentat, auch wenn ich eine Woche vorher immer noch keine Ahnung hatte, wie es wirklich dazu kommen sollte.
Kurz vor dem Schlafengehen ging ich noch einmal an meinen Schreibtisch und holte den Videoplayer aus seinem Versteck. Er steckte unter den Steuerunterlagen in der untersten Schublade, zusammen mit der Pistole. Ich hatte beides zusammen gegriffen und die Pistole vor mir auf den Schreibtisch gelegt. Dann schaute ich mir zum hunderttausendsten Mal das Video an. Und zum ersten Mal seit langer Zeit entdeckte ich etwas Neues. Oder ich glaubte, etwas Neues zu entdecken: Die Frau, die sich am Bildrand in meinen Pullover verkroch, hatte etwas in der Hand. Es war beim besten Willen nicht zu erkennen, was es genau war, aber wenn ich eins und eins zusammenzählte, dann konnte es nur ein Rasiermesser sein. Ein altmodisches Teil, zum Aufklappen, schwarz, klein, dünn und sicher sehr scharf. Bisher war es nur ein Strich für mich gewesen, vielleicht ein Bleistift oder nur ein unscharfer Streifen auf der Aufnahme. Aber diese Frau hatte jetzt einen Namen: Barbara, Johannas Kindergartenfreundin. Sie war Maskenbildnerin und würde von Barkhausen in einer Woche für einen Fernsehauftritt schminken. Und sie hatte gerade darüber gescherzt, von Barkhausen mit einem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden.
Soll sie es machen, dachte ich. Er hat es mehr als verdient und vielleicht würde dadurch die Geschichte zum Besseren verändert.
Es würde in der Garderobe passieren, in der Barbara von Barkhausen für den Fernsehauftritt schminken würde. Aber ich würde nicht nach Berlin fahren. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich keine Sekunde gezögert und hätte es getan, aber Johanna war dabei und ich riskierte damit ihr Leben. Nein, nicht mit mir. Barbara muss ihr Attentat schon alleine durchführen. Ich würde diese Art von Zukunft verweigern. Es würde nicht passieren, was auch immer Brandon Ford davon halten würde.
Ich nahm die Pistole in die Hand und erst in diesem Moment bemerkte ich Johanna, die mich sehr erschrocken anschaute.
„Was hast du da?“, fragte sie.
„Eine Pistole“, sagte ich.
„Wozu hast du eine Pistole? Was soll der Scheiß?“
Klick Klack. Klick Klack.
Ich glaube, das war meine letzte Chance, Johanna die ganze Geschichte zu erzählen, aber ich habe es nicht getan.
„Die hat mir Jennifer gegeben. Kurz bevor sie verschwunden ist. Sie hatte sie sich besorgt, nachdem sie aus dem Gefängnis freigekommen ist. Ich musste vorhin daran denken, als Barbara von dem Attentäter erzählt hat.“
„Warum hast du mir das nie gesagt?“, fragte Johanna und setzte sich neben mich. Ich hatte immer noch die Pistole in der Hand. Der Player lag mit den PLAY und DONT PLAY Buttons nach oben auf dem Schreibtisch.
Es wäre sehr einfach gewesen, die Wahrheit zu sagen. Das weiß ich jetzt. Das weiß ich seit vielen Jahren. Aber ich wusste es nicht in dieser Nacht.
Klick Klack. Klick Klack.
„Jennifer wollte es nicht. Es war ihr irgendwie peinlich, dass sie an Rache und Mord gedacht hat.“
„Ist die geladen?“
Ich nickte.
„Arme Jennifer“, sagte Johanna und dann fragte sie mich, ob sie die Pistole einmal in die Hand nehmen dürfte. Ich gab sie ihr. Und dann war es sehr still. Johanna streckte den Arm aus und zielte in die Dunkelheit.
„Das ist ekelhaft“, sagte sie.
Und ich nickte noch einmal.
Johanna gab mir die Pistole zurück. Ich legte sie zusammen mit dem Player in die Schublade.
„Das sind so beschissene Zeiten“, sagte Johanna und umarmte mich lange.
Klick Klack. Klick Klack.
Es ist leicht, einen Menschen zu verachten, weil er gelogen hat. Aber wenn ich Verachtung verdient habe, dann nicht wegen dieser kleinen Lüge. Ich habe alles dafür getan, das Attentat und die damit verbundene Zukunft zu verhindern. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, zu verweigern. Alles außer Johanna oder irgendjemand sonst, die Wahrheit über den Player zu erzählen. Aber ich glaube, selbst dann wäre es so gekommen, wie es nun mal gekommen ist. Johanna hat recht, es ist ekelhaft, mit einer Pistole auf Menschen zu zielen, aber es gibt so unendlich viele ekelhafte Dinge, die Menschen anderen Menschen antun.
Ich lag in dieser Nacht lange wach und lauschte Johannas ruhigem Schlafatem. Ich liebte diese Frau. Ich würde ihr diese Zukunft nicht zumuten. Da war ich mir in dem Moment todsicher. Ja, so sagt man doch, wenn man ganz ganz ganz sicher meint.
Klick Klack. Klick Klack. Je sicherer ich war, das Attentat und die Zukunft einfach zu verweigern, desto öfter hörte ich Brandon Ford in mir die Treppe hinunterlaufen, denn inzwischen war es mir klar, dass er es war, der diese Geräusche verursachte. Klick Klack, Klick Klack. Sehr leise und mehr war nie zu hören. Als ob er immer wieder dieselben Stufen der Wendeltreppe herunterstiefelte. Irgendwann müsste er doch mal unten angekommen sein. Aber es hörte nicht auf. Und er sprach nicht mit mir. Vergesst nicht, ich war nicht verrückt, ich hörte keine Stimmen und ich bildete mir auch keine Geräusche ein. Da war dieses Klick Klack. Immer wieder. Leise. Sehr ausdauernd und unglaublich enervierend.
Aber da konnte Brandon Ford so lange im Kreis Abwärtsspiralen laufen wie er wollte, ich würde die Zukunft verweigern. Ich würde nicht nach Berlin fahren.
Dafür fuhr Johanna. Drei Tage bevor Barbara ihre Arbeitsverabredung mit von Barkhausen hatte. Sie hätte beruflich in Berlin zu tun, erklärte sie mir und außerdem hätte sie das Gefühl, dass es Barbara nicht gut ginge. Ihre Freundin hätte schon öfter in ihrem Leben so Phasen durchgemacht und Johanna machte sich Sorgen, dass Barbara gerade wieder ziemlich tief in so einer Phase stecken würde. Mit 14 hätte sie sogar mal versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ich fragte Johanna, ob ich mitkommen sollte, aber sie meinte, dass sei eher eine Freundinnensache und außerdem hätte ich doch zu arbeiten.
Ja, ich hatte zu arbeiten und außerdem würde ich sowieso nicht nach Berlin fahren.
Klick Klack, Klick Klack. Die nächsten drei Tage war Brandon Ford in einer Art Dauereinsatz und ich konnte mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren.
Dann kam der Tag, an dem es nun endlich passieren sollte. Oder beziehungsweise eben nicht passieren sollte. Weil ich mich gegen diese Zukunft entschieden hatte. Ich hatte die Nacht kaum geschlafen. Wegen des ewigen Klick Klack und meiner Aufregung. Um kurz nach 12.00 Uhr rief mich Johanna an. Ob ich sofort nach Berlin kommen könne? Barbara hätte einen Zusammenbruch gehabt. Lange geheult und gezittert und erst vor einer halben Stunde wäre sie plötzlich sehr ruhig geworden und hätte ihr gestanden, dass sie sich entschieden hätte, von Barkhausen heute in seiner Garderobe zu töten. Sie wäre wirklich entschlossen. Wir müssten sie irgendwie davon abhalten und Johanna alleine schaffe das einfach nicht. Ich sagte ihr, ich würde sofort losfahren.
Und ich verließ auch wirklich innerhalb von ein paar Minuten das Haus und hatte, ohne darüber nachzudenken, genau die Klamotten an, die ich in dem Video anhatte. Jeans, ein blaues Hemd, ein grüner Pullover und meine Lederjacke. Gut, so lief ich fast jeden Tag herum. Aber die Pistole hatte ich nicht mitgenommen.
Ich war erst ein paar Meter unterwegs, als Johanna nochmal anrief. „Nimm die Pistole mit“, sagte sie.
„Warum das denn?“
„Vielleicht können wir Barabara nur aufhalten, wenn wir ihr drohen. Keine Ahnung. Nimm sie einfach mit.“
Wenn ich es wirklich ernst gemeint hätte, mit meinem „die Zukunft verhindern“, dann hätte ich Johanna aber sowas von widersprochen und die Knarre in keinem Fall mitgenommen. Klick Klack, Klick Klack. Ich lief so schnell ich konnte, zurück in die Wohnung und steckte die Pistole ein. Ich hatte wohl doch keine andere Wahl.
Kapitel 17
Ich kam um kurz nach drei in Berlin an und nahm mir ein Taxi, um zu Barbara zu kommen, die im Wedding wohnte. Das Taxi war gerade erst losgefahren, als mich Johanna wieder anrief. Völlig aufgelöst. Barbara sei verschwunden. Sie wären die ganze Zeit in der Küche gesessen, hätten Tee getrunken und geredet. Barbara hätte wieder völlig normal gewirkt und gelacht und gesagt, dass sie das mit dem von Barkhausen ermorden natürlich nicht ernst gemeint hätte. Johanna sagte ihr, sie hätte aber verdammt ernst geklungen und dass ich auf dem Weg nach Berlin sei, weil sie sich so Sorgen machen würde, aber Barbara beruhigte sie und dann meinte sie, sie müsse mal auf Klo und natürlich kam sie nicht wieder und es hatte ein wenig gedauert, bis Johanna kapiert hatte, dass Barbara nicht auf der Toilette war, sondern schon vor ein paar Minuten die Wohnung verlassen hatte. Sie hätte von außen abgeschlossen. Johanna kam nicht heraus. Und ich nicht hinein.
Ich versuchte, die Tür aufzubrechen, aber das ist nicht so einfach wie in den Fernsehkrimis. Eintreten ging genausowenig. Barbara wohnte im dritten Stock in einem Altbau und die Tür war alt, aber sehr massiv. Schlüsseldienste weigerten sich überhaupt zu kommen, sie dürften die Tür sowieso in keinem Fall öffnen, weil weder ich noch Johanna in der Wohnung gemeldet waren. Bei einem Sonderfall wie unserem müssten wir die Polizei benachrichtigen. Das kam für uns aber nicht in Frage, weil wir nicht erklären konnten, beziehungsweise wollten, warum Barbara Johanna eingeschlossen hatte.
Und so verging die Zeit.
Wir unterhielten uns aufgeregt flüsternd durch den Briefschlitz in der Tür, um nicht zu sehr bei den Nachbarn aufzufallen.
Von Barkhausens Fernsehauftritt war um 19.00 Uhr. Also würde er irgendwann vorher von Barbara geschminkt werden. Wollten wir das noch verhindern, mussten wir sie also bis spätestens 17.00 oder 17.30 gefunden haben. Jetzt war es 15.25 Uhr. Natürlich hatte Barbara ihr Handy ausgestellt. Sie wollte das durchziehen. Mit einem Rasiermesser, genau wie sie es vor einer Woche bei mir auf dem Balkon mit ihrem kleinen traurigen Lachen das erste Mal gesagt hatte. Und ein Rasiermesser hatte sie auf meinem Video in der Hand. Aber diese Zukunft drohte jetzt nicht, Gegenwart zu werden. Es drohte ein Blutbad. Egal ob sie es schaffen würde, von Barkhausen zu töten. Konnte man das überhaupt mit einem Schnitt? Und wären da nicht die ganze Zeit irgendwelche Sicherheitskräfte? Die würden sie wahrscheinlich sofort erschiessen, wenn Sie das Messer ziehen würde.
Ich schlug vor, die Polizei anzurufen und eine Warnung auszusprechen, dass von Barkhausen heute im Fernsehsender ermordet werden sollte, aber Johanna meinte, dann wäre Barbaras Leben für immer zerstört und unseres gleich mit, weil sie natürlich rausfinden würden, wer das war. Alle Handyanrufe wurden doch gespeichert, schon lange war nichts mehr anonym.
Johanna sagte, wir müssen Sie erwischen, bevor sie zur Tat schreiten kann und dann bringen wir sie erstmal weit weg und sie wird sich beruhigen, sie wird zu sich kommen.
„Vielleicht“, flüsterte ich zurück, „ist sie ja ganz bei sich, so wie Georg Elser wusste, was er tat, als er die Bombe bastelte.“
„Bitte hilf mir, das geht doch nicht um von Barkhausen, das geht um Barbara, sie ist meine beste Freundin, sie darf das einfach nicht machen, sie darf ihr Leben nicht wegschmeissen.“
Und da fing Johanna an zu weinen. Das erste Mal an diesem Tag, an dem sie noch so viele Tränen vergiessen sollte.
Man kann einen Menschen nicht durch einen Briefschlitz trösten. Nicht, wenn dieser Mensch so verzweifelt ist wie Johanna in diesem Moment.
Ich sagte ihr, sie solle von der Tür weggehen und dann warf ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Fünf Mal, bis meine Schulter so weh tat, dass ich damit aufhören musste.
Johanna rief mir zu, ich solle nach draussen gehen. Es sei ja nur der dritte Stock.
Ich rannte hinunter und ging in den Hof. Johanna kletterte schon aus dem Küchenfenster. Sie hatte Bettlaken aneinandergeknotet und liess sich ohne zu zögern, daran herunter.
Der dritte Knoten löste sich, als sie ungefähr 4 Meter über der Erde schwebte. Sie fiel, ich schrie, sie merkwürdigerweise nicht und sie landete direkt in meinen Armen. Beziehungsweise auf mir drauf, weil ich sie nicht wirklich festhalten konnte. Wir gingen beide zu Boden. Ihr war außer einem ziemlichen Schreck nichts passiert. Ich hatte ein gestauchtes Handgelenk und kaputte Knie, aber was machte das schon. Johanna rannte los, ich humpelte hinterher. An den Fenstern standen Nachbarn. Die einen riefen uns nach, ob alles in Ordnung sei? Die anderen hatten uns mit ihren Handys gefilmt und tippten jetzt wie blöd darauf herum.
Wir brauchten etwas Zeit, bis wir ein Taxi hatten und fuhren um kurz vor 17.00 vor dem Sendegebäude vor. Wir rannten rein, aber schon am Empfang kamen wir nicht weiter. Kein Zutritt ohne Sendeausweis. Wir müssten zu Barbara König, Maskenbildnerin bei der Sendung „Berlin Mitte“.
„Da könnten sie nicht mal mit Ausweis rein, da ist doch heute unser Präsident“, sagte der Pförtner lachend.
Johanna fragte, ob man Frau König eine Nachricht zukommen lassen könne, aber nicht einmal das war möglich.
„Das ist Sicherheitszone, da kommt niemand rein und da geht niemand raus. Also bis nach der Sendung. Da müssen Sie sich jetzt einfach gedulden.“
„In Frau Königs Wohnung ist eingebrochen worden“, sagte Johanna und sprach mit Ihrer besten Schlußpladoyerstimme, „wir haben die Einbrecher sozusagen auf frischer Tat ertappt, deshalb sehen wir auch ein bisschen derangiert aus“, sie lächelte sehr gewinnend und schaltete dann plötzlich auf einen ernsten und traurigen Ton, „aber die kleine Tochter von Frau König ist dabei schwer verletzt worden, sie ist jetzt in der Charité im künstlichem Koma.“ Ich stieß Johanna am Ellenbogen an, damit sie nicht zu sehr übertrieb, aber sie weinte jetzt. Das zweite Mal an diesem Tag. Es sah genauso echt aus wie auf dem Video, aber natürlich hatte Barbara nicht mal Kinder.
„Ich will mal sehen, was ich tun kann“, sagte der Pförtner. Wählte eine Nummer und sagte „Gib mir mal Studio B“ und zog sich zum weiteren Telefonieren in den hinteren Teil seines Büros zurück. Ich schaute mich währenddessen um, ob wir auch ohne Erlaubnis eine Chance hatten, zu Studio B zu kommen. Laut der Beschilderung lag das im 1. Stock, aber sowohl an den Fahrstühlen, wie am Treppenaufgang standen Securitymänner.
Nach einer halben Minute kam der Pförtner wieder zurück, drückte sein Bedauern aus, „wie ich gesagt habe, da ist jetzt nichts zu machen, aber wenn die Kleine in der Charité ist, dann ist sie ja bestens versorgt.“
Und dann bat er uns den Eingangsbereich zu verlassen.
Die nächsten zwanzig Minuten verbrachten wir in größter Aufregung auf der Straße vor dem Fernsehgebäude. Ich rannte einmal um das ganze Gebäude herum, ob irgendwo eine Chance war, durch einen Parkplatzeingang oder einen Keller oder eine Feuerleiter hineinzukommen, aber da war einfach nichts und es standen überall Sicherheitsleute herum.
Ich rauchte und wurde langsam ruhig. Es gab keine Chance. Wenn Barbara von Barkhausen umbringen wollte, dann würde sie das tun. Es war ihre Entscheidung. Wir konnten sie nicht davon abhalten. Wir hatten damit nichts zu tun.
Ich machte die Zigarette aus und nahm Johanna in den Arm. Meine Schulter und meine Knie schmerzten, aber das würde alles vorbeigehen. Barbara war einsam. Sie hatte sich entschieden. Warum auch immer. Warum hatte Elser seine Bombe gebastelt? Wir konnten nichts machen. Barbaras Zukunft war ein schneller Tod oder ein langes Leben im Gefängnis, bis die inzwischen wieder eingeführte Todesstrafe vollstreckt werden würde. Johannas und meine Zukunft war eine andere.
„Wir müssen jetzt da rein“, sagte Johanna. „Gib mir die Pistole.“
„Bist du wahnsinnig?“, sagte ich.
„Wir müssen doch etwas machen.“
„Die knallen uns ab, bevor wir auch nur halb die Treppe hochgelaufen sind.“
Und dann fing Johanna erneut an zu weinen. Das dritte Mal. Sie weinte um ihre beste Freundin. Johanna und ich hielten uns aneinander fest und ich hörte ihr Herz sehr schnell schlagen. Und dann hörte ich noch ein anderes Geräusch, aber das war in mir und ich merkte an Johannas ausbleibender Reaktion, dass sie es nicht hören konnte: Klick Klack, Klick Klack.
Es waren nur ein paar Schritte, die Brandon Ford auf seiner Wendeltreppe hinabstieg und doch veränderte sich im selben Moment alles.
Ich sah es zuerst an Johannas Haaren. Da war ein orangener Schimmer und bevor ich mich umdrehte, wusste ich, was diesen Schimmer verursachte. Der Mond ging über Berlin auf und wenn er in Colombo schon riesig gewesen war, dann war es jetzt mindestens das Doppelte. Vollkommen unnatürlich, gigantisch groß und wahnsinnig schnell erschien er und tauchte die gesamte Szenerie in sein orangenes Licht. Alle Menschen drehten sich in die Richtung des Mondes und staunten, riefen ahh und ohh oder schwiegen ehrfürchtig. Und machten sich gegenseitig auf den Mond aufmerksam. Johanna nahm plötzlich meine Hand, drückte sie und ging mit mir im Schlepptau los. Rein in das Sendegebäude, vorbei am Pförtner, an den Sicherheitsleuten, die alle an die Türen und Fenster gelaufen waren, um den Mond anzustarren. Wir nahmen die Treppe rauf, auch im 1. Stock dasselbe Bild. Niemand kümmerte sich um uns. Johanna zeigte auf ein Schild, Maske und ein Pfeil darunter. Wir gingen einen kleinen Gang mit 5 Türen lang, öffneten alle, die ersten drei Räume waren leer, im vierten waren Barbara und Von Barkhausen. Sie waren allein. Er sass vor dem Schminkspiegel und sie stand hinter ihm, hielt seinen Kopf in den Nacken gedrückt und presste das Rasiermesser an seine Kehle.
Johanna machte die Tür zu und ich sah, dass ein Schlüssel von innen steckte. Ich drehte ihn um und schloss uns ein. Allzu lange würden die Sicherheitsleute nicht den Mond anstarren, wenn er auch noch so groß war.
„Barbara, leg das Messer weg“, sagte Johanna, aber ihre Freundin reagierte nicht darauf.
Sie schien versunken in einer Welt, die niemand außer ihr betreten konnte.
„Tu das nicht“, versuchte Johanna es erneut. „Das ist er nicht wert.“
Es war nicht zu erkennen, ob Barbara uns erkannt hatte, ob sie Johannas Worte hörte oder gar den Sinn verstand. Sie drückte das Messer in die Haut des Präsidenten von Zentraleuropa und bewegte sich keinen Millimeter.
„Hören Sie auf ihre Freundin“, sagte von Barkhausen und seine Stimme klang erstaunlich furchtlos, aber auch er bewegte sich nicht.
„Halten Sie den Mund“, sagte Johanna und zu Barbara „Gib mir das Messer“.
Sie streckte ihre Hand aus und dann bewegte sich niemand mehr.
Ein Handy klingelte. Es gehörte von Barkhausen. „Nicht rangehen“, sagte ich, obwohl er keine Anstalten gemacht hatte. Ich nahm das Handy und schaltete es aus. Dann legte ich es zurück auf den Tisch.
Wir waren für eine kleine Ewigkeit alle vier wie eingefroren. Johanna mit der zu ihrer Freundin ausgestreckten Hand. Die mit dem Rasiermesser an von Barkhausens Kehle. Ich mit einem Abstand von etwa anderthalb Metern daneben. Eine kleine Ewigkeit. Wahrscheinlich nur ein paar Sekunden. In der alles in der Schwebe schien. Barbara konnte den tödlichen Schnitt setzen. Sie konnte Johanna das Messer geben. Von Barkhausen konnte in Ohnmacht fallen. Ich konnte die Pistole ziehen und alle über den Haufen schiessen.
Aber wir warteten. Auf die Erlösung. Auf die Zukunft, wie sie von wem auch immer irgendwann einmal gedacht war. Und dann fiel mir die Lampe ein, die auf dem Video deutlich blendend zu sehen war. Sie war aus. Und ich schaltete sie an und beendete damit die kleine Ewigkeit. Die Zeit rastete ein und die Zukunft wurde ohne größere Probleme zur Gegenwart.
Als erstes bewegte sich Barbara. Erstaunt schaute sie zu der gerade angegangenen Lampe. Dann zu mir. Dann zu Johanna. „Johanna“, sagte sie, „was machst du hier?“
„Dich von einem ganz blöden Fehler abhalten“, sagte Johanna und fing an zu weinen. Die Tränen, die ich schon seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Wegen ihrer Freundin. Wegen des Elends der Welt. Wegen allem auf einmal. Aber niemals weil ich sie gezwungen hatte bei dieser Aktion mitzumachen. Oder gar aus Liebe zu mir.
Jetzt blickte Barbara auf das Rasiermesser, dass sie immer noch von Barkhausen an die Kehle drückte. Sie schien überrascht zu sein. Sie ließ das Messer sinken.
„Meinst du das?“, sagte sie zu Johanna und in diesem Moment stieß von Barkhausen Barbara mit großer Kraft von sich weg. Sie landete genau dort, wo sie auf meinem Video gesessen hatte. Das Messer hatte sie noch in der Hand.
„Lassen Sie sie in Ruhe“, sagte Johanna zu von Barkhausen.
„Ich danke Ihnen“, antwortete der.
„Das habe ich nicht für Sie getan“, sagte Johanna. „Meinetwegen könnten Sie hier verbluten, wie so viele Ihrer Opfer.“
„Ich habe nie jemanden verbluten lassen“, sagte er.
Ich habe Johanna niemals so wütend gesehen wie in diesem Moment. Sie machte einen Schritt auf mich zu und bevor ich begriff, was sie wollte, hatte sie die Pistole aus meiner Jackentasche gezogen und auf von Barkhausen gerichtet. „Sie und ihre Politik haben Tausende unschuldige Menschen verbluten lassen. Sie haben sie erschossen oder meinetwegen erschiessen lassen und hingerichtet und sonstwie massakriert. Sie sind für soviel Elend verantwortlich, dass ich nur noch kotzen könnte. Warum habe ich meine Freundin daran gehindert, sie umzubringen. Sagen Sie mir das?!“ Die ganze Zeit sprach sie mit fester Stimme, aber die Tränen liefen ihr wie kleine Bäche aus den Augen.
Von Barkhausen beantwortete die Frage nicht. „Das wird Ihnen nicht helfen, das wird niemandem helfen.“
Ich wusste, er würde diesen Satz gleich noch einmal sagen, aber vorher musste ich an die Pistole kommen.
„Lass das, Johanna“, sagte ich und streckte meine Hand nach ihr aus. „Du hast selbst gesagt, das ist ekelhaft.“
„Ja, ist es auch, aber irgendwas müssen wir doch machen. Wir können ihn doch nicht einfach so davon kommen lassen.“
„Sie werden vor allem selbst nicht davon kommen“, sagte von Barkhausen. „Meine Leute werden in wenigen Momenten diese lächerliche Tür aufbrechen und dann sterben sie alle drei.“
„Aber vorher werden Sie noch eine kleine Rede halten“, sagte ich und nahm Johanna einfach die Pistole ab und richtete sie sofort wieder auf von Barkhausen.
„Johanna, nimm dein Handy, nimm auf, was er sagt und poste es gleich“, sagte ich „und dann verschwinden wir von hier.“
Dann erklärte ich dem Präsidenten, dass er seinen Rücktritt erklären und freie Wahlen verkünden sollte. Ich sagte ihm seinen ganzen beschissenen Text vor. Natürlich konnte ich ihn auswendig, sooft wie ich ihn gehört hatte. Johanna nahm immer noch weinend ihr Handy und filmte ihn und damit wurde die Zukunft endgültig zur Gegenwart und eine halbe Minute später schon zur Vergangenheit.
„Fangen Sie endlich an“, sagte ich, wissend, dass genau dieser Satz jetzt gesagt werden musste.
„Es wird Ihnen nicht helfen, es wird niemandem helfen“, antwortete von Barkhausen, immer noch lächelnd. Ich konnte den Satz wirklich nicht mehr hören. Und sein selbstgerechtes falsches Lächeln macht mich sicher in meinem Handeln. Ich werde ihn erschiessen, dachte ich und fing an zu zählen.
Rückwärts von zehn beginnend. Ich ärgerte mich, aber obwohl ich wusste, dass er den Text gleich fehlerfrei aufsagen würde, wurde meine Stimme von Zahl zu Zahl immer dünner. Johanna hielt das Handy hoch und weinte noch immer.
Barbara verkroch sich immer weiter in den Pullover.
Als ich bei drei angekommen war, fing der Präsident an: „Ich, Robert von Barkhausen, Präsident der Republik Zentraleuropa erkläre hiermit meinen Rücktritt von allen Ämtern. Ich tue das freiwillig“ - natürlich wurde sein Lächeln noch einen Tick breiter - „und aus tiefster Überzeugung, dass damit der Weg zu einem dauerhaften Frieden möglich sein wird. Als letzte Amtshandlung hebe ich das Verbot aller politischen Parteien auf und ordne demokratische Neuwahlen zum 1. März 2036 an.“
An dieser Stelle hörte er auf und sagte noch einmal ganz leise zu Johanna: „Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das. Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Johanna schaute zu mir.
Ich sagte, „Lad das Video hoch“.
Dann standen wir alle ein paar Sekunden sehr still. Wie eingefroren. Nur Barbara versuchte noch mehr in dem Pulli zu verschwinden.
Plötzlich hörten wir den kurzen sehr hohen Ton und eine Sekunde später das mechanische Klicken. Dreimal kurz hintereinander. Vielleicht Schalter, die umgelegt wurden. Ich denke das wirklich.
Von Barkhausen hörte auf zu lächeln. „Tut mir wirklich leid, Johanna“, sagte er und ich wusste, gleich wird der Raum explodieren und Johanna wird „Nein, Fritz, nein!“, schreien und damit endete alles. Mehr wusste ich nicht. Ich hatte zum ersten Mal seit meinem 12. Lebensjahr eine Zukunft vor mir, die nicht bestimmt war. Von der ich nichts, aber auch gar nichts wusste. Dieser Gedanke machte mich unendlich glücklich.
Klick Klack, klick klack.
Und dann drückte ich ab.
BUCH 2
Kapitel 1
Ich weiß nicht, wie das anderen Menschen im Gefängnis geht. Wie viel sie darüber nachdenken, ob sie wirklich schuldig sind. Nicht im Sinne der jeweils geltenden Gesetze, deren Vollstreckung sie ins Gefängnis gebracht hat, sondern mehr, ob sie verantworten können, was sie getan haben. Vielleicht sogar, ob sie verantworten wollen, was sie getan haben. Klingt vielleicht, als ob das doch mehr oder weniger dasselbe ist. Verantworten können oder wollen?! Für mich ist das ein riesiger Unterschied. Ich wollte und will verantworten, dass ich auf von Barkhausen geschossen habe. Damit habe ich, wie man so schön sagt, meinen Frieden. Das dämliche ist eher, dass ich ihn verfehlt habe. Aus einer so kurzen Entfernung. Ich stand mit der Pistole höchstens einen Meter von ihm entfernt. Da sollte man einen großen Mann doch irgendwie treffen. Aber nichts da. Nur ein winziger Kratzer an der Schulter. Aber andererseits war dieser Schuss das erste Mal, dass ich auf einen Menschen geschossen habe. Dass ich überhaupt geschossen habe, wenn man ein einziges Mal mit meinem Vater auf einem Jahrmarkt abzieht. Da war ich elf und habe auch keine Rose und keinen laufenden Keiler getroffen.
Nein, womit ich keinen Frieden hatte und auf eine durch den langen Abstand bedingte abgeschwächte Art immer noch hadere, sind die Dinge, die ich durch den Lauf der Ereignisse ebenfalls zu verantworten habe, die ich aber niemals wirklich wollte.
Ich wollte nicht, dass Barbara sich in dem Moment, in dem die Garderobe gestürmt wurde, die Pulsadern aufschnitt und innerhalb der nächsten Minuten verblutete.
Ich wollte nicht, dass Johanna ebenfalls ins Gefängnis kam.
Ich wollte nicht, dass Jasmin und meine Eltern auch für mehrere Tage als mögliche Mittäter im Untersuchungsgefängnis landeten.
Ich wollte nicht mal, dass der Pförtner und drei der Sicherheitsleute ihren Job verloren, weil sie sich durch den orangenen Mond ablenken liessen und wir deshalb in das Gebäude und schließlich in die Garderobe kamen.
Ich weiß, für alle diese Dinge gab es gute Gründe, die nichts mit mir zu tun hatten:
Barbara war schon über Jahre suizidgefährdet gewesen und sie war von sich aus auf die Idee gekommen, von Barkhausen umzubringen.
Johanna hatte darauf bestanden, dass ich die Pistole mitbringe und sie hat sie selbst auf von Barkhausen gerichtet. Sie hatte nur 10 Jahre bekommen, weil sie Barbara dazu gebracht hatte, das Rasiermesser sinken zu lassen.
Meine Eltern waren meine Eltern. Jasmin war meine kleine Schwester. Aber sonst gab es keine Verbindung zu der Tat. Deshalb kamen sie ja auch bald wieder frei.
Und der Pförtner und die Sicherheitsleute hatten einen Scheißjob und konnten froh sein, dass sie ihn los geworden sind.
Aber sie hatten sich durch den orangenen Mond ablenken lassen und damit waren wir wieder bei mir, beziehungsweise dem wahren Schuldigen oder um die harmlose sprachliche Variante zu benützen, dem wahren Verantwortlichen für all dies: Brandon Ford.
Oder doch wieder ich. Brandon Ford handelte mit Informationen. Und er hatte mir Informationen zukommen lassen. Und ich hatte zwar mehr oder weniger ernsthaft versucht, mich entgegen diesen Informationen zu verhalten, aber letzten Endes habe ich ermöglicht, dass alles so gekommen ist, wie es auf dem Video zu sehen gewesen war. Ich hatte mir die Pistole besorgt. Ich hatte sie mitgenommen. Ich war mit Johanna in die Garderobe gegangen. Ich, ich, ich.
Oder eben doch Brandon Ford. Brandon Ford. Brandon Ford. Auf Dauer neigte ich dazu, die Verantwortung bei ihm zu lassen. Er hatte mir diese Informationen gegeben. Und es war unausweichlich, dass alles so kam. Damit war ich fein raus. Für den Schuss übernahm ich die Verantwortung. Und damit war es auch irgendwie in Ordnung, im Gefängnis zu sitzen. Lebenslänglich hatten sie mir gegeben. Eigentlich verwunderlich, denn die Todesstrafe war ja schon wieder eingeführt. Die offizielle Begründung war, dass auch ich dafür gesorgt hatte, dass Barbara das Messer sinken liess. Johanna und ich hätten zuerst ein Attentat auf den Präsidenten verhindert. Das war strafmildernd und auf eine merkwürdige Art wurde auch anerkannt, dass ich Johannas Bedrohung beendet hatte, um das Video mit der Rücktrittsrede aufzunehmen. Aber ich hatte geschossen. Vorbei geschossen, aus einem Meter Abstand. Lebenslänglich. Nach 21 Jahren, drei Wochen und vier Tagen kam ich wieder frei.
Das war im Jahr 2056. Von Barkhausen war von Leuten aus der eigenen Partei zum Rücktritt gezwungen worden und mit sehr sehr langsamen Schritten wurden die schlimmsten Gesetze rückgängig gemacht und Mitte der 80er Jahre war Deutschland, wie es dann wieder hiess, erneut eine Art von Demokratie.
Aber 2035 war es eine Diktatur und von Barkhausen sass durch das Attentat noch fester an der Macht als vorher. Auch etwas, was ich nicht wollte. Und wofür ich niemals die Verantwortung übernommen habe. Aber er hatte ein Attentat überlebt. Wie durch ein Wunder. Einen Schuss aus der Pistole aus einem Meter Abstand. Und vorher hat er das Rasiermesser an seiner Kehle ohne einen Kratzer überstanden. Der Mann hatte magische Kräfte. Und er verlor niemals die Nerven. Und die Justiz in Zentraleuropa war so etwas von gerecht. In anderen Ländern wären beide Attentäter sofort hingerichtet worden, aber von Barkhausen hatte sich vor Gericht persönlich für einen Strafnachlass eingesetzt, weil die beiden ihm ja zuerst das Leben gerettet hatten.
Es war schwer, auch dafür Brandon Ford die Verantwortung zuzuschieben, aber ich hatte viele Jahre Zeit, mir darüber Gedanken zu machen und als ich 2056 frei kam, war meine Theorie ebenso einfach wie überzeugend: Es musste einfach so sein, denn er hatte mir versprochen, dass ich ihn noch einmal wiedersehen würde. Also durfte ich weder gleich von den Sicherheitsleuten erschossen noch später hingerichtet werden. Ich musste überleben und da es in den Jahren meines Gefängnisaufenthaltes nie zu einem Treffen mit Brandon Ford kam, hatte ich dieses Treffen 2056 also noch vor mir. Komischerweise habe ich nie an seinen Worten gezweifelt. Auch wenn ich ihn für inzwischen alles und jedes verantwortlich hielt und seine Informationsgeschäfte moralisch auf der Ebene von mafiösen Drogenkartellen ansiedelte, wusste ich, dass er wie eine Art teuflischer Ehrenmann immer die Wahrheit sagte.
Ja. Jetzt habe ich das Wort benutzt: Teuflisch. Brandon Ford spielte für mich nach 21 Jahren Gefängnis, nach 21 Jahren intensivstem Grübeln in dieser Liga. Der Teufel, Satan, Graf Dracula. Egal wie man ihn nannte: Ein übersinnlicher Bösewicht.
Andererseits glaubte ich nicht an Gott, also gab es auch keinen Teufel. Aber das Böse gab es. Sicher, sicher. Ein Blick auf die menschliche Geschichte nicht nur dieses Jahrhunderts reichte, um an die Existenz des Bösen zu glauben. Entweder das oder wir Menschen waren selbst für den ganzen widerlichen Scheißkram verantwortlich. Und ich wollte es ja in keinem Fall gewesen sein. Ich hatte zwar geschossen, aber nur auf einen Bösewicht. Also sozusagen zum Guten. Wenn ich denn getroffen hätte.
21 Jahre sind viel Zeit. Zum Grübeln. Zum Verrückt werden. Zum Durchdrehen. Zum alles und jeden vergessen. Vor allem das Gute. Das Schöne. Das was einen einverstanden macht mit jedem Moment, den man am Leben ist.
Und dieses Vergessen rettet einem das Leben. Zumindest mir hat es das Leben gerettet. Wenn ich jeden Tag an Johanna gedacht hätte, wäre ich jetzt tot. Wenn ich an Jennifer gedacht hätte. An meine ganze Familie. An Fahrradfahren. An Schwimmen in kalten kleinen Seen. An freundliche Gesichter. An den Geruch von anderen Menschen. Menschen können so ungeheuer gut riechen. Und an ihre Wärme. Und wieder an Johanna. Wie ich mich freute, sie zu sehen, wenn sie morgens aus der Dusche kam. Wie wir vor dem kleinen roten Zelt sassen und gelesen haben. Wie wir uns Frühstück gemacht haben, mit Rührei und selbstgemachter Orangenmarmelade. Wie wir uns liebten. Wie wir uns liebten.
Solche Gedanken führen zu nichts. Wenn man im Gefängnis lebt, muss man vergessen. Ich habe unendlich viel vergessen. Ich habe Wände angestarrt. Ich habe gelesen und Rätsel gelöst, als sie mir nach einigen Jahren Bücher und Rätselhefte gaben. Ich habe Filme gesehen, als ich später sogar einen Fernseher bekam. Ich habe mich auf die Mahlzeiten gefreut. Sonntags gab es Nachtisch. Ich liebte Vanilleeis. Mit Pfirsichen aus der Dose. Damit kann man überleben. Es fehlt einem nicht viel. Es fehlt einem alles. Aber das kann man vergessen. Oh, morgen gibt es wieder Vanilleeis mit Pfirsichen. Und hinterher mache ich ein Sudoku.
Natürlich habe ich Johanna nie ganz vergessen. In den ersten Jahren haben wir uns einmal im Monat einen Brief schreiben dürfen. Am Anfang war in ihren die Hälfte der Worte geschwärzt, aber das wurde besser und die Briefe kürzer. Nachdem sie freigekommen war, hat sie mich ein paar Mal besucht.
Das tat nur weh.
Irgendwann habe ich sie gebeten, nicht mehr zu kommen. Ich glaube, sie hat das verstanden. Es tat einfach zu weh. Ich war ein Schatten und sie war blendendes Sonnenlicht. Ich konnte kein Schatten bleiben, wenn sie mich besuchte. Und ich musste ein Schatten sein, um zu überleben. So ungefähr habe ich es ihr erklärt und sie hat mich verstanden.
Als ich frei gekommen war, haben wir uns Zeit gelassen. Erst ein par Monate später haben wir uns getroffen, nachdem ich mich ein klein wenig wieder ans Licht gewöhnt hatte. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre mit Anthony verheiratet. Das war furchtbar und das war in Ordnung. Ich habe und hatte keine Vorwürfe an Johanna. Die beiden kamen zusammen, während ich im Gefängnis war. Ich war zwar am Leben, aber ich war nicht lebendig und aller Wahrscheinlichkeit würde ich niemals aus dem Gefängnis rauskommen. Da wartet man nicht. Egal wie sehr man sich geliebt hat. Und Johanna und ich haben uns sehr geliebt. Aber das Leben in dieser Zeit war eine Nummer zu groß für ein kleines familiäres Glück gewesen. Wir hatten drei sehr schöne Jahre. Mehr war nicht drin.
Gut, ich nehme mir diese bescheidene Akzeptanz des Schicksals selbst nicht ganz ab. Schließlich gab es da immer noch Brandon Ford. Wenn er für alles verantwortlich war, dann auch für mein zum Schatten werden, für Anthonys Auftauchen in Johannas Leben und sein behutsames Werben um ihre Zuneigung. Brandon Ford war schuld. Und ich würde ihn wiedersehen.
Mein Leben im Gefängnis war, wenn man von dem relativ kurzen Prozess absieht, sehr sehr eintönig. Gut in den ersten Wochen war eintönig das falsche Wort. Ich wurde nachts auf meinem Bett gefesselt. Und ich wurde oft geweckt und in eine Verhörzelle gesteckt, wo ich nur stehen konnte und da wurde ich dann für ein oder auch mal zwei Tage vergessen. Immer wenn ich mich auf den Boden setzte, gab es Stromstöße in meine Handfesseln. Und drei oder viermal haben sie mich zusammengeschlagen, aber das hörte alles nach dem Prozess schlagartig auf.
Und dann wurde mein Alltag vergleichsweise, ja ich mag es kaum so nennen: anständig. Also wenn man von der Einsamkeit der Einzelhaft absieht. Jeder Tag war gleich. Jeder Tag war einsam. Wie soll man davon absehen? Und natürlich habe ich die Schläge und die Stromstöße und die ganze beschissene Folter nicht vergessen. Bis heute nicht. Solche Qualen graben sich tief in alle Schichten unserer Lebendigkeit ein und töten sie langsam aber sicher ab. Man will Rache, aber da man keine Chance auf Rache hat, tötet man alles ab, was einen daran erinnert. Und dieses Abtöten ist erstaunlich einfach. Was rede ich? Für mich war es einfach. Und ich habe von vielen vielen Gefangenen gehört, die durchgedreht sind. Die sich umgebracht haben. Die einfach so gestorben sind. An den Schlägen. An der Einsamkeit. Aber ich hatte vergleichsweise eine gute Zeit. Und das lag wieder an Brandon Ford. Ich wusste, ich würde ihn wiedersehen.
Ich wusste nicht genau wann, aber ich wusste wo. Nein, nicht im Pagoda Tearoom in Colombo. Brandon Ford hatte mir eine eindeutige Nachricht zukommen lassen. Einen Videoplayer mit den bekannten zwei Buttons. Es war ein moderneres Exemplar, als ich es über 20 Jahre versteckt hatte. Hauchdünn, wie die Handys in dieser Zeit. Ansonsten genauso wie der erste Player. Mattschwarz. PLAY und DONT PLAY – Button.
Es war nach zweieinhalb Jahren Gefängnis. Mit den Klickklack Geräuschen hatte er mich bis zu diesem Zeitpunkt verschont. Warum sollte er auch andauernd die Wendeltreppe in mir auf und ab marschieren?! Meine Tage waren gleich. Langweilig. Öde.
Aber an diesem Tag wachte ich von eben dem Geräusch auf. Ich explodierte fast. Was wollte er? Klick klack. Klick klack. Wie immer nur dieses Geräusch. Keine Stimme, keine Information. Aber dann brachte mein Wärter mir zum ersten Mal in diesen zweieinhalb Jahren eine Zeitung. Ich hätte sie fast an die Wand geschmissen. Ein Reisemagazin. Meine Wärter hatten einen seltsamen Sinn für Humor. Das Ding war ein paar Wochen alt. Viele Fotos, ein paar langweilige Berichte über phantastische Urlaubsregionen. Und Rätsel. Kreuzworträtsel, Sudokus. Darauf stürzte ich mich. Und hätte fast das Wichtigste übersehen.
Am Abend, ich hatte längst die paar armseligen Rätsel gelöst, nahm ich die Zeitschrift noch einmal in die Hand und blätterte sie Stück für Stück durch und da sah ich das Foto: Der orangene Mond über dem Meer. Der Artikel pries ein Urlaubsresort namens Paradise Beach in der Nähe von Monastir in Tunesien. So langweilig wie die gesamte Zeitschrift. Eine sichelförmige Poollandschaft. Drumherum 5 stöckige Balkonappartements. Das immer noch Leute ihre angeblich schönste Zeit des Jahres in solchen Dingern verbringen wollten, wunderte mich. Der Mond stand über einem kleinen Pavillon mit einem Schild Paradise Beach Bar. In dem Pavillon ein Tisch, darauf zwei Getränke, die nach viel zu süssen Cocktails aussahen. Komischerweise sehnte ich mich danach, diese Dinger auszutrinken. Ich brauchte keinen Pool, kein Urlaubsparadies, kein Appartement. Aber über die Cocktails hätte ich mich wie ein Wahnsinniger gefreut. Der Mond war orangen, aber das war er manchmal. Er war nicht besonders groß und nicht jeder orangene Mond auf irgendeinem langweiligen Urlaubsfoto war eine Botschaft von Brandon Ford. Ich blätterte weiter und las den nächsten Artikel. Wandern im Fichtelgebirge. Dann kamen die ostfriesischen Inseln und etwas über Urlaub auf dem Bauernhof im Allgäu bei Fischbachau. Der Name löste etwas in mir aus, das sich wie eine schöne Erinnerung anfühlte, wahrscheinlich hatte ich da als Kind mit meinen Eltern mal Urlaub gemacht, aber schon damals funktionierte das Vergessen ganz gut. Ich legte die Zeitung weg und vergass alles im nächsten Moment. Nur an die Cocktails dachte ich noch einmal voller Sehnsucht. Ich konnte sie schmecken. Ananassaft und Wodka. Und Cranberry. Sicher Cranberry. Süsses Zeug. Schrecklich süsses Zeug. Und mit diesem Geschmack auf der Zunge schlief ich ein.
Am nächsten Tag brachte der Wärter mir morgens das Frühstück, denn ich war zu diesem Zeitpunkt noch in Einzelhaft. Das heisst, ich aß allein. Ich war allein beim Hofgang. Nur den Wärter sah ich dreimal am Tag. Ein netter, schweigsamer Mann. Ich war überrascht, dass er mich an diesem Morgen danach fragte, ob mir die Zeitung gefallen hätte? Ich nickte und er sagte, dann würde ich ab jetzt öfter was zum Lesen bekommen. Ich fragte ihn, ob er mir was mit Rätseln besorgen könne. Die Artikel fände ich nicht so spannend. Er lächelte und sagte, er wolle mal sehen, was er für mich tun könne. Ab dem nächsten Tag bekam ich beinahe täglich Rätselhefte und das hat mein Leben im Gefängnis unglaublich viel einfacher gemacht.
Ob er die Zeitung noch da lassen solle, wollte mein Wärter wissen? Ich sagte, meinetwegen, nach soviel Zeit ohne Lektüre würde ich sogar die langweiligen Reiseberichte gerne ein zweites oder drittes Mal lesen. „Na dann“, sagte er und ließ mich allein. Ich setzte mich an meinen kleinen Tisch – die Zelle hatte ungefähr neun Quadratmeter, plus die Toilette, die aber in einem Extraraum war. Ich nahm die Plastikabdeckung von dem Teller und erstarrte. Da lag, direkt neben meinem Käsebrot, der Videoplayer. Ich nahm ihn so beiläufig wie möglich in die Hand und schob ihn unter das Tablett. Natürlich wurde meine Zelle videoüberwacht. Tag und Nacht. 4 Kameras, die jeden noch so kleinen Winkel meiner Zelle erreichten. Und die Toilette natürlich auch.
Ich wartete den ganzen Tag. Mein Herz klopfte wie wild. Aber ich beherrschte mich. Nach dem Frühstück nahm ich den Player so unauffällig wie möglich unter dem Tablett heraus und liess ihn unter meinem Kopfkissen verschwinden. Erst nach Mitternacht holte ich ihn heraus. Ich legte mich auf den Bauch und zog die Decke fast komplett über meinen Kopf. Dann bewegte ich mich mindestens eine halbe Stunde nicht mehr. Erst dann drückte ich auf den PLAY Button.
In dem Video sassen zwei Männer an einem kleinen Tisch und prosteten sich zu und in diesem Moment rastete alles im gleichen Moment ein: Brandon Ford war am letzten Morgen in mir herunter gegangen, um mich wach zu machen. Klickklack Klickklack. Pass auf, erwache aus deiner Gefängnislethargie, damit du verstehst, wo wir uns das nächste Mal treffen. Denn die beiden Männer in dem Video waren er und ich. Wir tranken die süssen Cocktails: Ananassaft, Wodka und Cranberry. Und damit war klar, wo wir uns treffen würden: Die Paradisebeach Bar in der Nähe von Monastir in Tunesien.
Er sah fast so aus wie ich ihn von unserem ersten Treffen in Colombo vor mehr als zwanzig Jahren in Erinnerung hatte. Vielleicht einen Hauch älter, aber höchstens ein paar Jahre, aber mich selbst konnte ich kaum wiedererkennen. Ich konnte 70 Jahre alt sein, vielleicht 60, kaum jünger. Es würde also noch viele Jahre dauern.
Brandon Ford hatte dieselbe Sonnenbrille auf wie beim ersten Mal und ein sehr ähnliches Jeanshemd. Ich trug eine lange dunkle Hose und ein weißes T-Shirt mit einem eine Nuss angrinsendem dicken Eichhörnchen darauf. Unter dem Eichhörnchen stand ABI 2058, die Nuss ist geknackt! So lange musste ich also in jedem Fall warten. So lange würde ich also in jedem Fall überleben.
Auf dem Video prosteten Brandon Ford und ich uns zu. Wir tranken. Er lächelte mich an. Ich lächelte nicht. Das Video war nicht sehr lang. Vielleicht eine halbe Minute. Erst ganz am Ende sagten wir ein paar Worte.
„Willst du das wirklich?“ Das fragte er mich.
„Natürlich will ich das. Davon habe ich die letzten zwanzig Jahre geträumt.“ Das war meine Antwort.
„Dann komm mal mit.“
In dieser Nacht träumte ich den folgenden Traum zum ersten Mal.
Kapitel 2
Zuerst war es dunkel. Wirklich dunkel, also tiefschwarz. Nichts zu erkennen. Nur das Gefühl, da müsste irgendwo ein Bild sein. Etwas zu sehen. Wenn es eben nicht so dunkel wäre.
Dann plötzlich die Erkenntnis, dass ich mich bewege. In dieser Dunkelheit. Und dass da noch jemand ist. Jemand, der mich führt. Am Anfang hält er meine Hand und zieht mich beinahe vorwärts. Später nimmt er mich sogar auf den Arm und trägt mich. Ich rolle mich zusammen, schrumpfe wie im Pagoda Tearoom, als ich dem schweigenden Brandon Ford gegenüber sass. Er trägt mich einen Weg entlang, vielleicht eine kleine Straße oder einen Fussweg. Da sind Büsche und kleine Bäume am Wegrand. Ich berühre sie mit meiner Schulter.
Später setzt er mich ab und ich laufe neben ihm her. Langsam wird es heller. Wir kommen an eine Straße. Da ist eine kleine Bäckerei. Wie ein Bild aus meiner Kindheit. Der Geruch von warmem Brot und Keksen.
Eine Ampel. Wir warten. Es wird grün. Wir gehen. Überqueren die Strasse und verschwinden gleich wieder in einer kleineren Querstraße. Winzige Reihenhäuschen, wie für sehr kleine Menschen gemacht. Oder wir sind zu schnell gewachsen. Absurde Traumlogik.
Nach ein paar endlosen Traumsekunden wandelt sich die Zwergenstraße in eine große vierspurige, die ein schier endloses Gewerbegebiet durchquert. Überall stehen altertümliche Lastwagen, wie sie seit den 30er Jahren verschwunden waren. Mein Begleiter geht immer noch vor mir, so dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Aber ich weiß auch so, dass es Brandon Ford höchstpersönlich ist, der mich die ganze Zeit führt. Der mich an der Hand gehalten und getragen hat.
Dann wird die Welt moderner, wie ich sie zu dem Zeitpunkt, als ich den Traum das erste Mal träume noch gar nicht aus eigener Anschauung kenne, aber ich wundere mich nicht über die fahrerlos dahingleitenden Container. Es gibt sie wie ab den späten 40er Jahren in unterschiedlichen Größen und Formen und es gibt keine Schienen, auf denen sie sich fortbewegen. Menschen sind außer Brandon Ford und mir keine unterwegs. Weder zu Fuss, noch sind in den Containern Menschen zu erkennen. Es ist alles sehr still, sehr in Bewegung und sehr effizient.
Dieser Teil meines Traumes variiert in der Länge sehr. Manchmal dauert die ganze Wanderung nur Sekunden, manchmal scheinen wir ein halbes Leben unterwegs. Am Ende biegen wir immer auf einen großen Hof, von dem sternförmig, sehr große, aber höchstens 6 Meter hohe Gebäude abgehen. Wie Lagerhallen oder Ställe, wie sie in der Massentierhaltung der frühen 2000er Jahre üblich waren. Zehntausende Hühner, ein paar tausend Schweine. Nur dass in diese Hallen vielleicht das tausendfache an Tieren gepasst hätte. Riesig ist gar kein Ausdruck. Und später lernte ich noch, dass diese Hallen wie Hochhäuser in die Tiefe gebaut waren. 80, 90 Stockwerke tief. 7 solche Hallen wie ein Stern um den Hof als Mittelpunkt angeordnet. Das war sein Reich. Seine Firma. Von hier aus betrieb er seinen Handel mit Informationen. Und wie er irgendwann mal beiläufig bemerkte, gab es weltweit sehr sehr viele solcher Sterne.
Natürlich war das ein Traum, mehr oder weniger billige Symbolik. Aus der Dunkelheit und durch die ersten frühkindlichen Erinnerungen führte mich Brandon Ford zur Erkenntnis. So in etwa. Aber so einfach war es natürlich nicht. Denn was sagte er in dem Video in der Paradise Beach Bar zu mir? Genau: „Dann komm mal mit.“
In meinen Träumen habe ich nur etwas surreale Einblicke in das Innere dieser Hallen bekommen. Wie in einem Film, endlose Kamerafahrten über Regale, die den gesamten Innenraum einzunehmen schienen. Und in den Regalen standen unzählige Reihen der Videoplayer: PLAY und DONT PLAY.
Fein säuberlich sortiert und nummeriert. An den Stirnseiten der einzelnen Regale standen kryptische Nummern und Buchstabenkombinationen. In den Regalen selbst war alles nach Daten sortiert. Tages, Monats und Jahreszahlen.
In der ersten Nacht träumte ich diesen damals noch jungfräulichen Traum sehr lange. Irgendwann wachte ich schweißgebadet auf, als ob ich die ganze lange Wegstrecke wirklich zurückgelegt hatte.
Ich schaute mir noch einmal das Video an: Brandon Ford und ich mit den klebrigen Cocktails in der Paradise Beach Bar anstoßend. Der orangene Mond. Unser langes Schweigen. Und dann die entscheidenden Sätze:
„Willst du das wirklich?“
„Natürlich will ich das. Davon habe ich die letzten zwanzig Jahre geträumt.“
„Dann komm mal mit.“
Ich war glücklich. Er würde mir meine Zukunft zeigen. Davon war ich überzeugt. Das Gefängnis konnte mir nichts mehr anhaben. Beim nächsten Hofgang warf ich den Player über die Mauer. Kein Mensch würde verstehen, was darauf zu sehen war. Aber ich würde es nie vergessen: Eines Tages würde ich mit Brandon Ford in der Paradise Beach Bar sitzen und er würde sagen: „Dann komm mal mit.“
Kapitel 3
Natürlich stimmte das nicht wirklich: „Das Gefängnis konnte mir nichts mehr anhaben.“ Noch fast 20 Jahre, davon fast acht Jahre in Einzelhaft. Nichts anhaben?!
Aber ich wusste, dass ich eine Zukunft hatte. Und wenn es nur die Cocktails in der Paradise Beach Bar waren. Und ich würde mit Brandon Ford in seine unterirdische Fabrik gehen. Ich war mir sicher, dass er mir Videoplayer zeigen würde, die mich betrafen. Meine Zukunft. Ich würde da nicht rausgehen, ohne meine Zukunft zu sehen. Warum sollte er mich sonst dahin mitnehmen?
Und ich wollte meine Zukunft wissen. Ab diesem Tag malte ich mir aus, was mir alles passieren würde. Und ich gestehe, es war ziemlich kitschiges Zeug. Oft kam ich wieder mit Johanna zusammen. Warum auch nicht? Oder mit anderen Frauen. Nichts sexuelles. Das Bedürfnis war im Gefängnis nahezu vollständig verschwunden. Vielleicht gaben sie mir auch irgendwelche Medikamente, die die Libido abtöteten.
Nein, meine Zukunftsvisionen waren eher - romantisch. Oder eben kitschig. Oder wenn man es positiv formulieren will: ich wollte Johanna oder später den anderen Frauen einfach nah sein. Nähe zu anderen Menschen. Man kann sich nichts Schöneres vorstellen, wenn man im Gefängnis sitzt.
Und Natur. In meinen Phantasievideos, die mir Brandon Ford zeigte, lief ich immer wieder durch schöne Landschaften. Meistens strikt geradeaus. An einem Strand. Kilometerlang. Links der was auch immer für ein Ozean. Rechts Sand und dahinter irgendwas Grünes. Manchmal Palmen, manchmal Birken, das war sowas von egal. Aber der Sand an den Füßen war wichtig. Kleine Muscheln und flache Steine. Und das Salzwasser, das immer wieder die nackten Füsse umspült.
Und ich gehe. Fast immer gehe ich. Nur ganz selten bleibe ich stehen und schaue in Richtung des Ozeans. Den Horizont, wo das Blau des Meeres mit dem Blau des Himmels kollidiert. Ganz langsam sinke ich immer tiefer in den Sand ein.
Es ist immer leer an den Stränden, an denen ich meine Kilometer abgehe. Keine Menschen. Nicht einmal Möwen. Und keine Schiffe am Horizont.
Wenn man soviel allein ist, wie ich im Gefängnis, ist es zu anstrengend sich andere Menschen vorzustellen. Nicht unbedingt schmerzhaft, aber anstrengend. Es geht einfach nicht. Johanna sah ich auch immer nur in kurzen Einstellungen. Und ich gestehe, es waren Bilder aus der Vergangenheit, ich konnte mir uns beide nicht in der Zukunft vorstellen.
Nicht, dass ich es nicht probiert hätte.
Wir beide in der Paradise Beach Bar. Aber das Bild war unscharf, nicht wie bei Brandon Ford. Oder die Bilder ruckelten und froren andauernd ein wie in meiner Kindheit die Youtube Videos, wenn man nur stinklangsames Internet hatte.
Manchmal träumte ich von Johanna. Also nicht meine armseligen Tagtraumphantastereien, sondern richtig träumen in der Nacht. Dann waren wir lebendig. In Farbe. Tolle Bilder. Und manchmal hatten wir sogar Sex miteinander. Aber das machte mich am Morgen immer sehr traurig. Und Trauer ist kein Gefühl, dass man im Gefängnis pflegen sollte. Lieber abgeschaltet Rätsel lösen, als vor Sehnsucht und Trauer innerlich zu verbluten.
Ich hatte wenig Besuch im Gefängnis. Die ersten Jahre fast gar nicht, wenn man von meinem Anwalt absah. Natürlich kamen meine Eltern und Jasmin. Aber auch die erst nach drei oder vier Jahren. Auch solche Besuche sind nicht schön. Zu real. Zu fern. Zu was auch immer. Wenn man richtig schlimmen Durst hat, sollte man auch nicht andauernd vor einem Glas Bier sitzen, dass man nicht anfassen und wovon man in keinem Fall trinken darf.
Und so wurde aus mir ein Mann, der keine anderen Menschen brauchte. Oder einer, der sich einbildete, dass er keine anderen Menschen brauchte. Aber das kommt letzten Endes auf dasselbe hinaus: Ein ziemlich einsames, aber nicht gänzlich unzufriedenes Leben. Am glücklichsten war ich, wenn ich alleine für mich in meiner Zelle saß und mich alle in Ruhe liessen. Nun war ich die ersten 12 Jahre in Einzelhaft, also könnte man in einem einfachen logischen Umkehrschluss behaupten: Ich war die meiste Zeit glücklich. Aber keine Sorge: ich wäre schon lieber nicht im Gefängnis gewesen. Und ich benutze dieses abgeschmackte Wort nur ein wenig, um euch zu provozieren. Er kann doch nicht glücklich gewesen sein, wenn er Jahre lang keinen anderen Menschen sieht. Keine Gespräche führen kann. Keine lächelnden Augen sieht, keinen anderen Atem spüren, keine schlechten Witze und dämlichen Sprüche hört.
Natürlich weiß ich, dass die lange Einzelhaft an meiner Misanthropie schuld ist. Schuld sein kann. Ich hatte immer mal wieder Menschen in meiner Nähe, die mir das einreden wollten und die mir mit bibberndem Mitgefühl versicherten, wie unmenschlich das ist, einem Menschen die Möglichkeit zu nehmen, sich mit seinesgleichen auszutauschen. Unmenschlich. Menschlich. Das sind keine Begriffe, mit denen wir auch nur eine Winzigkeit zur Klärung des Weltschreckens beitragen können. Das sind nur abgeschmackte Süßigkeiten, die Menschen, die nicht hinsehen können, was wir uns gegenseitig antun, zur Minderung ihrer Gewissensbisse in sich reinstopfen. Menschlich?! Hunde sind menschlich. Und Katzen. Und meinetwegen auch die meisten anderen Tiere. Haie und Wölfe vielleicht ausgenommen. Aber Menschen? Menschen sind ziemlich armselige Wesen, zumindest wenn es um Moral geht.
Ja, ist ja gut. Ich erinnere ich mich, ich wollte nicht philosophieren. Es führt sowieso zu nichts. Außer Sodbrennen, Lust sich hemmungslos zu besaufen und richtig schlechter Laune.
Es ist ja auch egal, ob ich durch die Einzelhaft zum Menschenfeind geworden bin oder durch den Blick auf die Geschichte des 21. Jahrhunderts. Oder durch einen Videoplayer, den ich als 12 jähriger in der Lüneburger Heide gefunden habe. Also durch Brandon Ford.
Da ist er wieder. Immer wieder er. Er hat mein Leben in diese einsame Richtung geschleudert.
Aber im Gefängnis war Brandon Ford meine Hoffnung. Also die Aussicht auf ein Treffen mit ihm. Auch wenn ich nicht wirklich wusste, was genau ich von ihm wollte. Ich wusste ja inzwischen, dass es diese Player gab. PLAY und DONT PLAY. In einer unüberschaubaren Anzahl. Dass sie unsere Zukunft zeigten. Gut, vielleicht auch nur winzige Ausschnitte davon. Aber diese Zukunft war so sicher wie nur irgendwas. Seit ich wusste, wo ich Brandon Ford wieder sehen würde, habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie unser Treffen werden würde. Die zuckrigen Drinks in der Paradise Beach Bar. Minutenlanges sich gegenseitig angrinsen und anschweigen. Und schließlich seine Aufforderung, mit ihm zu kommen. Und dann mischten sich die Bilder meiner Vorstellung mit den Bildern meines immer wiederkehrenden Traumes. Wie mich Brandon Ford durch die Dunkelheit trägt und wir dann in diesem Industriegebiet die unterirdische Fabrik betreten. Wie er mir die Abermillionen von Playern zeigt. Und dann wurde es schwierig für meine in der Haft zusehends schwindenden Phantasie. Weder konnte ich Videos aus meiner Zukunft sehen, noch konnte ich mir vorstellen, über was ich noch mit Brandon Ford reden würde. Im Grunde war das Einzige, was er für mich bedeutete, die Versicherung, dass ich das Gefängnis überleben würde und das war natürlich sehr sehr viel. Manchmal, vor allem, als ab Anfang der 50-er Jahre möglich schien, dass ich wirklich freikommen könnte, habe ich versucht mir vorzustellen, was ich ihn fragen wollte, falls er mir wieder nur eine gewisse Anzahl von Fragen erlauben würde. Und mir fiel nichts ein. Gut, ob ich ein Video sehen könne? Ob er mir seine Fabriken zeigen würde? Aber darüber hinaus? Manchmal dachte ich noch, dass ich doch ein Recht hätte zu erfahren, warum ich als 12-jähriger den Player gefunden hatte? Ob da ein Plan dahinter steckte? Ob ich eine Chance auf ein anderes Leben gehabt hätte? Zusammen gefasst lautete meine Frage einfach: WARUM ICH? Aber wahrscheinlich würde er mich nur hinter seiner fetten Sonnenbrille versteckt angrinsen und wieder behaupten, dass es aus sentimentaler Identifikation geschehen sei. Weil ich ihn an sich selbst erinnere.
Ich hasste ihn. Ich hasste ihn wirklich. Glühend. Verbrennend. Zerstörend. Und dann spürte ich eine Wut in mir aufsteigen, deren Ziel natürlich nur Brandon Ford sein könnte. In solche Phantasien konnte ich mich von Zeit zu Zeit hineinsteigern. Dann hörte ich manchmal das KlickKlack wieder. Aber ansonsten verschonte er mich damit.Wie ein Graf von Monte Christo des 21. Jahrhunderts würde ich über Brandon Ford kommen und meine Rache würde schrecklich sein. Stromstöße. Daumenschrauben. Hunger und Durst. Alles, was mir in den ersten Monaten meiner Haft angetan wurde. Und dann würde ich richtig loslegen. Im Ausdenken von sadistischen Folter- und Schmerzensmethoden war ich richtig gut. Da hatte ich keine verschrumpelte Phantasie. Und ich spürte immer die Macht, die eine Pistole einem verleihen kann. Niemals würde ich das Gefühl vergessen, dass mich durchströmte, kurz bevor ich auf Robert von Barkhausen schoß. Nur dass ich Brandon Ford treffen würde. In sein Gesicht. In sein Herz. Das ganze Magazin würde ich leer ballern, bis kein Tropfen Blut mehr aus ihm strömte.
Manchmal saß ich auf meinem Stuhl in meiner Zelle und war total geschafft von meinen Rachephantasien. Wie nach einem immensen Wutanfall. Bei dem man alles zertrümmert hat, was im selben Raum mit einem ist. Geschirr. Stühle. Menschen.
Ich war fix und fertig, obwohl ich mich äußerlich nicht einen Millimeter bewegt hatte. Dann dachte ich manchmal an Jennifer. Und dann dachte ich, dass die einzige Frage, die ich Brandon Ford wirklich stellen wollte, war: Wo ist Jennifer?
Aber das war natürlich Blödsinn. Jennifers Verschwinden hatte nichts mit Brandon Ford zu tun. Brandon Ford war Teil meiner Welt. Er gehörte nicht zu Jennifer, oder zu Johanna oder dem Rest meiner kleinen Familie.
Diese seltsam anstrengenden Rachephantasien waren für viele Jahre die einzige Abwechslung in meinem monotonen Gefängnisalltag. Sonst waren meine Tage, Wochen, Monate, Jahre immer gleich. Rätsel lösen. Hofgang. Rätsel lösen. Später Lesen. Filme gucken. Rätsel lösen. Schlafen. Das war über viele Jahre mein Alltag. Und es war eine gute Zeit. Emotional gesehen, fühlte ich mich die meiste Zeit gut. Oder nicht schlecht. Es war egal. Kreuzen Sie auf einer Skala von Minus 10 bis Plus 10 an, wie Sie sich in den Jahren 2035 bis 2056 gefühlt haben. Egal. Ob bei Minus 8 oder bei Plus 3 es war ein Strich. Gut, nicht die ersten Jahre, aber seit ich die Nachricht von Brandon Ford bekommen hatte, war es ein Strich. Gleichförmig. Alle Tage sehr ähnlich. Das änderte sich auch nicht, als ich aus der Einzelhaft entlassen wurde. Immerhin hatte ich weiter eine Einzelzelle. Nur beim Hofgang oder später bei der Arbeit traf ich auf andere Gefangene. Aber ich hatte kein Interesse an ihnen. Rätsel lösen. Hofgang. Rätsel lösen. Später Lesen. Filme gucken. Rätsel lösen. Schlafen.
Natürlich habe ich mit den anderen gesprochen. Ich sprach ja auch mit den Wärtern. Übers Wetter. Sport. Über die Vögel, die sich manchmal beim Hofgang in das baumlose Quadrat verirrten.
Ein älterer Mitgefangener erzählte immer Witze, von der Sorte, was ist rot und läuft durch den Wald? Eine Wandarine. Davon hatte er hunderte auf Lager. Das war nett. Aber auf Dauer auch langweilig. Ein anderer, sehr junger wollte mich andauernd zur gemeinsamen Flucht überreden. Er hatte einen todsicheren Plan, der vor allem darauf beruhte, dass er in seiner Matratze eine kleine Eisenstange versteckt hatte und er wüsste, wie man mit so einer Waffe umgehen müsste. Er hatte einer Frau im Drogenrausch den Schädel zertrümmert und sprach mich immer als Präsidentenmörder an. Am Anfang habe ich noch widersprochen und darauf hingewiesen, dass ich von Barkhausen ja leider verfehlt habe. Da packte er mich am Kragen und flüsterte mir ins Ohr, ich solle doch nicht diesen Scheiß glauben. Seit meinem Schuss sei der Präsident doch ein Zombie, ein Roboter, ein Klon. Niemand überlebt sowas, ein Schuss aus einem Meter Entfernung! Lass dir keinen Scheiß erzählen. Du hast ihn umgenietet, das wissen alle hier im Knast und deswegen bist du für uns alle hier der Allergrößte. Und wenn wir zusammen fliehen würden, würden wir gemeinsam die Revolution ausrufen und die ganze Zombiebande aufmischen.
Er nahm mich beim Hofgang sofort in Beschlag und hörte mit diesem unseligen Geschwätz erst wieder auf, wenn wir zurück in unsere Zellen mussten. Ich habe ihn dreimal gewarnt, wenn er mich nicht in Ruhe lassen würde, würde ich ihn und seine lächerliche Eisenstange verraten, aber er wollte nicht hören und laberte mich weiter mit seinem Zombiescheiß voll. Ich war fest entschlossen, den Wärtern von seinem armseligen Matratzenversteck zu erzählen, aber plötzlich tauchte er nicht mehr beim Hofgang auf. Der mit den Witzen hat mir später erzählt, dass ihn sein Zellengenosse mit der Eisenstange erschlagen hatte, weil er sein ewiges Genöle nicht mehr ertragen hatte. Es waren wohl auch noch Drogen im Spiel, aber das interessierte mich nicht. Hauptsache ich hatte meine Ruhe.
Später, als ich in den letzten Jahren zur Arbeit abkommandiert wurde, habe ich dann doch noch einen Menschen, wie sagt man etwas hochtrabend, kennen gelernt. Wir schraubten hochwertige, moderne Solarzellen an alle möglichen älteren digitalen Alltagsgegenstände, weil, wie nahezu überall auf der Welt, auch in Zentraleuropa die Rohstoffe für die immer wieder neuen Varianten der Computer, Handys, Uhren und so weiter fehlten. Andererseits war die Technologie, aus Licht Strom zu gewinnen, inzwischen so weit fortgeschritten, dass man auf die meisten Batterien und Akkus verzichten konnte. „Wenn das die jungen Menschen in den 20er Jahren wüssten, dass wir hier im Hochsicherheitsknast einer deutschen Diktatur 30 Jahre später endlich ihre Vision von Nachhaltigkeit einlösen“, sagte der Mann, der neben mir arbeitete plötzlich. Wir hatten bis dahin mehrere Wochen, unser Bedürfnis nach Schweigen respektierend, ohne ein Wort miteinander zu wechseln nebeneinander gearbeitet.
Ich sah ihn an, als ob ich in diesem Moment erst gemerkt hätte, dass er überhaupt existierte.
„Entschuldigung“, sagte er.
„Ich habe in den 20er Jahren für mehr Nachhaltigkeit demonstriert“, sagte ich.
„Ich hätte dich für älter gehalten“, sagte mein Nachbar.
Ich sah ihn schweigend an.
„Das Gefängnis lässt uns alle ganz schön alt aussehen“, sagte ich schließlich.
Und das war es für diesen Tag.
Kapitel 4
Er hiess Jonathan Trabers und er wurde so ziemlich der wichtigste Mensch in meiner zweiten Lebenshälfte. Wahrscheinlich das, was andere Menschen einen Freund nennen. Aber die emotionale Seite der Sprache ist für mich ja eher ein Rätsel. Also bleiben wir bei den Fakten: Er war wichtig. Sehr wichtig. Ohne ihn würde ich nicht das tun, was ich gerade tue: Dir diese Geschichte erzählen.
Und jetzt ist erst einmal seine Geschichte dran. Jonathan Trabers. Mein Freund. Ich bleibe dabei, ohne zu wissen, was ich damit meine. Einfach der Einfachheit halber. Also Jonathan Trabers. Mein Freund. Der Mörder. Der zu Unrecht verurteilte Mörder. Das Opferlamm. Der bestialische Killer. Such dir aus, was du willst. Womit du besser zurecht kommst. Ich kann keine Entscheidung treffen, weil ich mich damit in einer Dimension schuldig mache, in der ich es nicht aushalte. So etwas wie in einem Hochofen, wo gerade rotglühender Stahl geschmolzen wird oder bei Windstärke 12 auf einer Luftmatratze mitten im Pazifik. Wenn du einen Satz damit beginnst, dass du zu einem gewissen Zeitpunkt noch nicht wusstest, was du später erfahren hast, also in etwa: „Wenn ich damals schon gewusst hätte...“ und dann noch bedeutungsvoll und irgendwie traurig aus der Wäsche guckst... Das ist ekelhaft. Für die Frage der Schuld ist es absolut bedeutungslos, was wir zu welchem Zeitpunkt unseres Lebens wussten und der Konjunktiv entbindet uns nicht der Verantwortung für unser Handeln. Um das zu begreifen, braucht es keinen Brandon Ford. Also kurz und klar: Wir sind alle für alles verantwortlich, was wir wann auch immer tun. Da gibt es keine Ausnahme. Nicht einmal mildernde Umstände. Damit muss jeder selbst klar kommen. Und um das vorwegzunehmen: Ich komme nicht damit klar, was ich in Bezug auf Jonathan Trabers und seine Geschichte getan oder nicht getan habe. Nicht einmal jetzt. Mehr als 30 Jahre später. Deshalb mache ich soviel Worte, anstatt einfach die Geschichte zu erzählen.
Also Jonathan Trabers. Er war 9 Jahre jünger als ich, das stellten wir bei unserem nächstem Gespräch bei der Gefängnisarbeit fest. Zwei Wochen nach den ersten Worten. Wir konnten gut zusammen schweigen.
Im nächsten halben Jahr sprachen wir zusammengenommen vielleicht eine halbe Stunde miteinander. Offenbarten uns unser Alter. Und dass wir wussten, warum der jeweils andere im Gefängnis sass. Und dass es uns nicht interessierte. Weil unsere Leben vor dem Gefängnis nicht mehr existierten.
Er war verurteilt, weil er seine Frau Klara ermordet hatte. 2042, ziemlich brutal, in einer Novembernacht, die gemeinsame 4 Jahre alte Tochter schlief im Kinderzimmer nebenan. Er hatte ein Küchenmesser genommen und sie im Schlaf erstochen. Dann hat er sie zersägt, die Teile in 7 große Plastiktüten verpackt, ist damit in den Wald gefahren und hat sie in einer Kieferschonung vergraben. Noch vor dem Sonnenaufgang war er wieder in seiner Wohnung, weckte seine Tochter und machte ihr Frühstück.
So hat es mir jedenfalls einer von den Mitgefangenen beim Hofgang erzählt. „Nur damit du weißt, mit wem du dich da anfreundest.“ Einer von den Wärtern, der das Gespräch mit angehört hatte, hat mir am selben Tag beim Einschluss in der Zelle erzählt, dass Jonathan Trabers selbst immer seine Unschuld beteuert habe und das Urteil nur aufgrund von Indizien und der Aussage einer Nachbarin zustande gekommen sei. Jonathan selbst hat zu dieser Zeit nicht mit mir darüber gesprochen. Und ich habe ihn nicht gefragt. Genau wie er mich nicht auf mein mißglücktes Attentat angesprochen hat. Was vorbei war, war vorbei. Beziehungsweise es war deutlich einfacher so zu tun, als sei die Vergangenheit wirklich vorbei.
Wenn wir ausnahmsweise miteinander sprachen, dann meistens über die Vögel, die wir beim Hofgang sahen. Spatzen. Hin und wieder eine Blaumeise. Und eine Zeitlang kam ein Specht. Eine echte Sensation, nicht nur weil der Gefängnishof in seiner absoluten Naturlosigkeit – kein Baum, keine Pflanzen, nichts als der Himmel weit über uns – keinem Vogel irgendeinen Grund zu einer Stippvisite bot, sondern weil es zu diesem Zeitpunkt überhaupt deutlich weniger Singvögel gab als zu Beginn des Jahrtausends. Weniger Insekten, weniger Vögel, das war eine einfache Rechnung. Nur für Menschen in Mitteleuropa – ich weigere mich bis heute den temporär vorherrschenden Begriff von Zentraleuropa zu benützen, war die Rechnung nicht ganz so einfach. Wenn Bienen verschwanden war es schlimm, wahrscheinlich wegen des Honigs, aber um irgendwelche häßlichen Kakerlaken kümmerte sich keine Sau. Und das Schlimmste, was verschwinden konnte, waren bunte Vögel. Dompfaff, Goldammer, Bluthänfling, Pirol. Je bunter desto schlimmer. Auch der Buntspecht stand auf den roten Listen inzwischen ganz oben, aber da war er: Ein großes Exemplar, das einige Zeit mit einem gewissen Maß an Verzweiflung versuchte, Löcher in die gußeisernen Laternenpfähle zu hacken. Er tat uns leid und wir versuchten ihm durch laute Zurufe deutlich zu machen, dass er sich nur einen blutigen Schnabel holen würde, aber er kümmerte sich nicht um den Lärm, den wir veranstalteten. Er klopfte und es klang ein wenig nach einer meditativen Musik. Ein tiefes metallenes Dröhnen, wie ein unermüdlicher Trommler auf Stahlrohren.
Seine Besuche dauerten etwa zwei Wochen, dann verschwand er ohne einen erkennbaren Erfolg seines unermüdlichen Hackens.
Darüber sprachen Jonathan und ich manchmal bei der monotonen Arbeit: Wie schön wir das blaue Brustgefieder der Meisen fanden und dass der Specht wirklich ein ganz besonderes Rhythmusgefühl entwickelt hatte. Wie gesagt: Spatzen, Blaumeisen und der bekloppte Specht.
Jonathan erzählte mir kurz vor Weihnachten 51, er hätte einen Pirol gesehen. Diese großen knallgelben Singvögel. Er hätte auf dem Stacheldraht gesessen und zufrieden mehrere Minuten vor sich hingeschaukelt. Ich wusste aus irgendwelchen Radiosendungen, dass der Pirol in Europa so gut wie ausgestorben war und habe ihm das nicht geglaubt. „Ich mag das nicht, wenn man mich anlügt“, habe ich ihm dreimal hintereinander gesagt, weil er nicht darauf reagierte. Nach dem dritten Mal lächelte er mich an, was ich bis dahin bei ihm noch nie gesehen hatte und sagte nur „tut mir leid, das wird nie wieder vorkommen.“
Und dann kam Weihnachten 2052. Wer Weihnachten nicht mag, sollte besonders aufpassen, dass er niemals in ein Gefängnis kommt. Kerzen, Tannenzweige, Lebkuchen, Spekulatius, alles, was ein richtiger Weihnachtshasser verabscheut, gibt es dort im Übermaß. Ich weiß nicht, ob die Vollzugsbeamten einem damit wirklich etwas Gutes tun wollen, wie sie immer behaupten oder ob es nur eine weitere, etwas subtilere Form der Folter ist, aber es ist natürlich so, wie es im Gefängnis nun einmal ist: Keine Chance zu entkommen.
Für Leute wie mich und Jonathan, die vor allem ihre Ruhe wollten, war es die Hölle. Ich musste nur irgendein beschissenes Weihnachtslied hören und schon sah ich mich mit meinen Eltern und den Zwillingen unterm Baum sitzen und Geschenke auspacken. Und ja, die meisten Weihnachtserinnerungen an unsere Familie waren glückliche Erinnerungen. Natürlich gab es auch immer mal den üblichen Weihnachtsstreit, aber daran erinnerte ich mich nicht. Ich erinnerte mich nur an strahlende Gesichter. Und ich wollte mich nicht an die strahlenden Gesichter meiner Schwestern und Eltern erinnern. Ich wollte mich gar nicht erinnern. Was vorbei war, war vorbei. Also floh ich vor den Gottesdiensten und den Weihnachtskonzerten und dem Christmaschartsradiogedudel auf den Hof. Selbst wenn es draußen Minusgrade oder Schneematsch hatte.
Und so war es auch Weihnachten 2052. Es schneite, aber es war hässlicher Schnee, der sich schon in grauen Matsch verwandelt hatte, noch bevor er auf dem Betonboden des Hofes gelandet war. Jonathan Trabers stand wie immer in der hintersten Ecke und ich ging zu ihm. Schon ein paar Meter bevor ich ihn erreicht hatte, sah ich, dass er weinte. Mein erster Reflex war natürlich, auf der Stelle umzudrehen und mich in irgendeine möglichst weit entfernte andere Ecke des Hofes zu verziehen, aber ich ging einfach weiter. Jonathan hatte mich gesehen und schaute mich an, ohne auch nur einen Versuch zu machen, seine Tränen und seinen Zustand zu verstecken. Grauer Schneematsch in seinen Haaren, seinen Augenbrauen und seinem kurzgeschorenen Bart. Und auf den Wangen zwei mittelgroße Bäche. Keine einzelnen Tränen, sondern richtige Bäche. Zwei kleine Flüsse, die sich unterhalb des Mundes zu einem Strom vereinigten und sich gemeinsam mit dem Schneematsch auf den Boden ergossen. Ich habe niemals vorher oder später in meinem Leben jemanden so weinen gesehen. Und das gespenstische war: Er weinte einfach nur. Die Bäche hatten keinen Klang. Kein Schluchzen. Kein Atmen. Nichts zu hören. Der Schneematsch machte keine Geräusche beim Auftreffen auf unsere Gefängniswelt und Jonathan Trabers Schmerz machte kein Geräusch, als er sich Bahn aus seinem bisher so sorgsam verschlossenen Innenleben brach.
Ich ging direkt auf ihn zu, breitete die Arme aus und umarmte ihn. Und so standen wir für alle Überwachungskameras deutlich zu erkennen: Zwei weinende Männer, die sich fest im Arm hielten, denn auch ich hatte inzwischen mit dem Weinen begonnen. Nicht annähernd so heftig wie Jonathan, aber immerhin: Zum ersten Mal seit 17 Jahren weinte ich und nicht, weil mich Jonathans Sturzbäche so rührten oder ich plötzlich voller Mitgefühl gewesen wäre, sondern weil ich im Moment als ich Jonathan Trabers in meine Arme schloß, mit einer absolut schmerzhaften Klarheit realisierte, dass ich zum ersten Mal seit über 17 Jahren einen anderen Menschen berührte. Wenn man die Schläge in den ersten Jahren des Gefängnisses nicht mitrechnete. Aber die Erkenntnis 17 Jahre keine Berührung gespürt zu haben, lösten noch nicht meine ersten Tränen seit 17 Jahren aus. Das machte erst die Erinnerung an meine Schwester Jennifer, wie sie mir mit 12 Jahren am Abend ihrer Tatortpremiere erklärt hatte, dass Weinen ganz einfach sei.
Und so standen wir eine gute Minute zu einem einzigen weinenden Körper verschmolzen in der hintersten Ecke des Gefängnishofes. Dann kamen zwei Wärter und zogen uns ohne Vorwarnung auseinander.
Als wir das nächste Mal gemeinsam bei der Arbeit saßen, erzählte mir Jonathan seine Geschichte. Ohne die Tränen und die Umarmung zu erwähnen. Natürlich habe auch ich nichts dazu gesagt. Wir schraubten wie immer an unseren Sonnenkollektoren und er liess ununterbrochen Wörter aus seinem Mund fallen. Wörter ohne Emotionen, einfach nur Wörter, die sich zu Sätzen addierten und im Ganzen seine Geschichte ergaben. Ohne Gefühle. Einfach nur eine Geschichte. Und ich hörte sie mir an, ohne etwas dazu zu sagen. Das war schließlich der Normalzustand zwischen uns. Die einzige Möglichkeit im Gefängnis zu kommunizieren. Die einzige Möglichkeit zu überleben.
„Meine Frau hiess Klara und ich habe sie nicht ermordet. Meine Tochter heisst Lina. Sie ist jetzt 14. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich verhaftet wurde. Nicht einmal beim Prozess. Sie wurde von den Richtern und Anwälten alleine vernommen. Sie sollte nicht durch meine Gegenwart belastet werden. Mit dem Urteil – ich habe lebenslänglich ohne die Chance auf Strafmilderung – wurde mir verkündet, dass ich auch nie wieder das Recht haben werde, Lina zu sehen oder auf irgendeine Weise Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber sie haben Lina in die Obhut der Schwester meiner Frau gegeben und Ariana gehörte zu den wenigen Menschen, die mir geglaubt haben, dass ich Klara nicht getötet habe. Deshalb haben sie mir eine Art Kontakt zu meiner Tochter ermöglicht. Die ganzen 10 Jahre. Immer zu Weihnachten kamen sie zu Besuch und erzählten mir von Lina. Keine großen Sachen. Wie sie in der Schule zurecht kam. Welche Süßigkeiten sie am liebsten mochte. Dass sie mit dem Fahrrad hingefallen war und einen Zahn dabei verloren hatte. Dass sie ein Lieblingsstofftier hatte, die Miezi hiess, obwohl es eindeutig ein Hund war. Dass sie ein Jahr lang keine gelbe Kleidung trug, weil sie mit einer Freundin gewettet hatte, die nichts blaues tragen durfte. Wer verlor, musste die andere in den Zoo einladen. Dass die beiden sich kurz vor Ablauf des Jahres furchtbar gestritten hatten und die Wette darum bedeutungslos wurde. Solche Sachen. Und die Geschichten endeten immer mit einem direkten Gruß von Lina: Ich denke an dich, mein Vater. Natürlich wusste ich nie, ob Lina das wirklich gesagt hatte oder ob Ariana das mir zum Trost erfunden hatte, aber ich liess mich gerne trösten.
Ariana erzählte immer nur kurz, weil die Gespräche ja mitgehört werden konnten. Eine Minute und manchmal sprach sie so leise, dass ich kaum etwas verstanden hatte. Diese eine Minute war immer die glücklichste Minute des Jahres. Was ja nicht so schwer war, weil ich ja sonst kein Empfinden mehr für irgendetwas hatte.“
Bei diesem Satz sah mich Jonathan für einen Moment an und ich musste lächeln. Wir brauchten keine Worte, um zu verstehen, dass wir beide dasselbe dachten. Dass es gut war, unser Empfinden abzutöten und dass wir beide verdammt gut darin waren. Mit Ausnahme der Heulerei im weihnachtlichen Schneematsch.
„Dieses Jahr hat Ariana mir einen Zettel vorgelesen“, setzte Jonathan seine emotionslose Wörterreihung fort. „Ich bin jetzt 14. Ich habe seit 10 Jahren keine Mutter mehr. Ich habe seit 10 Jahren so gut wie keinen Vater mehr. Ich weiß nicht, ob diese beiden Dinge ursächlich zusammenhängen. Ich kann mich nicht erinnern, was in dieser Nacht geschehen ist. Ich halte das nicht mehr aus. Und deshalb sind das die letzten Worte, die ich jemals an dich richte. Ich habe keinen Vater mehr.“
Als Ariana das vorgelesen hatte, bin ich aufgestanden, habe den Besuchsraum verlassen und auf den Hof gegangen. Es schneite, aber das habe ich erst später mitbekommen. Ich ging bis in die hinterste Ecke und dann bist du zu mir gekommen und hast mich in den Arm genommen.“
Noch einmal schauten wir uns einen kurzen Moment an und wussten, ohne darüber zu sprechen, dass das der einzige Satz bleiben würde, der jemals über unsere Umarmung gesagt werden würde.
Aber er erzählte mir in den nächsten Wochen seine Version des Mordes an seiner Frau. Und die war ganz anders, als die, die ich bis dahin von den Mitgefangenen gehört hatte.
Der größte Unterschied war natürlich, dass er in seiner Version seine Frau Klara nicht ermordet hatte. Sie nicht zerstückelt hatte, während nebenan seine Tochter schlief. Und die Leichenteile nicht in 7 Plastiktüten aus dem Haus gebracht hatte, um sie in einer Kieferschonung zu vergraben. In seiner Version war seine Frau um cirka halb elf zu Bett gegangen, nachdem sie ihn umarmt und lange geküsst hatte. „Viel Glück“, hatte sie gesagt und das waren die letzten Worte gewesen, die er von ihr gehört hatte. Er hatte sich seine alte Aktentasche genommen, den dunkelgrünen Mantel angezogen, den seine Frau ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte und die Wohnung verlassen. Er setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr etwa zwanzig Minuten zu einer Adresse, wo er noch nie zuvor gewesen war. Dort klingelte er bei einem E. Müller, wurde hereingelassen und blieb bis zum Morgengrauen in dieser Wohnung, in der sich außer ihm noch zwei Frauen und zwei Männer befanden. Dann fuhr er mit dem Fahrrad zurück nach Hause und machte seiner Tochter das Frühstück. Danach brachte er sie in den Kindergarten und erst als er wieder zuhause war, bemerkte er, dass seine Frau nicht mehr da war. Er war nicht sofort beunruhigt, vielleicht war sie einkaufen oder zu irgendwelchen Freundinnen. Aber als sie bis zum Mittag nicht wieder aufgetaucht war, machte er sich doch Sorgen und telefonierte mit Freundinnen und gemeinsamen Bekannten. Niemand hatte sie gesehen oder irgendetwas von ihr gehört. Da ging er zur nächsten Polizeiwache und damit begann das Unglück.
Ich erzähle dir seine Version in einer sich an der Chronologie der Ereignisse orientierenden Reihenfolge, was immer der Begriff der Zeit für solch brutalen Abläufe überhaupt bedeuten kann. Jonathan hielt sich an andere, für mich nicht recht nachzuvollziehende Ordnungsprinzipien. Vielleicht sortierte er die Geschehnisse in emotional für ihn irgendwie erträgliche Häppchen. Oft waren es nur ein, zwei Sätze, hingenuschelt, während wir an den Kollektoren herumschraubten. „Weißt du, Fritz -“, seit wir gemeinsam geweint hatten, benutzte er andauernd meinen Namen, „ich bin mit dem Fahrrad gefahren, zwanzig Minuten.“ Lange Pause. „Und es hat geregnet.“ Und am nächsten Tag machte er bei seinem Besuch auf der Polizeiwache weiter. „Sie haben gesagt, ich soll mich nicht so aufregen, wenn die Frau mal drei Stunden weg ist – und dann haben alle Polizisten gelacht. Fritz, sie haben mich ausgelacht.“
Normalerweise hätte ich ihn bei seiner Erzählweise andauernd Fragen stellen müssen, ihn bitten, mir die Zusammenhänge zu verraten, aber so sprachen wir nicht miteinander. Er liess seine Geschichte in kleinen, nicht sofort zu verstehenden Brocken aus seinem Mund fallen. Ich saß daneben und schwieg. Nicht, dass ich die Geschichte nicht spannend gefunden hätte, aber ich hatte mir ein dickes Polster an Interesselosigkeit für alles um mich herum zugelegt. Einen Kasten aus Stahlplatten, durch den nichts von Bedeutung an mich rankommen konnte, wenn dir dieses Bild mehr zusagt. Nur weil wir eine Minute zusammen in Tränen zerflossen waren, änderte sich daran nichts. Im Gegenteil, solche Gefühlsduseleien würden mir nie wieder passieren. Ich schraubte um die Stahlplatten noch ein paar massive Eichenbretter, um in dem Bild zu bleiben. Mein Herz war gesichert, egal was er mir erzählen würde. Aber spannend war es schon.
Die Polizei fing erst nach drei Tagen an zu ermitteln und damit kam Frau Kleinschmidt ins Spiel. Sie war die direkte Nachbarin der Trabersfamilie. Selber Flur, zur anderen Seite. Die Schlafzimmer lagen nur eine Wand auseinander. Jonathan beschrieb sie als eine etwas einsame Frau undefinierbaren Alters, mit der sie bis dahin eher einen freundlich – distanzierten Umgang gepflegt hatten. Kleiner Tratsch am Briefkasten, über das Wetter, die ewigen Baustellen und wie süss die kleine Lina sei. Mehr nicht, aber in keinem Falle irgendwelche Unannehmlichkeiten.
Aber das hatte er sich vielleicht auch nur eingebildet, denn nachdem die Polizei mit Frau Kleinschmidt gesprochen hatte, wurde er zu einem ersten Verhör auf die Wache gebeten. Sie fragten ihn plötzlich danach, wie denn sein Verhältnis zu seiner Frau gewesen sei. Ob es vielleicht öfter mal Streit gegeben habe und mit der Zeit wurde ihm klar, dass Frau Kleinschmidt behauptet hatte, dass er und Klara andauernd Streit gehabt hätten. In der Nacht ihres Verschwindens hätte sie einen dumpfen Knall gehört und unterdrückte Schreie, als ob jemand auf meine Frau eingeschlagen und ihr dann den Mund zugehalten hätte. Ob er sie vielleicht geschlagen hätte? Das wäre ja wahrscheinlich nicht das erste Mal gewesen. Auch dazu hatte natürlich Frau Kleinschmidt ihren Senf gegeben. Zwei Wochen vor ihrem Verschwinden hätte Klara ein total zugeschwollenes blaues Auge gehabt – sie war, als Lina plötzlich auf die Straße gelaufen sei, ihr hektisch hinterher gesprungen, dabei ausgerutscht und mit dem Gesicht gegen eine Straßenlaterne geknallt – aber, so Frau Kleinschmidt – solche Ausreden kenne man ja zu genüge.
„Ich habe niemals einen Menschen geschlagen. Nicht einmal als Kind. Nicht einmal im Gefängnis. Und schon gar nicht meine Frau.“
Als Jonathan diese Sätze fallen liess, hatte ich Angst, dass er wieder zu weinen anfangen würde, aber auch er hatte sich im Griff. Keine Stahlplatten mit Eichenverschalung wie um mein Herz, aber er dosierte die schmerzhaften Erinnerungen in erträgliche Stückchen.
„Hast du schon mal jemand verprügelt?“
Das war das erste Mal, dass er mir eine Frage gestellt hatte. Ich fiel fast vom Stuhl.
„Hast du jemand geschlagen? Bist du schon mal gewalttätig geworden?“
„In der Schule habe ich mich oft mit anderen Jungs geprügelt, aber das hörte mit der Pubertät auf.“ Keine Ahnung, warum ich geantwortet habe. Und dann habe ich sogar noch gesagt, „aber du weißt schon, dass ich auf unseren Präsidenten geschossen habe?“
„Aber das war mit Platzpatronen, das zählt nicht“, sagte er.
„Was redest du da?“
„Fritz“, sagte er, „du musst mir nichts vorspielen. Ich weiß das hundertprozentig und ich respektiere deine Schweigsamkeit. Vor Gericht und mir gegenüber. Du musst mir nichts erzählen und wenn du willst, höre ich sofort auf, dir meine Geschichte aufzudrängen.“
Wir schwiegen beide sehr lange. Minuten lang. Ich wollte wissen, woher er hundertprozentig wissen konnte, dass ich mit einer Platzpatrone auf von Barkhausen geschossen hatte. Ich hatte die Pistole eigenhändig geladen und niemand hatte sie danach in der Hand gehabt. Und dann fiel mir natürlich der Moment ein, als Johanna die Pistole entdeckt hatte. Konnte sie zu einem späteren Zeitpunkt die Patronen ausgetauscht haben? Und warum sollte sie das getan haben? Und warum hatte sie mir dann nichts davon gesagt? Und wie konnte Jonathan Trabers davon wissen? Fragen, eine bekloppter als die andere, aber mein Kopf platzte fast von diesen Fragen und in diesem Moment war es plötzlich wieder da: KLICKKLACK KLICKKLACK. Weit über 10 Jahre hatte ich es nicht mehr gehört, aber da war er wieder in meinem Kopf: Brandon Ford ging erneut die Treppe herunter. Und natürlich schwieg ich jetzt erst recht. Diese Fragen würde er mir in der Paradise Beach Bar in Monastir beantworten müssen.
Kurz vor dem Ende unserer Arbeitsschicht machte Jonathan Trabers noch einmal den Mund auf.
„Fritz“, wieder sprach er mich mit meinem Namen an und dieses Mal wiederholte er ihn sogar, „Fritz, wie gesagt, ich respektiere deine Schweigsamkeit, aber es tut mir auf eine völlig unerwartete Weise sehr gut, dir meine Geschichte zu erzählen. Das schenkt mir so etwas wie Frieden. Also, wenn es für dich...
„Du kannst gerne weiter erzählen“, unterbrach ich ihn, „aber ich werde dir nichts von meiner Geschichte erzählen, denn ich habe meinen Frieden bereits.“
Da lächelte er wieder. „Das glaube ich dir zwar nicht, aber ich werde dich selbstverständlich in Ruhe lassen“, sagte er. „Aber ich habe meine Frau nie geschlagen“, kehrte er wieder an den Punkt zurück, wo er mit seiner Frage an mich den Fluss seiner Erzählung unterbrochen hatte.
„Das sagtest du bereits“, wies ich ihn etwas unfreundlich zurecht „und jetzt ist erst mal Feierabend.“
Kapitel 5
Die nächsten Tage habe ich immer wieder überlegt, irgendwie Kontakt zu Johanna aufzunehmen, ob sie wegen der Platzpatronengeschichte vielleicht ermitteln könne. Immerhin war sie früher mal Anwältin gewesen. Aber sie war auch der einzige Mensch, der eine Möglichkeit gehabt hätte, die Patronen auszutauschen. Die Möglichkeit ja, aber warum hätte sie das tun sollen? Um mich zu schützen? Aber warum hatte sie mich dann aufgefordert, die Pistole mit nach Berlin zu bringen? Und als sie auf von Barkhausen gezielt hatte, wirkte sie überhaupt nicht wie jemand, die wusste, dass sie damit niemand erschiessen könne. Nein, sie wollte ihn umbringen. Definitiv. Also hatte sie die Patronen nicht ausgetauscht. Aber wer dann?
Komischerweise habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass Jonathan mir nicht die Wahrheit erzählt hatte. Er hatte mir versprochen, mich nicht zu belügen. Und egal, woher er die Information haben konnte, sie musste wahr sein. Komische Männerverbündungsphantasien. Blutsbrüder. Männer, die zusammen geheult haben, sagen einander die Wahrheit.
Von heute aus betrachtet, wirkt mein Vertrauen ziemlich lächerlich, aber um ausnahmsweise der Chronologie vorzugreifen: Er hatte mich nicht belogen. Nicht damit. Irgendjemand hatte die scharfe und mit ziemlicher Sicherheit aus einem Meter Entfernung tödliche Patrone durch eine harmlose Theatermunition ersetzt. Ich habe bis heute keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte, aber dass es so war, steht ausser Frage. Es dauerte nur noch ein paar Jahre, bis ich die Bestätigung bekam und ich in der Folge entlassen wurde.
Vielleicht hätte ich meine Freilassung beschleunigen können, wenn ich nach Jonathans Informationen sofort gehandelt hätte, aber nach ein paar Tagen etwas aufgeregten Nachdenkens kam ich zu dem Schluss, dass es letztlich vollkommen egal war. Ich wusste schon seit vielen Jahren, dass ich frei kommen würde. Ich würde mit Brandon Ford in der Paradise Beach Bar sitzen. Egal, was ich unternehmen würde. Ob ich ein paar Jahre länger im Gefängnis sitzen würde, war mir egal. Ich hatte ein Zimmer. Ich hatte zu essen. Ich hatte eine Arbeit. Bücher und Rätselhefte. Und ich hatte einen Freund. Besser würde es draußen auch nicht werden.
Jonathan wartete zwei, drei Wochen, bis er weiter erzählte und ich fasse wieder alles in der richtigen Reihenfolge zusammen. Also in der Reihenfolge, die für mich am ehesten Sinn macht. Wenn ich dir die Geschichte aus meiner heutigen Perspektive, mit 93 Jahren im Luna Tower in Colombo sitzend, erzählen würde, würde mir das Kotzen kommen. Nur soviel: Ich bereue sehr wenig bis nichts in meinem langen, langen Leben, aber meine Rolle in Jonathan Trabers Lebensgeschichte ertrage ich nicht. Ich will, dass du sie so erlebst, wie ich sie erlebt habe. Vielleicht verstehst du dann, warum ich so handeln musste, wie ich es getan habe.
Jonathan stand nach Frau Kleinschmidts Aussage ziemlich unter Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben, aber es gab ja keine Leiche. Irgendwann durchsuchte die Polizei die Wohnung, aber sie fanden keine Blutspuren. Außer ein paar ältere Tropfen in der Küche und die waren laut Jonathan von Klaras Kopfverletzung, als sie gegen den Laternenpfahl geknallt war.
Immer wieder erzählte Jonathan von einem kurzen Gespräch, das er in dieser Zeit mit Frau Kleinschmidt geführt hatte, als sich die beiden bei den Briefkästen getroffen hatten.
„Warum tun Sie das?“, hätte er mit zitternder Stimme gefragt, aber Frau Kleinschmidt hätte nicht geantwortet. Sie hat ihren Briefkasten offen gelassen und ist schnell die Treppe rauf gestiefelt. Aber nach einem kurzen Moment ist sie wieder zurück gekommen. Also nur bis zum Treppenabsatz. Und dann hat sie mit einer eiskalten Stimme gesagt, dass sie das tue, weil es die Wahrheit sei. „Aber ich liebe meine Frau“, hatte Jonathan noch gesagt, und da wurde Frau Kleinschmidt plötzlich sehr laut: „Sie sind ein Monster!“, schrie sie. Und dann rief sie um Hilfe, bis in verschiedenen Stockwerken Türen aufgingen und andere Nachbarn auf der Treppe erschienen. „Er hat mich bedroht“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme, „dieses Monster will mich umbringen! Genau wie seine Frau!“ Und dann rannte sie nach oben. Jonathan stand die ganze Zeit regungslos neben den Briefkästen. Keiner der Nachbarn hat ein Wort mit ihm gesprochen und Frau Kleinschmidt hat er erst ein knappes Jahr später vor Gericht wieder gesehen, weil sie schon am nächsten Tag aus dem Haus ausgezogen war.
Ein paar Tage später kam es wieder zu einem Verhör. Jonathan solle erzählen, warum er nachts die Wohnung verlassen habe. Und da wurde es schwierig für ihn. Er gab zu, dass er kurz nach halb elf die Wohnung verlassen hatte, nachdem seine Frau ins Bett gegangen war. Und er sei erst im Morgengrauen zurück gekommen. Wo er gewesen sei?, wollte die Polizei natürlich wissen. An der Elbe, habe er gesagt, er sei spazieren gegangen, die halbe Nacht, er leide seit etwa einem halben Jahr an Schlaflosigkeit, deshalb mache er das manchmal, anstatt seine Frau durch ewiges Lesen oder unruhiges Hin und Herwälzen auch noch vom Schlafen abzuhalten.
Die Polizei hat ihm nicht geglaubt. Ich habe ihn nur fragend angesehen, dann hat er mir erzählt, dass er sich, genau wie seine Frau, seit von Barkhausens Machtübernahme im Widerstand rumgetrieben habe. Sabotageakte, Computerhacks, strikt gewaltlos, falls das für mich wichtig wäre und das Treffen, zu dem er mit dem Fahrrad in dieser Nacht gefahren ist, sei mit seiner Gruppe gewesen. Wenn er sie irgendwann benannt hätte, um sein Alibi bestätigt zu bekommen, wären sie alle im Knast gelandet und das hätte er einfach nicht gekonnt. Er hätte immer gedacht, dass die Wahrheit irgendwann auch so ans Licht kommen würde und er wollte sich nicht schuldig an so viel Unglück machen.
„Aber dass deine Tochter damit nach der Mutter auch noch den Vater verlor, dass konntest du zulassen?“
Das wollte ich sagen, aber ich habe den Mund gehalten. Ich sagte es ja schon, Männer, die zusammen geweint haben, tun sich nicht weh.
Es dauerte dann noch ein paar Monate bis ein Mann mit seinem Schäferhund im Klövensteen, einem ehemaligen Naherholungsgebiet am Rande der Hamburger Elbvororte spazieren ging, um Pilze zu suchen. Er hatte da eine geheime Lieblingsstelle, von der er glaubte, das keine anderen Pilzsucher sie kannte. Aber an diesem Tag war dort nicht ein Pilz zu finden. Und schlimmer noch, an vielen Stellen mussten bis vor kurzem noch welche gestanden haben. Hauptsächlich Birkenpilze, aber auch ein paar Steinpilze, wie er an den fein säuberlich abgeschnittenen Resten erkannte. Der Mann wurde sauer, richtig sauer, wie es in seiner Aussage festgehalten wurde, als ob das irgendeine Bedeutung für den Fall hatte. Seine geheime Stelle, ausgeräubert! Und dann drehte noch der Hund durch. Von einer Sekunde auf die andere. Rannte weg, obwohl er das sonst niemals tat. Verschwand nach ein paar Metern in einer Kieferschonung und da buddelte er wie verrückt in der Erde.
Bis der inzwischen richtig schlechtgelaunte Pilzsucher seinen Hund beruhigt hatte, hatte der schon die erste Plastiktüte ausgegraben und leckte an den Überresten von Klaras Schulter.
Um diesen ziemlich schrecklichen Teil der Geschichte abzukürzen: Die Plastiktüten waren Mülltüten, wie sie überall in Jonathans Wohnviertel benutzt wurden und auf dreien davon wurde DNA von Jonathan gefunden.
Er kam sofort in Untersuchungshaft und da er immer noch bei seiner Geschichte blieb, er wäre die halbe Nacht wegen seiner Schlaflosigkeit allein an der Elbe spazieren gegangen, wurde er angeklagt und ein paar Monate später kam es zum Prozess. Als er merkte, dass er mit ziemlicher Sicherheit verurteilt werden würde, widerrief er seine Aussage und gab an, dass er mit dem Fahrrad zu einem Treffen mit Freunden gefahren wäre, aber die zwei Frauen und zwei Männer waren zu diesem Zeitpunkt untergetaucht und so hatte er weiterhin kein Alibi. So wurde er zu lebenslänglich verurteilt. Ohne Geständnis, ohne einen wirklichen Nachweis. Die DNA Spuren waren der entscheidende Punkt. Jonathans Anwalt versuchte nachzuweisen, dass sie auch über die Kleidung seiner Frau an die Plastiktüten gekommen sein könnten, aber das offizielle Gutachten schloß diese Möglichkeit kategorisch aus. Und dann kam noch das mysteriöse Auto dazu. Ganz in der Nähe der Leichenfundstelle hatte man schon Wochen zuvor einen ziemlich schrottigen Pkw gefunden, der wohl absichtlich dort zurückgelassen wurde. Da Jonathan immer angeführt hatte, dass er kein Auto besaß und er ja wohl kaum die Leichenteile in einem Taxi in den Klövensteen gebracht haben konnte, hatte man die Schrottkarre minutiös untersucht und im Kofferraum Blutflecken gefunden, die eindeutig von Klara stammten und am Armaturenbrett und an drei Stellen am Vordersitz ebenfalls DNA von Jonathan festgestellt. Das reichte für die Todesstrafe, die in der Berufung wegen einiger kleiner Verfahrensfehler in verschärftes Lebenslänglich umgewandelt wurde.
„Die haben meine Frau nur meinetwegen umgebracht.“
Diesen Satz sagte Jonathan unendlich oft. „Die haben Klara nur meinetwegen umgebracht.“ Immer wieder. In seinem monotonen Genuschel. „Die haben Klara nur meinetwegen umgebracht.“
Bei aller Tragik gingen mir diese Wiederholungen ziemlich auf die Nerven. Er hatte für die Geschichte bis zu dieser Stelle immerhin schon mehrere Monate gebraucht. Also sagte ich ihm nach dem gefühlten 50ten Mal, er solle endlich damit aufhören, das würde mich total ermüden.
Und dann wollte ich noch wissen, wer denn „Die“ wären?
Die Schweine vom ZEG, sagte er und dann steigerte er sich in einen unglaublichen Wortschwall hinein. Er schien alles nachholen zu wollen, was er in den Jahren seiner wortkargen Schweigsamkeit versäumt hatte. „Diese Wichser, weil sie uns nichts nachweisen konnten, haben sie Klara wie ein Schwein abgestochen. Was die Kleinschmidt in dieser Nacht gehört haben will, das waren diese Arschlöcher. In unserem Bett haben die sie abgestochen. Diese feigen Arschgesichter. Genau wie Frau Kleinschmidt es gehört hatte: Erst hat ihr einer mit einem Baseballschläger oder sowas den Kopf halb zertrümmert – auch das hatte man an den Leichenteilen noch feststellen können, dann haben zwei oder drei andere sie festgehalten und einer hat ihr den Mund zu gehalten, bis sie erstickt ist – das hatte sich nicht mehr mit Sicherheit ermitteln lassen. Und dann diese feigen Arschgesichter Plastikfolien unter den Körper geschoben und erst dann haben sie sie mit dem Messer – das wurde übrigens nie gefunden, auf sie eingestochen. Dann haben die sie zerteilt, in die Plastiktüten gepackt, die sie vorher mit Hilfe meiner Zahnbürste oder was auch immer mit meiner DNA vollgepackt haben, dann alles in die vor dem Haus parkende Schrottkarre gepackt und in den Klövensteen gefahren.
Und der Pilzsucher gehörte natürlich auch zu der Bande. Das war alles ein abgekartetes Spiel, um Jonathan aus dem Verkehr zu ziehen. Solche Geschichten hat es zu Hunderten gegeben. Das weißt du doch, Fritz. Diese Arschgesichter haben so nahezu den gesamten Widerstand ausgeschaltet. Umgebracht. Ins Gefängnis gesteckt. Das war alles der Geheimdienst. Diese Arschgesichter von der ZEG. Das lief doch schon seit Anfang der dreißiger Jahre so. Was glaubst du denn, wer war an den Morden in den weißen Nächten schuld war? Irgendwelche fehlgeleiteten rechten Schläger? Durchgeknallte Einzeltäter, die sich ganz zufällig zu einem riesigen Mob vereinten und dann über 100 friedlich demonstrierende, weißgekleidete Menschen totgeschlagen haben? Wie hieß der Freund deiner Schwester nochmal, der Äthiopier?“
„Djakery“, sagte ich und sah mich wieder in der weißen Nacht mit meinen drei Bier in der Hand auf den aus der Menge herausragenden weißen Zylinder von Djakery zu gehen, als die Mörder plötzlich alles um uns herum niedertrampelten.
„Ja, Djakery, ich habe ihn nur ganz kurz kennengelernt, aber ich kannte Jennifer schon etwas länger.“
„Du kanntest Jennifer?“
„Ja, ein bisschen. Ich war ja noch ziemlich jung damals, aber wir waren beide in der Gruppe der 12. Also eigentlich waren wir ja dann 13, als Djakery dazu kam, aber wir blieben bei dem Namen. Auch bis zu der Nacht, in der sie Klara massakriert haben, waren wir immer noch die Gruppe der 12, obwohl die Hälfte da schon tot war.“
„Ist Jennifer am Leben?“
Erst als ich diese Frage gestellt hatte, hörte Jonathan mit seinem hektischen Gerede auf.
Er machte eine Pause und sah mich an. Er legte seine Hand auf meine und in diesem Moment merkte ich, wie sehr ich zitterte.
„Ich habe keine Ahnung, ich bin seit über 10 Jahren im Gefängnis, aber ich bin mir sicher, wenn sie nicht mehr am Leben wäre, hätten wir davon gehört.“
„Wo ist sie?“
„Selbst wenn ich das wissen würde, würde ich es dir nicht sagen. Du weißt doch, dass hier alles mitgehört wird. Mich wundert es überhaupt, dass sie noch nicht hier sind.“
In diesem Moment kamen vier Wärter in unseren Arbeitsraum. Einer schlug Jonathan ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Ich bekam Handschellen an und wurde sofort hinausgeführt. Solange ich im Gefängnis war, sah ich Jonathan nicht wieder.
Kapitel 6
Ich arbeitete weiter in der Kollektorenabteilung, aber Jonathan tauchte dort nicht mehr auf. Auch auf dem Hof begegneten wir uns nicht mehr. Einer der Wärter, den ich schon seit über 10 Jahren kannte, hat mir in wenigen Sätzen erklärt, dass wir getrennt worden wären, weil die Algorithmen in den Überwachungskameras beim Auftauchen bestimmter Begriffe automatisch einschritten und Jonathans Tirade von den „Arschgesichtern bei der ZEG“, er sagte das sehr leise und betätigte gleichzeitig die Klospülung, hatte den Algorithmus gehörig erschreckt und in Folge dessen hatten die zuständigen Vollzugsbeamten entschieden, dass wir keinen Kontakt mehr haben sollten, weil wir uns gegenseitig psychisch destabilisieren würden. Als ob das Beschimpfen von Geheimdienstmitarbeitern meine psychische Festigkeit in irgendeiner Weise beeinflußen konnte.
Ich dankte dem Wärter für seine Informationen und sagte noch, dass ich bedauern würde, dass ich Jonathan vermutlich nicht so bald wiedersehen würde, weil ich seine Gesellschaft doch ganz amüsant gefunden hätte.
„Amüsant?“, wiederholte der Wärter, „ich fände bewegend angesichts euer Tränenflut doch ein angemesseneres Adjektiv.“
Ich schwieg dazu, denn mir war klar, dass er mir das nur gesagt hatte, um mir deutlich zu machen, dass auch unsere Umarmung nicht unbeobachtet geblieben war.
„Dann werde ich Jonathan nicht mehr sehen, solange ich im Gefängnis bin“, sagte ich in einem möglichst distanzierten Tonfall, wie eine abschließende Zusammenfassung eines relativ langweiligen Gesprächs.
„Da kannst du sicher sein“, sagte der Wärter und ging nach draußen. Bevor er die Tür schloß, drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte „das muss ja aber nicht mehr so lange sein.“
Das war das erste Mal, dass ich eine Andeutung hörte, dass ich in bald entlassen werden könnte. Ich wusste ja, dass es in den nächsten zirka drei Jahren passieren musste, aber bis dahin hatte ich keine Ahnung, wie es dazu kommen sollte. Ich hatte lebenslänglich ohne die Chance auf frühere Begnadigung bekommen und nichts deutete bis dahin daraufhin, dass sich das ändern könnte.
Aber ab jetzt ging alles überraschend schnell und das hatte nichts mit den Ereignissen innerhalb des Gefängnisses zu tun, sondern mit den Entwicklungen auf der großen politischen Bühne. Die wirtschaftliche Lage in „Zentraleuropa“ hatte sich durch die Auswirkungen der immer deutlicher hervortretenden Klimaveränderungen und den Kosten durch die sogenannten Korridorkonflikte immer mehr verschlechtert und wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, sorgt das meistens für eine Destabilisierung der herrschenden Machtverhältnisse. Mit anderen Worten: Von Barkhausen ging es Mitte der 50er Jahre mit immer größerem Tempo an den Kragen. Europa war zu diesem Zeitpunkt in mehrere kleinere Blöcke zerfallen, die in wechselnden Koalitionen mit – oder gegeneinander arbeiteten. An den Rändern dieser Blöcke waren fast überall sogenannte Korridore entstanden, die meist relativ klein waren und in denen das herrschte, was man früher Krieg genannt hatte. Computersyteme schossen mit Raketen aufeinander. Und dabei gingen Häuser, Straßen und die komplette Infrastruktur zu Bruch. Und Menschen starben. Das war noch immer so. Viele dieser Toten waren Menschen auf der Flucht, die oft in diesen Korridoren in riesigen Lagern lebten und deren Verbleiben in den Korridoren zu den wichtigsten Zielen aller an den Konflikten beteiligten Ländern gehörte. Die Menschen schossen nicht mehr tatsächlich aufeinander. Das überliessen sie ihren „automatisierten Systemen“: Drohnen, computergesteuerte Raketen und das ganze Zeug, was seit der Jahrtausendwende immer mehr den größten Gewinn der internationalen Waffenunternehmen ausmachte. Die Korridorkonflikte wechselten in immer schnelleren Rhythmen. Manchmal dauerten sie nur Wochen und dann gab es einen Durchbruch auf irgendeiner Friedenskonferenz. Waffenstillstände allerdings dauerten manchmal Jahre, aber in so einer Waffenstillstandszeit entwickelten sich die Korridore oft zu eigenen kleinen Staaten, die dann irgendwann mit anderen Staaten neue Korridorkonflikte zur Welt brachten.
Das war die Entwicklung in Europa, die allerdings weltweit in ähnlicher Weise zu beobachten war. Teile von Afrika, Südamerika und Asien entwickelten sich zu ebenfalls immer kleineren Einheiten mit Korridorkonflikten um sich herum, während allerdings andere Teile in diesen Gegenden sich im Gegenteil eher zusammenschlossen. Diese waren die Staaten, die man noch am ehesten als irgendwie demokratisch bezeichnen konnte. Die USA zerbrachen ab der Mitte der 50er endgültig und wurden ab da ebenfalls in kleinere Einheiten mit einer Unzahl von Korridorkonflikten verwandelt. Überraschend war es bei diesen vielen, scheinbar nicht zu kontrollierenden Krisenherden oder wie man es früher genannt hätte, bei der Unzahl von kleinen Kriegen, dass diese nicht in einen großen mündeten. Der dritte Weltkrieg hatte immer noch nicht stattgefunden.
Von Barkhausen herrschte jetzt über 20 Jahre in Zentraleuropa, aber in den letzten Jahren hatte sich innerhalb seiner Partei der Mitte eine Gruppe von hohen Funktionären herausgebildet, die immer unzufriedener mit seiner Präsidentschaft wurde, je länger diese andauerte. Sie wollten nicht wirklich eine andere Staatsform oder gar zurück zur Demokratie, sondern sie wollten einen deutlich größeren Teil vom Kuchen haben, denn von Barkhausen hatte, wie es in jeder Diktatur irgendwann geschah, ein System aufgebaut, dass seine Günstlinge mit einem großen Teil dessen ausstattete, was ein gutes Leben angeblich ausmachte: Geld.
Diese Gruppe hatte sich 2055 dazu entschlossen, den Kampf mit dem gar nicht mehr so allmächtigen Präsidenten aufzunehmen und natürlich geschah das zuerst vor allem mit einer gezielten Informationskampagne. Mit Hilfe einiger Medienkonzerne, die zu einem großen Teil immer noch international agierten, lancierten sie in der Bevölkerung Bilder von unglaublichem Reichtum und Verschwendung, die die herrschende Barkhausenclique in kürzester Zeit ziemlich in Bedrängnis brachten. Sie lebten in Saus und Braus, während es den meisten Menschen in Zentraleuropa wirtschaftlich schlechter und schlechter ging. Und diese Menschen gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen und demonstrierten gegen ihre eigene Regierung. Natürlich reagierte diese mit den üblichen Gewaltexzessen. Schießereien, Verhaftungen ohne Rechtsgrundlage und eine Gegenkampagne von unbewiesenen Behauptungen gegen die Anführer der Revolte. Sie wurden verdächtigt, Zentraleuropa auflösen zu wollen und an England und Nordrussland, das waren zu dieser Zeit die Gegner auf der nördlichen Seite der Korridorkonflikte, verkaufen zu wollen.
Im Gefängnis bekamen wir davon allerdings nicht viel mit, denn unser Internetzugang war natürlich extrem gefiltert, wir bekamen Sport, Tierfilme, irgendwelche Kitschserien und Softpornos, aber natürlich keine politischen Nachrichten oder gar Informationen aus den Korridoren.
Aber im Oktober 2055 bekam ich plötzlich Besuch von zwei Männern, von denen ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Sie stellten sich als Lars Meier und Sven Schulzdorf vor, aber ich hatte das Gefühl, dass das nicht ihre echten Namen waren. Ich wurde von meinem Wärter abgeholt und in ein Büro in einem mir unbekanntem Teil des Gefängnisses gebracht.
Dort wartete ich alleine an einem großen Schreibtisch, der aber bis auf 2 Laptops vollkommen leer geräumt war. Nach ein paar Minuten kamen die beiden Herren herein, stellten sich mit Handschlag vor und setzten sich zu mir. Ich musste an Jonathan denken, weil ich aus irgendeinem Grund sofort davon überzeugt war, dass die Herren Meier und Schulzdorf Arschgesichter von der ZEG waren.
Sie legten ihre Handys vor sich auf den Tisch und schalteten sie aus. Dann machten sie dasselbe mit den Laptops. Während der ganzen Zeit lächelten sie mich an.
„Na, wie fühlt sich das an?“, fragte mich der, der sich Lars Meier genannt hatte.
Ich zuckte nur kurz mit den Schultern, um ihm deutlich zu machen, dass ich keine Ahnung hatte, was er mit „das“ meinte.
Sven Schulzdorf übernahm, „Lars meint, wie sich das anfühlt, zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren an einem Ort zu sein, wo Sie nicht überwacht werden. Kein Algorithmus hört mit, was wir sagen, keine Kamera zeichnet Ihre emotionalen Reaktionen auf und jagt sie in Echtzeit durch einen Gefühlsscanner. Es ist egal, ob Sie bei dem, was wir Ihnen gleich verraten werden, lachen oder in Tränen ausbrechen, kein Arschgesicht von der ZEG wird das jemals erfahren.“
Ich entschied mich zu schweigen. Die Herren Meier und Schulzdorf gingen mir vom ersten Moment an auf den Keks. Sie waren sehr von sich und ihrer Wichtigkeit überzeugt, also schwieg ich.
Aber das konnten sie auch ganz gut.
Nach einer halben Minute etwa sagte Sven zu Lars „ich glaube, er glaubt uns nicht.“
Lars grinste daraufhin ein sehr sehr breites Grinsen: „Vielleicht überzeugt ihn das?“, sagte er zu Sven. Und dann rief er sehr laut: „Von Barkhausen ist ein Arschloch.“
Dann wieder Schweigen, das dieses Mal ich brach: „Von Barkhausen ist ein Mörder.“
„Natürlich“, sagte Lars und hörte sofort auf zu grinsen. „Er ist ein Mörder und es hätte der Welt sehr viel Elend erspart, wenn du ihn damals erschossen hättest.“
„Aber mit Platzpatronen kann man ja niemand erschiessen“, fügte Sven hinzu.
Wenn ich zu diesem Zeitpunkt etwas von Brandon Ford gelernt hatte, dann war das, meine emotionalen Reaktionen zu beherrschen. Mir nicht einen winzigen Moment anmerken zu lassen, was gerade in mir vorging. Kein unkontrolliertes Atmen, kein Augenzucken, kein Verschieben der Lippen oder eine Erhöhung der Spannung in meinen Kiefern verriet, was ich dachte oder empfand. Brandon Ford spielte natürlich noch einmal in einer anderen Liga. Er konnte einen ja zu Tode starren, ohne dass auch nur der winzigste Muskel in seinem Gesicht verriet, was er fühlte, ja, ob er überhaupt etwas fühlte. Aber ich war in den 20 Jahren Gefängnis zumindest in seine Nähe gelangt.
Sven und Lars waren sicher auch nicht schlecht. Wenn man beim Geheimdienst arbeitet, ist es sicher eine der Grundvoraussetzungen, das man sich und seine Befindlichkeiten im Griff hat. Nur dann übersteht man auch nur die Eingangsüberprüfung. Wir starrten uns wieder mindestens eine Minute schweigend an, dann lächelte zur Abwechslung einmal ich und fragte schlicht und einfach „Was wollen Sie von mir?“
Sven übernahm jetzt das Reden. Lars gab nur noch den neutralen Beobachter.
„Warum haben Sie das in keinem Verhör erwähnt? Nicht einmal in der Sonderbehandlung haben Sie gesagt, dass Sie mit einer Platzpatrone geschossen haben. Wir fragen uns, welchen Plan Sie damit verfolgt haben? Es hätte sich doch durchaus strafmindernd auswirken können.“
Ich wartete ein paar Sekunden. Ich wusste ja, dass ich frei kommen würde. Nur nicht auf welche Weise. Es sprach viel dafür, dass in diesem Gespräch die Weichen für meine Freilassung gestellt wurden, aber ich würde hier keine Antwort auf meine Frage bekommen, wer die Platzpatrone in die Pistole getan hatte. Das würde mir Brandon Ford beantworten. Oder niemand. Also musste ich Lars und Sven gegenüber besser so tun, als ob ich selbstverständlich wusste, dass ich mit einer Platzpatrone geschossen hatte. Die ganze Geschichte war 20 Jahre her, die beiden waren damals höchstens Teenager gewesen und selbst wenn sie alle Prozess- und Verhörakten studiert hatten, hatten sie keine Ahnung, was damals wirklich vorgegangen war. Sie schienen gegen von Barkhausen und seine Clique zu sein, also entschied ich mich für den direkten Angriff.
„Wenn dieses Gespräch länger als eine Minute dauern soll, bitte ich um das Vermeiden von Lügen und das fängt schon mit Ihrer Sprache an. Was meinen Sie, wenn Sie von Sonderbehandlung sprechen? Nein, antworten Sie nicht. Sie meinen Folter. Elektroschocks, Waterboarding und die mittelalterlichen Daumenschrauben, für die einige ihrer Vorgänger so eine Vorliebe hatten und die für diese Narben hier verantwortlich sind.“
Ich zeigte ihnen kurz meine verkrüppelten Daumen.
„Also wenn wir miteinander sprechen, dann sagen wir die Wahrheit. Sie sagen Folter, wenn Sie Folter meinen. Nur so als Beispiel.“
Sven atmete hörbar aus. Er konnte mir nicht das Wasser reichen. Schon die Daumen hatten ihn gekriegt.
„Das tut mir leid“, sagte er und es klang exakt so, als meinte er es auch. „Deswegen sind wir hier. Damit das alles aufhört. Die Folter. Die Morde. Die Lügen. Die Kriege. Die Ungerechtigkeit. Also die Wahrheit: Warum haben Sie nicht einmal unter Folter von den Platzpatronen erzählt? Sie mussten doch wissen, dass wir es wussten?“
„Ganz einfach“, sagte ich und ich wusste, die nächsten Sekunden würden entscheiden, wie das hier weiter ging, „ich habe davon erzählt. Ich habe unter Schmerzensschreien davon 'erzählt', ich habe davon geheult und in meiner eigenen Scheiße liegend mit zittriger Stimme davon geflüstert. Aber es hat niemand interessiert. Es hat die ganze Zeit niemand interessiert, was ich erzählt habe. Das einzige, was ihre Vorgänger interessierte, war mir und tausend anderen Schmerzen zu bereiten und sich daran aufzugeilen.“
„Noch einmal: Das tut mir leid“, fuhr Sven fort. „Aber in den Akten konnten wir nichts dergleichen finden.“
„Ich hatte wie gesagt nicht das Gefühl, dass Ihre Folterknechte in irgendeiner Weise am Führen von Gesprächsprotokollen interessiert waren. Und wenn es Ihnen nicht zu sehr missfällt, wenden wir uns doch lieber der Gegenwart zu. Die Folter ist 20 Jahre her. Ich habe überlebt und ich kann mit den Daumen das meiste machen, was man mit Daumen so machen kann und bis auf immer wieder auftretende Rückenbeschwerden und einigen kleineren Nervenschwächen habe ich die Behandlung Ihrer Vorgänger einigermaßen überstanden. Also, warum sprechen wir hier und jetzt über Platzpatronen?“
„Wie wir alle drei gesagt haben, Robert von Barkhausen ist ein Mörder, ein Diktator und er beutet uns alle bis auf das Blut aus, nur um sich in seiner Machtfülle zu suhlen. Aber es gibt inzwischen Gott sei Dank eine ganze Menge Menschen, die dieser Meinung sind und die viel dafür tun, damit das endlich ein Ende hat. Jeden Tag sind hunderttausende auf den Straßen und in der Armee hat unsere Bewegung große Unterstützung. Aber bei vielen Menschen genießt von Barkhausen persönlich immer noch ein hohes moralisches Ansehen. Seine Partei mag eine Bande von korrupten Arschlöchern sein, aber er selbst ist das Bollwerk gegen die Feinde Zentraleuropas. Der Mann mit dem unbestechlichen moralischen Kompass. Der Mann, der immer wieder Gerechtigkeit gegenüber seinen Feinden geübt hat. Der die Terroristen aus den weißen Nächten begnadigt hat. Ich weiß, Ihre Freunde waren keine Terroristen. Ihre Schwester war keine Terroristin, aber so ist nun einmal die Sprachregelung seit mehr als zwanzig Jahren.“
Ich weiß, ich hätte an mich halten sollen, aber als er Jennifer erwähnte, war es mit meiner Super Beherrschung vorbei. Ich setzte mich aufrecht hin und sprach laut und mit einer völlig unnötigen Schärfe. „Lassen Sie meine Schwester aus dem Spiel. Sie ist der friedlichste Mensch, der jemals gelebt hat.“
Plötzlich mischte sich Lars wieder in das Gespräch ein. „Wenn es für Sie friedlich ist, einen Menschen, der am Boden liegt, mehrmals mit voller Wucht mit dem Stiefel in den Unterleib zu treten, dann haben Sie wahrscheinlich recht.“
„Jennifer hat das nicht gemacht und wir beenden jetzt besser diese Unterhaltung. Ich hatte sie um die Wahrheit gebeten, aber woher sollen Sie beide wissen, was das sein soll. Wahrheit?! Sie sind in der Diktatur groß geworden. Das ist alles vollkommen lächerlich hier.“
„Es gibt genug Bilder, die ihre Schwester bei den Tritten zeigen. Aber lassen wir das. Sie hatte auch genug Grund, diesen Typen tot zu treten, nach dem, was er ihrem Freund angetan hatte. Sven wollte Ihnen nur klar machen, wofür wir Sie brauchen. Von Barkhausen hat immer noch bei vielen dieses Gerechtigkeitsimage, der Mann, der immer wieder seinen Feinden vergeben hat. Und das beste Beispiel dafür sind Sie: Der Attentäter. Ihre Freundin Johanna ist schon lange frei, obwohl sie mit der Pistole auf von Barkhausen gezielt hat. Und Sie sind zwar nicht frei, aber sie leben. Obwohl Sie auf den Präsidenten geschossen haben. Er persönlich hat die für einen Attentäter selbstverständliche Todesstrafe in Lebenslang umgewandelt. Dafür lieben ihn die Menschen immer noch. Er gilt als gerecht und gnadenvoll.“
„Und dafür brauchen Sie mich.“ Ich hatte verstanden und es war mir klar, dass das mein Weg in die Freiheit war. Mein Weg zum Treffen mit Brandon Ford in der Paradise Beach Bar. Ich sah die zuckrigen Drinks vor mir und hörte Brandon Ford sagen, „dann komm mal mit.“
„Genau: Wir haben die echten Untersuchungsergebnisse über das Attentat, in denen einwandfrei festgestellt wird, dass Sie mit einer – nicht einmal besonders lauten – Platzpatrone geschossen haben. Der Präsident hatte allerhöchstens ein paar angekokelte Haare, aber keinen Tropfen Blut verloren, keine Schulterwunde, das ist alles hinterher geschminkt worden. Wir können das alles lückenlos beweisen, aber das Beste wird sein, wenn der Attentäter selbst gesteht, dass er die Pistole nur mitgenommen hatte, um seiner Forderung nach demokratischen Wahlen Nachdruck zu verleihen und dass er überhaupt nur aus Angst geschossen hat, als die Sicherheitskräfte plötzlich durch die Wand brachen. Und der Höhepunkt in unserem kleinen Film wird sein, dass Sie unter Tränen erzählen, wie Sie natürlich in jedem Verhör die Wahrheit über die Platzpatronen erzählt haben, aber dass Sie von Anfang an gefoltert wurden, bis Sie sich nicht mehr trauten, die Wahrheit zu sagen. Erzählen Sie der Welt, wie es war, die Elektroschocks, das Waterboarding und vor allem die Daumenschrauben. So wie Sie es uns erzählt haben. Erzählen Sie einfach die Wahrheit.“
„Wann wollen wir drehen?“, fragte ich.
„Jederzeit“, sagte Lars und zückte eine ziemlich altmodisch aussehende Kamera.
Kapitel 7
In den nächsten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Von Barkhausen wurde entmachtet und floh nach Nordrussland. Das Militär übernahm für eine Übergangsfrist, die dann fast ein Jahrzehnt dauern sollte, die Regierungsgeschäfte. Die ersten Wochen waren ein chaotisches Durcheinander, in dem für kurze Momente vieles möglich schien, sich aber dann doch relativ wenig änderte. Letztendlich wurden nur die Gesichter der Macht ausgetauscht. Und ich kam aus dem Gefängnis frei. Obwohl ich noch ein paar Wochen warten musste. Ich hatte schon das Gefühl in dem ganzen Trubel vergessen worden zu sein, aber dann wurde ich plötzlich beim morgendlichen Hofgang von zwei Wärtern weggeholt und in meine Zelle gebracht. Ich solle sofort meine Sachen zusammenpacken. Das dauerte nur zwei Minuten, dann brachten sie mich in das Büro der Gefängnisleitung, wo mir ein kurzer Text vorgelesen wurde, in dem ein paar Mal das Wort Gnade vorkam, mir wurde eine elektronische Fussfessel angelegt, mit der sie, wie sie mir mehrmals versicherten, immer feststellen konnten, was ich gerade wo machte. Wenn ich sie ablegen würde, würde ich mich innerhalb von höchstens zwei Minuten wieder hier einfinden. Ich dürfte Hamburg nicht verlassen und müsste mich jede Woche persönlich bei der Sicherheitspolizei melden. Ich bekam ein paar Zettel in die Hand gedrückt, in der alles, was ich wissen müsste, zusammengefasst war und dann brachten sie mich zur Eingangsschleuse. Vier schwere Türen in einem Abstand von jeweils ein paar Metern. Der Wärter wünschte mir alles Gute und schob mich durch die erste Tür. Sie schloß sich hinter mir. Ich war allein.
Ich ging die paar Schritte bis zur nächsten Tür. Ich wartete. Die Tür öffnete sich. Ich ging hindurch. Die Tür schloß sich hinter mir.
Ich ging die paar Schritte bis zur nächsten Tür. Ich wartete. Die Tür öffnete sich. Ich ging hindurch. Die Tür schloß sich hinter mir.
Und noch einmal:
Ich ging die paar Schritte bis zur nächsten Tür. Ich wartete. Die Tür öffnete sich. Ich ging hindurch. Die Tür schloß sich hinter mir.
Ich stand auf einer Straße. Da waren zwei Bäume. Kastanien. Sie blühten. Es musste Frühjahr sein. Neben den Bäumen ein Werbeplakat für einen Tiger - Powerdrink. Drei junge Menschen, die vor Glück zu schreien schienen. Sie hatten jeder eine Dose mit einem Tiger darauf in der Hand und hinter Ihnen explodierte ein riesiges Feuerwerk, dass die Silhouette einer Wolkenkratzer Skyline in knalligen Farben erleuchtete.
Ich konnte den Blick nicht von diesem Plakat wenden. Die drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann, waren so unbeschreiblich glücklich.
Ich stand vor dem Plakat und fühlte nichts.
Die Freiheit war ein Powerdrink, der Feuerwerke zündete.
Nach einer gefühlten Ewigkeit löste ich meinen Blick von dem Plakat und schaute nach links. Die Straße erschien mir endlos. Sie war sicher nur ein paar Hundert Meter lang, dann endete sie an irgendwelchen Fabrikhallen, aber ich hatte seit 21 Jahren keinen so weiten Blick mehr gehabt. Ich ging los. Sehr langsam. Nach 43 Schritten hielt ich an. Das war die Diagonale auf dem Hofgang gewesen. Weiter ging es nicht. Das Ende der Welt. Ich blieb stehen. Wartete sinnlos. Dann ging ich weiter. Schritt für Schritt. Immer geradeaus. Und mit jedem Schritt wurde ich ängstlicher. Es wurde immer schwerer, weiter zu gehen. Ein paar Schritte schaffte ich noch, dann musste ich mich erschöpft setzen. Als ob da eine unsichtbare Wand wäre. Es ging alles zu schnell. Warum hatten sie es plötzlich so eilig? Wo sollte ich jetzt hin? Ich fing an meine Entlassungspapiere zu lesen, aber da stand auch nicht, wohin ich mich wenden sollte.
Ich hatte in den vielen Jahren im Gefängnis mir sicher ein paar tausend Mal versucht vorzustellen, wie meine ersten Schritte in die Freiheit aussehen konnten, aber dass ich nach nicht einmal 50 Metern an einer unsichtbaren Wand scheitern würde, kam in meiner Phantasie nicht vor.
Ich steckte die Papiere wieder in meinen kleinen Rollkoffer und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wo konnte ich hin? Johanna war verheiratet. Jasmin lebte irgendwo in Süddeutschland. Meine Mutter war vor zwei Jahren gestorben. Ich hatte in den letzten Wochen damit gerechnet, dass meine Entlassung ein ziemliches Medienereignis sein würde. Das Video mit meiner tränenüberströmten Wahrheit über die Folter und die Platzpatronen hatte doch zur Entmachtung von von Barkhausen beigetragen?! Jennifer hatte recht gehabt. Das mit dem Weinen war wirklich sehr leicht gewesen. Ich hatte den Rotz hoch gezogen, mir die Augen gerieben, die Luft ein paar Sekunden angehalten und dann alles ausgeatmet. Sven und Lars waren sehr beeindruckt gewesen. Das würde der Revolution wirklich helfen, hatten sie noch gesagt, bevor sie verschwanden. Und ich würde von ihnen hören. Das hatte ich bis heute nicht, aber war ich nicht irgendwie eine Art Held der Revolution geworden?
Augenscheinlich nicht. Das verstand ich selbst in meinem ziemlich ausgeschalteten Zustand. Ich saß am Straßenrand, nur knapp über 50 Schritte vom Gefängnistor und konnte nicht weiter.
Die Luft war zu schwer. So fühlte es sich an. Ich konnte kaum atmen. Ich zog mich zusammen, um dem Gewicht zu entgehen. Meine Beine ganz nah an den Körper gedrückt, legte ich meinen Kopf auf meine Knie, umschlang Kopf und Knie mit den Armen und drückte mich sehr sehr fest.
So zusammen gezogen, sass ich einige Minuten am Straßenrand. Das half. Irgendwann konnte ich wieder leichter atmen und löste meine Umklammerung. Ich sah mich um. Die Straße sah immer noch gleich aus. Ein paar hundert Meter lang. Dann eine graue Fabrikhalle. Hinter mir das Gefängnistor. Gegenüber das Plakat mit den schreienden Powertigern. Ich musste lächeln. Ich war frei. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Gut, solange ich in Hamburg blieb.
Ich stand auf. Schaute mich noch einmal zum Gefängnistor um. Dann ging ich los. In langsamen Tempo. Schritt für Schritt.
Als ich fast am Ende der Straße angekommen war, kam ein alter Mann um die Ecke und umarmte mich ohne Vorwarnung.
Mein Vater.
Er entschuldigte sich, dass er zu spät gekommen sei, aber irgendwelche Busse würden schon seit Wochen nicht mehr fahren und er hätte die Nachricht, dass ich entlassen würde, erst heute morgen bekommen und in seinem Alter ginge ja alles nicht mehr so schnell.
Mein Vater war ein uralter Mann geworden. Und das kam für mich natürlich sehr plötzlich. Er hatte mich zwar immer wieder im Gefängnis besucht, aber da siehst du jemand durch eine Glasscheibe und später auch mal im Besuchszimmer und du achtest immer darauf, dich zusammenzunehmen. „Nein, Papa, mir geht’s gut.“ Und der Papa will sich seine zunehmenden Gebrechen auch nicht anmerken lassen. Und so sieht man sich. Und sieht sich nicht.
Und jetzt sassen wir zusammen bei ihm in seiner kleinen Küche, tranken ein Bier und es war nicht zu übersehen: Er war ein sehr alter Mann. Und er war ein armer Mann.
Die Wohnung hatte zwei winzige Zimmer, die Einrichtung war schäbig, nichts erinnerte mehr an die luxuriöse Altbau Wohnung in Ottensen.
Er entschuldigte sich mehrfach dafür, dass er mir keinen Champagner zur Feier meiner Entlassung anbieten könne, aber es sei in den letzten zwanzig Jahren auch für ihn nicht besonders gut gelaufen. Es wäre keine gute Zeit für einen Komiker gewesen, vor allem nicht für seine Art von Komik. Die meisten kritischen Medien waren nach von Barkhausens Machtübernahme verboten worden und so war der Markt für seine Kabaretttexte praktisch über Nacht verschwunden. Eine Zeitlang hatte er sich noch mit Comedyformaten für das Staatsfernsehen über Wasser gehalten, aber da hätte er sich über kurz oder lang selbst nicht mehr ertragen und so hatte er in den letzten 15 Jahren praktisch keinen Cent mehr verdient. Rente bekam er so gut wie keine, weil das Rentensystem schon in den vierziger Jahren zusammengebrochen war. Seitdem hatte man entweder Anteile an den Staatsfonds, die aber extrem an Wert verloren hatten oder man war Teil der Grundsicherung, die jedem zustand und auf die die Partei der Mitte unglaublich stolz war. Mein Vater prostete mir mit seinem Dosenbier zu und sagte mit seinem ironischen Dauergrinsen, das er sich in den letzten Jahrzehnten zugelegt hatte, die Grundsicherung reiche aber nur für eine Palette hiervon in der Woche.
Er kochte mir Spaghetti. Mit einer Tomatensauce. Mit einer Unmenge von Kapern.
„Die magst du doch so.“
Das hatte er sich gemerkt. Mein eigentlich mit Stahlplatten und Extraeichenbrettern gesichertes Herz fing leicht an zu zittern. Ich merkte, ich hatte mich plötzlich überhaupt nicht mehr im Griff. Ich bedankte mich bei ihm und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Mein Vater sagte, dass sei doch das Mindeste, was er für mich tun könne. Die hätten ihm ja auch gerne ein bisschen früher Bescheid sagen können, dass ich entlassen würde. Heute morgen um kurz nach acht sei ihm mitgeteilt worden, dass ich um zehn Uhr vor dem Gefängnis abgeholt werden könnte. Er hätte gerade noch Jasmin benachrichtigen können, aber sie könne erst morgen kommen, dann würden wir richtig feiern. Ich sagte, da würde ich mich sehr freuen und wir prosteten uns wieder mit dem Dosenbier zu.
„Schade, dass das deine Mutter nicht mehr miterleben kann“, sagte mein Vater.
Und wieder Zuprosten.
Und dann eine lange Pause.
„Für deine verschwundene Schwester brauchen wir aber ein neues Bier“, sagte mein Vater.
Wir tranken beide unsere Dosen leer und er holte aus seiner kleinen Speisekammer Nachschub.
Er trank an diesem Tag noch ziemlich viel und später holte er noch eine Flasche Gin aus seinem Kühlschrank. Ich bekam schon nach dem dritten Bier entsetzliche Kopfschmerzen und stieg deshalb auf Wasser um.
Mein Vater redete fast die ganze Zeit. Er freute sich so, dass ich endlich frei war und überhaupt, jetzt würde es wieder aufwärts gehen, die Revolution sei ja überfällig gewesen und was für ein Feigling der Herr Präsident sei, dass er sofort nach St. Petersburg abgehauen war. Aber so wäre es ja immer, kein Diktator hätte jemals Verantwortung für seine Taten übernommen. Kaiser Wilhelm sei nach Holland geflohen, Adolf Hitler hätte sich lieber umgebracht und von Barkhausen sei jetzt eben nach Sibirien entschwunden und hoffentlich würde er dort für immer bleiben. Die neuen Machthaber hielt mein Vater nicht wirklich für Demokraten, aber das wäre jetzt unsere Zeit, das sagte er wieder und wieder. „Das ist jetzt unsere Zeit, alles, wovon wir Anfang des Jahrtausends geträumt haben, kann jetzt endlich Wirklichkeit werden. Jetzt ist die Zeit für eine Gesellschaft, die geprägt ist von Respekt für alle Menschen, wo Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit keinen Platz haben. Jetzt ist es an der Zeit eine tolerante, weltoffene und friedliche Gesellschaft zu bauen.“
So ging das eine halbe Palette Dosenbier lang und mein Vater klang zumindest am Anfang so, dass er sich selbst glaubte.
„Alles, wofür du und ich und Jennifer und Djakery gekämpft haben, kann jetzt Realität werden.“
Je mehr er trank, desto öfter sprach er von Jennifer. Er schien stündlich mit ihrem Wiederauftauchen zu rechnen. Die Revolution hatte gesiegt. Sie hatte dafür gesorgt. Also konnte sie aus dem Untergrund zurückkommen. Einmal klopfte es an der Tür und da sah er so glücklich aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er glaubte wirklich, dass seine verlorene Tochter mit einer Flasche Champagner vor seiner Tür stand. Es war aber nur eine Nachbarin, die sich darüber beschwerte, dass er seine leeren Dosen nicht immer neben die Mülleimer schmeissen sollte. Er wisse doch, dass die Müllabfuhr schon seit Wochen im Streik sei. Er sagte, dass würde nicht wieder vorkommen und wegen der Müllabfuhr soll sie sich keine Sorgen machen, die Revolution habe doch gesiegt, jetzt würde es wieder aufwärts gehen. Seine Kinder würden wieder nach Hause kommen. Er zeigte auf mich und dann sagte er „und die Mädchen kommen morgen und dann wird alles gut.“
Die Nachbarin schimpfte noch eine Runde und sagte plötzlich zu mir, ich solle auf meinen Vater aufpassen und ihm das Bier wegnehmen, so würde er es nicht mehr lange machen. Dann verschwand sie.
Mein Vater kam zurück und nahm sich die Ginflasche. Er trank einen großen Schluck.
„Wehe, du passt auf mich auf“, sagte er und hörte endlich auf zu grinsen. „Ich hab es bald geschafft, aber du und die Mädchen, ihr habt alle Chancen auf eine wirklich gute Zeit. Wehe, ihr vermasselt es genauso wie wir.“
„Jennifer kommt nicht wieder“, sagte ich.
„Du hast keine Ahnung“, war seine Antwort.
Zwei Minuten später war er auf seinem Sofa eingeschlafen
Ich schaltete seinen Uraltlaptop an, das Passwort war Jennifer, und versuchte auf einem Nachrichtenportal zu verstehen, was in den letzten Wochen passiert war. Als ich begriffen hatte, dass mein großartiger Beitrag zur Revolution wohl überhaupt nicht veröffentlicht worden war, klopfte es noch einmal an der Tür.
Für einen Moment dachte ich, dass Jennifer wirklich davor stehen würde, wie wir uns anschauen und uns dann weinend in die Arme sinken würden, aber dann merkte ich, dass ich an sie dachte, wie sie mit Anfang 20 ausgesehen hatte, als sie verschwunden war. Ich schüttelte mich, um die kitschige Phantasie loszuwerden. Dann schloß ich die Tür zu dem kleinen Wohnzimmer, in dem mein Vater schnarchend auf dem Sofa lag. Dann öffnete ich die Wohnungstür. Draußen stand Sven Schulzdorf und er hatte eine Flasche Rotwein in der Hand.
„Ich dachte, hier gibt es vielleicht etwas zu feiern“, sagte er.
„Dazu sind Sie zu spät gekommen“, sagte ich, aber trat zur Seite, um ihn herein zu lassen.
Es war ein guter französischer Rotwein aus den vierziger Jahren und ich stellte uns zwei Gläser hin. „Scheiß auf die Kopfschmerzen“, dachte ich.
Sven erzählte mir, dass sie mein beeindruckendes Video tatsächlich bis heute nicht veröffentlicht hatten, weil die Revolution auch ohne meine Hilfe in die Gänge gekommen war. Deshalb hätte es auch so lange gedauert, bis ich frei gekommen wäre. Ich wäre schlicht und einfach vergessen worden. Nur er und Lars Meier hätten immer wieder an das Video gedacht, dass sie im Gefängnis aufgenommen hätten. Wie ich von der Folter erzählt hätte und meine Tränen und überhaupt und deshalb hätten sie sich jetzt endlich dahinter geklemmt, mich frei zu kriegen. In den letzten Wochen wären Tausende von politischen Gefangenen frei gekommen, nur ich hätte auf keiner Liste gestanden, weil ich als Terrorist erster Klasse galt. Also hätten sie etwas nachgeholfen. Sie hätten dem stellvertretenden Generalsekretär ein Begnadigungsersuchen mit meinem Namen untergeschoben, er hätte es, ohne eine genaue Prüfung vorzunehmen, direkt unterschrieben und hier sei ich ja endlich, willkommen in der Freiheit.
Ich bedankte mich bei ihm und seinem Kollegen.
„Irgendwann werden wir dein Video sicher noch raushauen, aber da müssen sich die Zeiten erst mal noch ein bisschen beruhigen“, sagte er.
Egal ob man der Meinung ist, dass sich die Zeiten in den nächsten knapp 40 Jahren genug beruhigt haben, ist das Video niemals irgendwo gezeigt worden. Ich habe es jedenfalls nicht gesehen und niemand hat mich jemals darauf angesprochen, warum ich mit einer Platzpatrone auf von Barkhausen geschossen habe.
Aber ich war Sven und Lars sehr dankbar für alles, was sie für mich getan hatten. Natürlich musste ich in dieser Zeit frei kommen, damit ich rechtzeitig in der Paradise Beach Bar auftauchen konnte und wenn sie mir nicht zur Freiheit verholfen hätten, wäre ich eben irgendwie anders frei gekommen, aber das hinderte mich nicht, wirklich dankbar zu sein.
Sven fragte, ob ich irgendetwas brauchen würde und er gab mir ein uraltes Handy und seine Nummer. Ich solle mich einfach bei ihm melden.
„Dass es diese Dinger noch gibt“, sagte ich und zeigte auf das Handy, „ich glaube mein erstes 2007 oder so war genau so eins.“
„Damit kannst du nur telefonieren und zwar nur mit mir. Sonst nichts. Das heisst aber auch, du kannst nicht geortet werden.“
Ich zeigte auf die Fussfessel und sagte, „dafür braucht es ja kein Handy.“
„Das Ding ist nur dazu da, um dir Angst einzujagen. Jeder wird heutzutage durch sein Handy kontrolliert. Vollkommen freiwillig und total vollständig.“
Dann forderte er mich auf, die Fussfessel abzulegen. Etwas zögerlich tat ich es. Er nahm mir das Ding ab und steckte es in den Backofen, stellte ihn auf 200 Grad und erklärte mir, dass ich im Moment gar nicht existierte. Niemand hätte irgendein Interesse an mir. Offiziell wäre ich noch im Gefängnis und wenn das jemand überprüfen würde, bekäme man schließlich die Info, dass ich doch schon in den Turbulenzen der Revolution entlassen worden und danach abgetaucht sei. Es bräuchte noch etwas Zeit, dann könnte er mir Papiere auf meinen Namen besorgen und dann würde ich sozusagen wieder auftauchen. Bis dahin dürfte ich aber möglichst in keine Kontrollen kommen, also könnte ich auch nicht reisen oder irgendeinen Unfug machen.
Ich bedankte mich wieder und sagte ihm, ich würde schon zurecht kommen. Ich bräuchte wohl etwas Zeit, um mich wieder an das Geradeausgehen zu gewöhnen. Das verstand Sven nicht sofort, also erzählte ich ihm von der unsichtbaren Wand, auf die ich nach 43 Schritten gestoßen war.
Das machte ihn für einen Moment schweigsam. Dann goß er sich noch ein Glas von dem teuren Rotwein ein und erzählte von sich. Wie er zum Geheimdienst gekommen sei und wie sehr er an die Werte von Zentraleuropa und der Partei der Mitte geglaubt hatte und wie er erst viel zu spät gemerkt hatte, wie Von Barkhausen und seine Clique diese Werte mit Füßen getreten hatten, wieviele Unschuldige wie ich in den Gefängnissen verrotteten.
Je länger er redete, desto mehr merkte ich, dass er wohl einen ziemlichen Schuldkomplex mit sich rumtrug.
Ich sagte ihm zweimal, er solle sich keine unnötigen Gedanken machen. Er hätte ja jetzt genug Zeit, es besser zu machen und fast hätte ich die Worte meines Vaters wiederholt, er solle es nicht vermasseln.
Als ich ihm das das zweite Mal gesagt hatte, schien er wirklich erleichtert zu sein und deshalb fragte er nochmals, ob er noch etwas für mich tun könne?
Und da habe ich ihm von Jennifer erzählt. Ob er mal in den Archiven nachsehen könne, ob es da irgendetwas zu ihrem Verbleiben gäbe? Sie hätte zu der Gruppe der 12 gehört und ich erzählte ihm, was in den weißen Nächten passiert war.
Er klang ehrlich entsetzt, als ich ihm von Djakerys Ermordung erzählt hatte, aber er hatte noch nie von Jennifer gehört. Er versprach mir, sich umzusehen und sich dann wieder zu melden. Damit trank er sein Glas aus und verabschiedete sich.
Ich sah noch einmal nach meinem Vater, der inzwischen aufgehört hatte zu schnarchen, aber noch tief und fest schlief. Dann ging ich zurück in die Küche und nahm die Fussfessel aus dem Backofen. Die elektronischen Teile waren durchgeschmort. Ich schlug zur Vorsicht ein paar Mal mit einem Hammer darauf, liess sie unter dem Wasserhahn abkühlen und schmiss sie dann einfach in den Mülleimer.
In der Weinflasche war noch ein guter Schluck. Ich goß ihn mir ein und hob das Glas. Der Wein hatte eine tiefrote Farbe und er roch gut. Nach Erde und nach unbeschwerter Vergangenheit. Ich trank den Schluck. Es war still. Sehr still. Um mich herum. Und in mir. Ich war frei. Die Zukunft konnte kommen.
Kapitel 8
Mein Vater starb zwei Monate, nachdem ich bei ihm eingezogen war. Er trank einfach viel zu viel, aber als ich ihn am Anfang davon abhalten wollte, schaute er mich sehr traurig an und sagte, ich könne gerne bei ihm bleiben, aber wenn ich mich in sein Leben einmischen wollte, müsste ich leider sofort gehen. Also ließ ich ihm seinen Willen und in den letzten Wochen schleppte ich ihm sogar seine Vorräte in die Wohnung. Er aß kaum noch etwas. Trank den ganzen Tag Bier und ab dem frühen Abend Gin oder Wodka. Hin und wieder gab er mir den Auftrag, eine Flasche Sekt mit zu bringen, wir hätten etwas zu feiern. Er verriet mir nie, was es zu feiern gab, aber seinem Blick nach zu urteilen, mit dem er mich ansah, wenn er die Flasche aufmachte, war es das Wiedersehen mit mir. Und natürlich die Hoffnung, dass Jennifer doch noch rechtzeitig auftauchen würde. Mit rechtzeitig meinte er natürlich, vor seinem Tod. Er sprach andauernd davon. Wie er sterben würde. Im Bett. Sternhagelvoll. Ich sollte seinen Körper einfach irgendwo in die Elbe schmeissen, dann könnte ich in der Wohnung bleiben und weiter seine Grundsicherung kassieren. Seine Seele würde dann von einem gleißenden Licht geweckt werden. Im Jenseits. Dort hätten sie viel zu helle Laternen. Deshalb glaubten alle Leute, die beinahe gestorben wären, dass sie ein helles Licht gesehen hätten. Das würde extrem nerven, aber im Jenseits gäbe es keine Beschwerdestelle. Man würde sich einfach damit abfinden müssen. Deshalb würde auch keiner mehr schlafen im Jenseits. Wegen der gleißenden Laternen.
So ging es manchmal stundenlang, aber ich war ja ein geübter Zuhörer. Jonathan Trabers oder irgendein anderer Gefangener oder mein delirierender Vater. Es machte eigentlich keinen Unterschied. Ich hörte einfach zu. Das Gefängnis und mein neues, freies Leben waren sich im Grunde sehr ähnlich. Außer natürlich, dass ich manchmal zum Einkaufen ging. Der nächste Supermarkt war nur ein paar Straßen weiter, aber ich brauchte oft Stunden, weil ich immer wieder auf die unsichtbare Wand traf. Dann setzte ich mich am besten an einen Baum oder eine richtige Betonhauswand und umklammerte mich so fest wie ich konnte. Nie sprach mich irgendjemand an. Ob ich Hilfe bräuchte, oder was denn mit mir los sei? Nach kurzer Zeit wurde mir klar, woran das lag: Ich fiel nicht auf. Überall saßen oder lagen Menschen auf den Wegen. Besoffene oder sonst wie mit Drogen vollgepumpte. Obdachlose. Hamburg oder zumindest die Gegend im Osten der Stadt, in der mein Vater wohnte, war eine sehr arme Stadt geworden.
Nachts ging es mir besser. Manchmal, wenn mein Vater über seinem Schnaps eingeschlafen war, ging ich für ein paar Stunden hinaus und in der Dunkelheit traf ich sehr sehr selten auf die unsichtbare Wand. Manchmal fuhr ich mit dem Bus oder der U – Bahn runter an den Hafen und dann ging ich stundenlang an der Elbe entlang. Immer geradeaus. Je weiter ich kam, desto leichter wurde mir ums Herz. Da war der Fluss. Der sich träge zum Meer bewegte. Und an seinem Ufer ging ich. Sehr langsam, aber ich ging. Immer geradeaus.
Die Freiheit machte mir immer weniger Angst. Auch tagsüber tauchte die unsichtbare Wand kaum noch auf, nur als ich nach dem Tod meines Vaters zu Jasmin nach Süddeutschland zog, wurde es noch einmal für ein paar Wochen schlimm. Jetzt lief ich nicht mehr durch eine heruntergekommene Stadt, sondern durch viel Natur. Wiesen und kilometerweite tiefe Wälder. Und die waren voll mit Wänden. Zu diesem Zeitpunkt legte ich mich nicht mehr auf den Boden und zog mich zusammen. Jetzt kämpfte ich gegen die Wände. Ich tobte wie ein Irrsinniger schreiend durch den Schwarzwald, bis ich wieder genug Luft hatte. Und dann fing ich an zu lachen. Wieder wie ein Irrsinniger. Ich glaube, ich kapierte es erst wirklich in diesem Moment: Ich war nicht mehr im Gefängnis.
Jasmin kam schon am ersten Morgen, nachdem ich bei meinem Vater aufgetaucht war. Ich hatte versucht, die Wohnung etwas aufzuräumen, aber sie meinte, ich müsse ihr helfen, ihn aus diesem Drecksloch rauszuholen, aber auch sie biss bei dem Alten auf Granit. Sie blieb drei Tage, bis sie kapiert hatte, dass sie weder mir noch unserem Vater helfen konnte. Es war schön, sie zu sehen, aber im Grunde war mir alles zu viel. Mein trinkender und vom zu hellen Jenseits schwafelnder Vater, die Obdachlosen auf den Straßen, die unsichtbaren Wände, die zu dem Zeitpunkt mehrmals am Tag und auch gerne mal in der Wohnung auftauchten und dann auch noch meine wirklich liebe Schwester, die versuchte irgendeine Normalität in diese komische Restfamilie zu bringen. Am schlimmsten war es, dass sie mir schon nach einer halben Stunde erzählte, dass sie ja immer noch Kontakt zu Johanna hätte. Ob ich sie nicht anrufen wolle. Sie wohne ja Richtung Nordsee irgendwo hinter Itzehoe, da wo letztes Jahr die Deiche gebrochen wären, aber Antoines Haus sei ja von der Flut verschont geblieben.
Ich hatte ihr gesagt, ich wolle mich erstmal ein wenig sortieren, bevor ich Johanna treffen wollte, aber Jasmin fing alle paar Stunden wieder damit an, ob ich sie nicht einfach mal kurz anrufen wolle. Man könne sich doch auf einen Kaffee treffen. Ich sei Johanna das eigentlich schuldig, wir seien doch mal ein glückliches Paar gewesen, wollten heiraten und wenn wir nicht zusammen dieses bescheuerte Attentat geplant hätten, hätten wir jetzt sicher bald Silberhochzeit.
„Sie ist verheiratet und das ist auch in Ordnung so“, sagte ich und nichts fühlte sich in Ordnung an, deshalb fügte ich noch hinzu, „ich verstehe dich, du meinst es gut, aber ich war 12 Jahre in Einzelhaft und habe jede Nacht an Johanna gedacht, da will ich jetzt nicht mit ihrem Ehemann Kaffee trinken, aber wenn ihr wollt, könnt ihr euch ja hier treffen, ich hole euch auch ne Palette Dosenbier, damit ihr was zum Anstoßen habt, ich gehe solange irgendwo in der Stadt herum und stoße an meine unsichtbaren Wände.“
Jasmin hatte mich einmal begleitet, als ich einen Anfall hatte und war ob ihrer Hilflosigkeit in Tränen ausgebrochen.
Ich habe mich später bei ihr für meine Gemeinheit entschuldigt und sie meinte, sie würde mich ja verstehen. Und das tat sie auch. Sie war gut zu mir. Sie war meine kleine Schwester. Sie liebte mich. Und sie war anwesend. Mehr können Menschen manchmal nicht füreinander sein.
Unser Vater starb im Bett. Aber nicht so friedlich, wie er sich das phantasiert hatte. Er wachte eines Morgens auf und schrie wie am Spieß. Ich war sofort bei ihm und dann fing er an zu kotzen. Drei Tage lang kotzte er alles heraus, was nur irgendwie aus ihm heraus wollte. Sobald er mal ein paar Minuten Ruhe hatte, verlangte er von mir, ich solle ihm ein Glas Gin oder Wodka geben oder wenigstens ein verdammtes Bier. Zuerst wollte ich einen Arzt holen oder ihn in ein Krankenhaus bringen, aber er lachte nur, bis das Lachen wieder in Kotzen überging. Nach einem halben Tag kam ich seinen Wunsch nach und gab ihm, was er wollte.
Er muss höllische Schmerzen gehabt haben und seine Eingeweide waren sicher total zerfetzt. Am Ende kamen nur noch Blut und Eiter aus ihm raus. Ich sass neben ihm und hielt seine Hand. Gesprochen hatte er die letzten zwei Tage nicht mehr. Und dann war es irgendwann zu Ende. Keine letzten Worte, keine finale Erkenntnis, nur endlose Ruhe in der kleinen Wohnung und endlich gleißende Laternen für seine Seele.
Jasmin hatte ich erst angerufen, nachdem er gestorben war. Ich glaube, ich hätte ihren Schmerz nicht ausgehalten. Einmal feige, immer feige. Jennifer tauchte natürlich nicht auf.
Jasmin war klasse. Sie organisierte das Begräbnis, löste die Wohnung und den ganzen Kram auf. Ich glaube, sie war erleichtert, dass es vorbei war. Allerdings bestand sie darauf, Johanna und Antoine zum Begräbnis einzuladen. Unser Vater und Johanna wären befreundet gewesen und sie würde darüber nicht diskutieren. Wenn ich mich immer noch sortieren müsste, dann könnte ich eben nicht zum Begräbnis unseres Vaters kommen. Ob ich sie selbst anrufen wolle?
Also rief ich Johanna an. Ich war sehr kurz angebunden. Ich sei vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden und dann sei jetzt mein Vater verstorben, ob sie zur Beerdigung kommen wolle? Also sie und Antoine. Für mich sei das in Ordnung.
Wir hatten uns das letzte Mal vor über 5 Jahren gesehen. Da hatte sie mich im Gefängnis besucht und von ihrer Heirat mit Antoine erzählt. Das war alles in Ordnung. Hatte ich ihr gesagt. Ich glaube nicht, dass sie mir geglaubt hat. Auf jeden Fall habe ich mir selbst nicht geglaubt. Aber letztendlich war das egal. Sie war verheiratet und ich war wieder frei. In jedem Sinne.
An das Begräbnis erinnere ich mich so gut wie nicht. Wir trafen uns alle vor dem Friedhof. Außer Jasmin, Johanna und Antoine waren nur ein paar alte Freunde meines Vaters und zwei seiner letzten Freundinnen anwesend. Ich knallte von einer unsichtbaren Wand an die andere. Aber ich war tapfer und liess mir nichts anmerken. Nur Jasmin ließ meine Hand kaum los. Aber vielleicht brauchte sie das genauso wie ich.
Johanna war sehr nett. Und ihr Mann auch. Und das meine ich, so wie ich es sage. Sie waren beide nett. Zurückhaltend. Höflich. Das Andenken an meinen Vater bewahrend. Ihn mit aller Liebe im Herzen tragend. Wir haben nicht über uns geredet. Johanna sah gut aus. Und ich sagte ihr das. Und sie lächelte. Und Antoine hielt sich die ganze Zeit im Hintergrund.
Bei der Verabschiedung stand ich einen Moment allein mit Johanna. Wir sagten nichts. Sahen uns nur an. Lächelten schief.
„Gut, dass du frei bist“, sagte sie schließlich.
„Ja, das ist sehr gut“, sagte ich.
„Man gewöhnt sich daran“, sagte sie, „mit der Zeit. Obwohl ich manchmal noch schreiend aufwache, vor allem wenn es draußen stürmt. Aber auch an die Angst gewöhnt man sich ja.“
Sie verstand mich. Ohne Worte verstanden wir uns. Ich hätte sie umarmen können. Aber ich wollte mich ja beherrschen.
Also sagte ich nur. „Danke, dass du gekommen bist.“ Und dann mit einem Blick zu Antoine, „danke, dass ihr gekommen seid.“
„Dein Vater war ein guter Mensch“, sagte sie. „Schade, dass Jennifer nicht da ist.“
„Was soll der Scheiß?“, rutschte es mir heraus. Sehr laut. Und dann noch, immerhin leiser, „die ist seit 25 Jahren tot. Wird Zeit, dass wir das endlich anerkennen.“ Ich drehte mich um und rannte einfach los. So schnell wie ich mich seit endlosen Jahren nicht bewegt hatte. Nach zwanzig Metern knallte ich gegen eine unsichtbare Wand. Liess mich einfach auf den Boden fallen, lehnte mich gegen einen Grabstein und zog mich zusammen.
Eine viertel Stunde später kam Jasmin zu mir. Nahm einfach meine Hand und zog mich zu sich hinauf.
„Johanna und Antoine lassen schön grüßen. Sie freut sich, wenn du sie mal anrufst, wenn du dich etwas mehr sortiert hast. Ich habe ihr gesagt, das würdest du sicher tun. Sie könnte sich aber auch gerne bei dir melden. Du würdest jetzt zu mir in den Schwarzwald ziehen.“
Ich lächelte meine Schwester fragend an, sie nickte und schon am Abend war ich in einer anderen Welt.
Kapitel 9
Insgesamt blieb ich fast ein halbes Jahr bei Jasmin und ihrem Mann Matteo. Sie hatten zwei Kinder, einen 18 jährigen Sohn und eine zwei Jahre jüngere Tochter. Sie wohnten in Kniebis, einem Dorf in der Nähe von Freudenstadt im nördlichen Schwarzwald und nach meinen zwei Monaten im Slum des östlichen Hamburgs war ich wie von den Socken, plötzlich in eine Gegend zu kommen, die reich und auf eine kitschige Art wunderschön war. Als ob die Krisen der letzten Jahrzehnte hier nicht stattgefunden hätten. Die ganze Gegend sah so aus, als ob ein amerikanischer Vergnügungspark im Stil von Disneyland schwäbische Postkartenidylle nachgebaut hätte. Nur dass es chinesische Investoren waren, die in den 30er Jahren viel Geld in der Gegend verbaut hatten. Die gesamte Region lebte vom weltweiten Tourismus. Jasmin arbeitete immer noch hin und wieder als Schauspielerin, aber ihr Mann hatte in Kniebis ein Wellnessimperium errichtet. Mehrere große Hotels mit Saunalandschaften und Moorbädern, obwohl es dort gar kein Moor gab. Eine kleine Klinik für Schönheitsoperationen, ein Yogazentrum direkt an einem malerisch gelegenen See und eine eigene weltweit vertriebene Anti Aging Produktserie namens Kniebis Eternity.
Es war ein Schock, der mich völlig unvorbereitet traf. Über 20 Jahre im Gefängnis, zwei Monate in der Alkoholikerklitsche meines Vaters und dann fand ich mich gemeinsam mit einer Familie aus Singapur in einem 38 Grad warmen Infinitypool den Sonnenuntergang über endlosen Kiefernwäldern betrachten und dabei Sushihäppchen verspeisen und Champagner schlürfen. Ich wollte noch am selben Abend wieder abreisen. Am liebsten gleich nach Tunesien, mich in die Paradise Beach Bar setzen und auf Brandon Ford warten.
Die Gegend um Freudenstadt war eine der reichsten in ganz Deutschland, aber Jasmin erzählte mir, dass es überall solche Regionen gab. Wald und kleine Seen gehörten eigentlich immer dazu, nur direkt am Meer gab es das wegen der immer öfter auftretenden Überflutungen ganzer Landstriche immer seltener. Die meisten dieser Holidayresorts waren eher klein und lagen etwas abgeschieden. Drumherum endloses landwirtschaftlich genutztes Land, auf dem nur wenige Menschen lebten und dafür umso mehr kaputte, aber nicht abgebaute Windräder standen, denn von Barkhausen hatte dem Vorbild der meisten europäischen Nachbarn folgend wieder auf Atomkraft gesetzt.
Jasmin hatte mich in einer Art Ferienhaus etwas außerhalb von Kniebis untergebracht. Auf einer Anhöhe stand es völlig allein: Zwei kleine Zimmer, Küche, Bad, eine Terrasse mit einer Hollywoodschaukel. Im Garten eine Hängematte zwischen zwei alten Apfelbäumen. Am ersten Abend sassen wir gemeinsam mit Matteo dort und ich fragte, was um alles in der Welt ich hier machen sollte? „Ruh dich aus“, sagte sie.
Und Matteo lachte und fügte hinzu, „wenn dir langweilig wird, kommst du einfach runter ins Dorf. Wir haben immer genug zu tun.“
Und da saß ich dann die halbe Nacht auf der Terrasse, starrte in die Dunkelheit und kämpfte mit mir selbst einen blödsinnigen Kampf, den ich natürlich nur verlieren konnte, denn selbstverständlich konnte sich auch in einer Hollywoodschaukel plötzlich eine unsichtbare Wand auftun. Irgendwann flog eine Eule durch die Nacht und landete auf dem Dach einer kleinen Scheune, die neben dem Ferienhaus stand. Sie rief ein paar Mal ihr „Huhu“ in die Nacht und ich dachte daran wie Jonathan Trabers und ich uns an den Spatzen, Meisen und dem durchgeknallten Buntspecht im Gefängnishof gefreut hatten und plötzlich wurde mir ganz leicht ums Herz. Hier gab es eine Eule! Und dann fiel mir ein, dass ich aus drei Gründen ja noch gar nicht nach Tunesien konnte. Zum ersten war ich viel zu kaputt und meine unsichtbaren Wände und die aufbrechenden Erinnerungen an die Folter machten eine einsame Reise nach Nordafrika zu einem Ding der Unmöglichkeit. Zweitens hatte ich noch keinen Pass und drittens fehlte mir das T – Shirt mit dem Eichhörnchen und der Aufschrift Abi 2058 – die Nuss ist geknackt, das ich laut dem Video in der Paradise Beach Bar anhaben würde. Also beschloß ich erstmal zu bleiben und kaum hatte ich das entschieden, überfiel mich eine wohlige Müdigkeit und ich schlief noch auf der Hollywoodschaukel ein.
Und so lebte ich bis in den Spätherbst mein Gefängnisleben weiter. Nur in einer sehr viel angenehmeren Umgebung. Die meiste Zeit blieb ich allein in meinem kleinen Häuschen. Ging in den Wald, kämpfte mit den unsichtbaren Wänden, kehrte erschöpft zurück und legte mich in die Hängematte. Ich schlief sehr viel in dieser Zeit.
Ein, zweimal in der Woche ging ich ins Dorf zu Jasmin und Matteo. Eine Runde in die Sauna. Sie waren sehr unaufdringlich, sehr höflich und unglaublich ausgeglichen. Eigentlich so wie ich im Gefängnis gewesen war. Aber für mich war das jetzt vorbei. Ich war inzwischen das genaue Gegenteil: Meistens sehr gereizt, hypernervös, manchmal für Sekunden euphorisch und dann versank ich für Stunden wieder in einer Mattigkeit, die mich unglaublich nervte, wenn ich eben nicht so müde gewesen wäre. Die Stahlplatten und dicken Eichenbalken um mein Herz waren weggesprengt und je mehr ich meine in den zwanzig Jahren zuvor antrainierte Gleichgültigkeit verlor, desto unerträglicher wurde ich für meine Umwelt.
Aber Jasmin und Matteo hatten auch dafür Verständnis. Ich bräuchte eben Zeit nach all diesen seelischen Qualen, die ich erlitten hatte. Wenn ich mir das alles von der Seele reden wolle, sie hätten Zeit und darüber hinaus könnten sie mir auch diverse Yogakurse und Balancementoring anbieten. Oder ob ich nicht mal mit einem befreundeten Arzt in Freudenstadt reden wolle?
Ich habe das gemacht. Der war etwa in meinem Alter und sehr nett. Die haben mich in seiner Praxis komplett durchgecheckt. Körperlich soweit alles für einen Mann Mitte fünfzig in Ordnung, aber meine Stability und Evennesswerte seien natürlich ziemlich im Keller. Kein Wunder bei meinem Lebenslauf. Er empfahl mir eine Therapie mit Elysiterin, einem Medikament, das inzwischen mehr als 30 Prozent aller Deutschen mindestens zeitweise einnehmen würden, um ihre Alltagsbalance auf einem höheren Niveau zu stabilisieren. Unter den wohlhabenden Menschen wie in Freudenstadt seien es sogar bis zu drei Viertel der Bevölkerung. Entwickelt wurde das Medikament aus der Psychedelika – Forschung zu Anfang des Jahrtausends, letztendlich war es eine Mischung aus verschiedenen psychedelischen Wirkstoffen und hochentwickelten Antidepressiva.
Jasmin riet mir sehr dazu, sie und Matteo würden Elysiterin seit ein paar Jahren nehmen, niedrig dosiert, aber regelmäßig und es wäre völlig ohne Nebenwirkungen und seitdem sie das nähmen, kämen sie mit den Turbulenzen des modernen Lebens einfach viel leichter zurecht.
Ich habe sie ausgelacht, ich wolle mich ja gerade diesen Turbulenzen wieder stellen. Sie aushalten, beziehungsweise lernen, dass diese Turbulenzen ja das Leben überhaupt ausmachen würden.
Das sei völlig in Ordnung, aber ich bräuchte keine Angst vor Elysiterin haben, es würde in keinem Fall süchtig machen, also ich könnte es auch als reine Notfallmaßnahme einnehmen. Bis zu 3 Tabletten seien absolut bedenkenlos, meinte Jasmin und drückte mir ein kleines mit einer Kindersonne bemaltes Schächtelchen in die Hand.
Ich lachte sie wieder aus. Ich hätte keine Ahnung, was ich im Gefängnis vielleicht über das Essen eingenommen hätte, aber ich wolle jetzt die Freiheit in vollen Zügen genießen und nicht mich betäuben, um sie zu ertragen.
Drei Tage später schluckte ich zum ersten Mal eine Tablette. Ich war wieder mal gegen eine unsichtbare Wand geknallt und hatte mich stundenlang nicht wieder eingekriegt, also dachte ich, was soll der Scheiß?, nahm eine Tablette, trank ein Glas Wasser und setzte mich in die Abendsonne auf meine Terrasse. Es war wie eine unsichtbare Wand, die Wirkung setzte innerhalb von Sekunden ein, nur war sie genau gegenteilig. Kaum hatte ich mich gesetzt, beruhigte sich mein Atem und die Druckschmerzen in der Herzgegend verschwanden und in meinem Kopf breitete sich etwas aus, dass mit Ruhe nur unzureichend beschrieben ist. Es war eher etwas wie Klarheit. Dieses Elysiterin brachte mich dazu, weiter zu schauen, als ich das noch Sekunden vorher getan hatte. Und das ist nicht als Metapher gemeint, sondern als eine ganz reale körperliche Erfahrung. Ich sah nicht nur bis zu meinen Schmerzen, bis zu meinem festgefahrenen Atem, bis zu den Erinnerungsfetzen vom Eingesperrtsein und den Folterqualen, die durch mein Hirn rasten, sondern einfach weiter. Zu den Bäumen, die den kleinen Anhang umstanden, der vor meiner Terrasse lag. Und weiter über die Bäume hinweg zu den Wolken, die durch die tiefstehende Sonne in ein zartes Rosa gehüllt waren und weiter bis zu den unsichtbaren Sternen, die ich zwar genauso wenig sehen konnte wie die mich umhauenden Wände, von denen ich aber wusste, dass sie da waren, hinter den Bäumen und den rosa Wolken.
Ich sass ein paar Stunden bis kurz vor Mitternacht auf der Terrasse. Bis die vertrauten Schmerzen zurückkehrten.
Ab da zog ich mich wieder krampfhaft in mir zusammen oder rannte schreiend durch den Wald. Elysiterin nahm ich niemals wieder.
Man sagt ja, Zeit heilt alle Wunden. Ich müsste es ja wissen. Ich bin jetzt 93 Jahre alt, habe also Unmengen von Zeit hinter mich gebracht. Und Wunden habe ich wahrlich genug zugefügt bekommen, beziehungsweise auch mir selbst zugefügt. Aber ich habe keine Ahnung, ob dieser Satz auch nur einen Funken Wahrheitsgehalt hat. Manches Schmerzhafte verschwindet mit der Zeit und taucht Jahrzehnte später wieder mit einer Heftigkeit auf, als ob nicht eine Sekunde verstrichen wäre. Anderes verschwindet einfach, weil man will, dass es verschwindet. Wieder anderes heilt nie. Was ich sagen will, dieser Satz ist Unsinn, beziehungsweise drückt er nur die Sehnsucht aus, dass Dinge, die uns nicht gefallen, sich irgendwann bitte wieder in Luft auflösen. Er soll Trost spenden. Und das funktioniert eigentlich fast immer. Bei mir wenigstens. Also: Ja, Zeit heilt alle Wunden.
Im Laufe des Spätherbstes 2057 im Schwarzwald verschwanden meine unsichtbaren Wände und die Erinnerungen an die Daumenschrauben und die Wasserbecken und die Elektroschocks und das tagelange Stehen in der engen Zelle verblassten. Aber es war nicht wirklich die Zeit, die das bewirkte. Ich glaube daran, dass es meine Entscheidung war, dass ich irgendwann einfach genug auf diese Wunden gestarrt hatte. Dass ich genug geschrieen hatte, genug mit dem Kopf an Wände geknallt war und mir immer wieder die Wunden aufgerissen hatte. Dass ich einfach genug hatte.
Ja und die Ruhe in meiner Hollywoodschaukel und der ganze Wellnessscheiss haben auch geholfen.
So lösten sich die Hindernisse für meine Fahrt nach Tunesien langsam aber sicher in Luft auf. Ende Oktober fühlte ich mich schon stabil genug und dann meldete sich Sven Schulzdorf auf dem Handy, dass ich von ihm bekommen hatte. Er würde mir in den nächsten Tagen einen Ausweis schicken, es täte ihm leid, dass es so lange gedauert hatte, aber es wäre ja ziemlich viel los gewesen in der letzten Zeit. Davon hätte man hier im Schwarzwald nicht so viel mitbekommen, sagte ich und wollte ihm die Adresse geben, aber da lachte er nur und meinte, er wäre immer noch beim Geheimdienst und auch wenn ich offiziell als verschollen gelte, wüsste er schon über meine Schritte Bescheid.
Dann wollte ich wissen, ob ich mit dem Ausweis auch verreisen könne?
„Das ist kein Problem“, sagte er. „Sie gelten offiziell als entlassen und können sich mit den Papieren überall frei bewegen außer in den Korridoren, aber da wollen Sie ja nicht hin.“
„Nein, ich will nach...“, ich machte eine Pause, weil ich ihm nicht verraten wollte, wohin ich wirklich wollte, „ich will nach Südtirol, ein wenig wandern“.
Er lachte wieder. „Lassen Sie den Quatsch, ich weiß doch, dass Sie nach Tunesien wollen.“
„Woher wissen Sie...?“ Ich brüllte den Satzanfang fast ins Telefon, brach ab, weil mir klar wurde, dass er es natürlich nur über das Handy wissen konnte. Ich starrte das altertümliche Teil an, atmete schwer, überlegte kurz, ob ich das Handy genauso in den Backofen stecken sollte, wie vor Monaten die Fussfessel, aber dann hob ich es doch wieder ans Ohr.
„Beruhigen Sie sich, ich lasse Sie nicht überwachen, Fritz. Mit dem Handy können nur wir beide telefonieren, sonst gar nichts und ich habe überhaupt kein Interesse Sie zu überwachen. Ich weiß, dass Sie nach Tunesien wollen, weil Sie mir davon erzählt haben. Als wir bei ihrem Vater in Hamburg zusammen Rotwein getrunken haben. Sie hätten einen Freund irgendwo bei Monastir, glaube ich, den wollten Sie gerne besuchen. Ich habe Ihnen gesagt, Sie müssten noch etwas Geduld haben, weil das mit den Papieren nicht so einfach ist.“
„Ich erinnere mich nicht“, sagte ich, „aber ich glaube Ihnen.“
„Das freut mich“, sagte er hörbar erleichtert. „Wenn Sie die Papiere haben, vernichten Sie bitte das Handy, aber schreiben Sie sich vorher die Nummer auf, die ich Ihnen gleich schicke. Dann können Sie mich jeder Zeit erreichen.“
„Das werde ich tun“, sagte ich. Im selben Moment kam eine SMS mit seiner Nummer rein. Ich sagte ihm das, bedankte mich noch einmal und wollte schon auflegen, aber er unterbrach mich.
„Sie hatten mich gebeten, Nachforschungen nach dem Verbleib Ihrer Schwester Jennifer zu unternehmen. Auch das hat leider ein wenig gedauert, aber jetzt habe ich alles durchforstet, was es über die weißen Nächte und die Mitglieder der Gruppe der 12 bei uns gibt.“
Mein Herz klopfte wahnsinnig laut, als er das sagte.
„Und?“, sagte ich fast tonlos.
„Nichts“, sagte er. Über Ihre Schwester gibt es keinerlei Erkenntnisse. Sie ist komplett von der Bildfläche verschwunden. Die Gruppe der 12 umfasste erstaunlicherweise 13 Mitglieder, nachdem Djakery Mjungusha, der Freund Ihrer Schwester, dazu gekommen war. 4 davon, darunter Djakery, starben in den weißen Nächten. Vier weitere sind im Lauf der letzten 20 Jahre im Gefängnis verstorben, einige davon unter ziemlich dubiosen Umständen, um es klar auszusprechen, man kann davon ausgehen, dass einige, wenn nicht alle davon ermordet wurden. Drei leben in Freiheit. Michel Braun in Hamburg, Liane Schöningh in Stavanger in Norwegen und Mohamed Berik ist ein hoher Beamter in den Vereinigten Staaten von Afrika. Dann gibt es noch Jonathan Trabers, wo der sich aufhält, wissen Sie.“
„Ja das weiß ich.“
„Und wussten Sie auch, dass er Mitglied der Gruppe der 12 war?“
„Er hat mir davon erzählt.“
„Das Merkwürdige ist, dass wir nur wissen, dass er dazu gehörte. Alle Daten aus der Überwachung bei ihm sind gelöscht. Ich würde denken, dass deutet daraufhin, dass er vielleicht in Verbindung mit uns stand.“
„Er war ein Mitglied des Geheimdienstes?“
„Damals hiess der Verein noch Verfassungsschutz. Aber wie gesagt, das ist nur eine Vermutung.“
„Davon hat er mir nichts erzählt.“
„Was daraufhin deuten würde, dass er wirklich bei uns war, denn dann hatte er mit ziemlicher Sicherheit ziemlich viel Dreck am Stecken. Glauben Sie mir, ich weiß wovon ich spreche.“
„Er hat mir erzählt, dass er sich in der Nacht, als er seine Frau ermordet haben soll, mit Freunden aus der Gruppe getroffen hat.“
„Dann fragen Sie doch mal bei den drei restlichen Überlebenden nach. Wenn jemand von denen ihm ein Alibi gibt, kriegen Sie Ihren Freund vielleicht auch noch frei.“
„Jonathan Trabers ist kein Freund von mir.“
„Entschuldigen Sie“, sagte Sven, „ich habe das Video gesehen, wie sie sich weinend in den Armen halten, deshalb hatte ich gedacht...“
„Davon gibt es ein Video?“ Meine Stimme klang erregt. Ich hatte mich schon wieder nicht im Griff.
Er lachte. „Aber sicher. Sie waren nahezu vollständig dokumentiert“, sagte er. „Also bis auf die Folter und andere Szenen, in denen das Gefängnis nicht gut wegkommen würde. Aber keine Angst, es gab da einen kleinen Serverschaden und jetzt sind sie sozusagen wieder ein unbeschriebenes Blatt. Keine Vergangenheit mehr.“
„Danke. Für alles.“
„Gern geschehen. Wie gesagt vernichten Sie das Handy, aber...“
„Ich schreibe mir die Nummer auf.“
„Das sind alles nur Vorsichtsmaßnahmen. Wie gesagt, In Berlin ist es gerade sehr turbulent. Einige munkeln, dass unser Freund von Barkhausen vielleicht doch wieder den Weg zurück an die Macht findet und deshalb sollte niemand von unseren kleinen Gesprächen erfahren. Auch die Sache mit den Platzpatronen sollten Sie nie wieder irgendwo erwähnen. In Ihrem eigenen Interesse.“
„Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden“, versuchte ich einen Scherz zu machen.
Sven lachte. „Fritz, wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Lassen Sie die Vergangenheit in Ruhe. Sie haben doch noch soviel Zukunft vor sich.“
„Danke“, sagte ich, „ich werde das beherzigen. Deshalb will ich ja nach Tunesien. Da liegt meine Zukunft.“
„Machen Sie es gut, Fritz“, sagte er, dann legten wir auf. Ich notierte die Nummer, zertrümmerte das Handy und begrub die Reste im Wald hinter dem Haus.
Zwei Tage später bekam ich wie versprochen einen Brief mit einer Ausweiskarte. Damit stand meinem Treffen mit Brandon Ford nur noch das fehlende T – Shirt im Weg.
Das erledigte sich an Weihnachten. Ich feierte mit Jasmin und ihrer Familie und Jasmin hatte ihrem Sohn, der im Frühjahr das Abitur machen würde, ein T-Shirt geschenkt, auf dem ein fettes Eichhörnchen, das eine Nuss angrinste und die Aufschrift „Abi 58, die Nuss ist geknackt!“ aufgedruckt war.
Der Sohn fand das T-shirt doof, außerdem hatte er ja noch lange nicht bestanden und es drohte ein richtiger kleiner Weihnachtskrach zu entstehen. Irgendwann sagte ich, „ich finde es lustig, also wenn du es wirklich nicht haben willst, ich nehme es gerne.“ Und so geschah es. Ich packte noch in der Weihnachtsnacht meinen Koffer. Zuoberst legte ich das Abi 58-T-Shirt. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Schwester, dass ich verreisen wollte. Es sei so wunderbar bei ihnen und sie hätten mir wahnsinnig geholfen, aber ich wolle mich nicht länger vor der Welt verstecken. Jasmin und Matteo hatten vollstes Verständnis. Wo ich denn hin wolle? Keine Ahnung, erst mal Richtung Süden. Super, das klänge richtig gut. Ob ich denn genug Geld hätte? Ich würde schon klar kommen, sagte ich, obwohl ich fast nichts besaß. Matteo drängte mir einen dicken Batzen auf, ich bedankte mich sehr und versprach, mich unbedingt von der Reise zu melden.
Ich wollte noch vor Silvester aufbrechen, aber dann rief am 2. Weihnachtsfeiertag Johanna an. Sie würde so viel an mich denken, seit unserer unglücklichen Begegnung bei der Beerdigung meines Vaters. Ob wir uns nicht mal treffen und über alles sprechen wollten? Ich sagte, ich würde die Vergangenheit gerade hinter mir lassen.
Das klänge sehr gut, sagte Johanna.
Und dann musste ich plötzlich an den Moment denken, an dem Johanna die Pistole in der Hand hatte und dass sie eigentlich die einzige gewesen sein konnte, die die Munition gegen Platzpatronen ausgetauscht hatte und ich glaubte, trotz Svens Warnung, dass ich ein Recht darauf hätte, das zu erfahren und deshalb sagte ich, dass ich sowieso gerade ein bisschen Urlaub machen wollte und wenn es für sie in Ordnung wäre, könnte ich den Urlaub auch bei ihr und Antoine beginnen. Und so fuhr ich zwei Tage später vom Schwarzwald über Schleswig Holstein nach Tunesien.
Kapitel 10
Johanna holte mich am Bahnhof von Itzehoe ab und schon im ersten Moment wusste ich, dass die Fahrt vollkommen schwachsinnig war. Eine Reise in die Vergangenheit, um sich jeden Moment reinzuziehen, wie schön damals alles war und wie häßlich die Gegenwart und wie trostlos die Zukunft sein würde. Warum hatte ich mich darauf eingelassen? Wie gesagt: Totaler Schwachsinn!
Johanna trug einen dunkelroten Pullover und eine hellblaue Wollmütze. Sie kam lächelnd auf mich zu und das erinnerte mich an den Moment, wie sie mich am Flughafen abgeholt hatte, nachdem ich in Sri Lanka gewesen war und Brandon Ford getroffen hatte. Schlagartig wurde ich traurig. Wir umarmten uns kurz zur Begrüßung und küssten uns auf die Wange. Ihr Geruch durchströmte mich und erinnerte mich an – alles. An die gemeinsame Erschöpfung nach wunderbarem Sex, an einfach neben ihr liegen und ihren ruhigen Schlafatmen hören und Glückglückglück.
Sie sagte, wie schön es sei, mich zu sehen und ich wiederholte diese Satzhülse fast wortgleich.
Es tut so gut, dich zu sehen.
Schwachsinn.
Wir fuhren mit dem Bus in das kleine Dorf, in dem sie mit Antoine lebte. Sie erzählte von ihrem Alltag. Antoine arbeitete an wissenschaftlichen Untersuchungen, wie man aus Müll direkt in den Häusern Energie gewinnen konnte und sie hatte einen großen Gemüsegarten und eine kleine Ziegenherde und stellte seit drei Jahren sehr sehr leckeren Ziegenkäse her. „Den musst du probieren“, sagte sie, leckte sich kurz über die Lippen und machte dabei ein Mmmmh – Geräusch. Ich sah uns im selben Moment vor hundert Jahren vor unserem kleinen roten Zelt in Nordnorwegen sitzen. Sie reicht mir ein Stück Brot mit einer komischen Moltebeermarmelade – Mmmmh, die musst du probieren.
Und so ging das die ganze Zeit weiter. Ich befand mich durchgehend in einer schmerzhaft – diesigen Erinnerungswelt voll mit kitschigen glattgeschmirgelten Glücksversionen von Johannas und meinen drei gemeinsamen Jahren. Gleichzeitig sah ich Johanna und mich durch die trostlose Friedhof der Windräderlandschaft fahren. Nach über einer Stunde stiegen wir an einer riesigen Baustelle aus – hier war letztes Jahr der Deich gebrochen – gingen noch einmal eine halbe Stunde zu Fuss weiter, bis wir an dem alten Bauernhaus ankamen, in dem Johanna und Antoine seit ein paar Jahren wohnten. Antoine war noch in Hamburg und würde erst am Abend nach Hause kommen. Johanna zeigte mir das Haus, den Garten und die Ziegen und sie sah so aus, als ob sie genau dieses Leben schon immer gewollt hatte. Ein knarrendes Haus, meckernde Ziegen, alte Apfelbäume und ganz viel gute Erde, die man umgraben konnte und im nächsten Jahr würden dort sooo dicke Zucchini wachsen und Bohnen und Himbeeren. Sie redete viel, als ob unsere hilflose Gegenwartssimulation zusammenbräche, wenn sie einen Moment schweigen würde. Und sie lächelte.
Ich streichelte die Ziegen, hörte sie über die besten Methoden zur Kompostierung reden, erzählte meinerseits vom Schwarzwald, den asiatischen Touristen, von der Hollywoodschaukel und dem Sonnenuntergang über den endlosen Fichtenwäldern, sah Johanna lächeln und verschwand in der Vergangenheit.
Ich tauchte erst wieder ein wenig auf, als wir später in der Küche sassen, sie hatte Kaffee gekocht und einen Apfelkuchen - Mmmh, den musst du probieren – und dann hatte sie aufgehört zu reden und ich hatte ebenfalls geschwiegen und wir hatten uns angesehen und die Traurigkeit in unseren Herzen hatte die schmierige Schicht aus penetranten Glückserinnerungsstückchen und sinnlosem Gegenwartsgeplapper durchstoßen und einen Moment war alles gut. Traurig, aber gut.
Sie nahm meine Hand und ich streichelte die ihre.
Ein paar Sekunden.
Dann liessen wir uns los.
Und erst als ich am nächsten Tag wieder im Zug sass und irgendwo zwischen Hamburg und Hannover auf die endlosen Maisfelder starrte, wusste ich, dass dieser Moment der einzige war, für den sich die bekloppte Reise gelohnt hatte.
Wir haben versucht, über all das zu sprechen. Das Gefängnis. Die Einsamkeit. Die Wut. Die Hoffnungslosigkeit. Aber das sind nur Worte. Johanna und ich merkten immerhin schnell, dass es keinen Sinn machte, mithilfe dieser armseligen Worte aus den über 20 Jahren, die wir getrennt voneinander verbracht hatten, eine wie auch immer geartete gemeinsame Zeit zu machen. Das war Schwachsinn. Schwachsinn. Schwachsinn.
Wir hatten das kapiert, als wir unsere Hand hielten. Für ein paar Sekunden. Aber das reichte uns noch nicht. Wir brauchten noch einen Spaziergang am Meer, einen Abend mit einem leckeren Kartoffelauflauf und einem Gespräch zu dritt über die politische Lage, ein bisschen Hoffnung auf Besserung, aber man muss wachsam bleiben und dann tranken wir noch eine Flasche Rotwein und zwischendurch übten sich Johanna und ich in immer bedeutungsloser werdenden Wiederholungen unserer Versicherung, dass es sooo gut tat, uns zu sehen und damit die Vergangenheit endlich loszulassen.
Antoine war nett. Er war so höflich, wie man in einer so schwachsinnigen Situation nur sein kann. Er war charmant, intelligent und sogar manchmal ein wenig witzig. Als wir die zweite Flasche Wein ausgetrunken hatten, sagte er, er lasse uns jetzt allein, er würde sich aber freuen, wenn wir nicht noch eine Flasche leeren würden, weil Alkohol ja Nostalgie oftmals befördern würde, aber wir seien ja alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen.
Ich sagte ihm, er müsse keine Angst haben. Johanna und ich hätten unsere Zeit gehabt und jetzt hätten er und Johanna ihre Zeit und da gäbe es nichts dran zu rütteln und Nostalgie sei überhaupt ein ganz besonders bescheuertes Gefühl. Und dann habe ich doch tatsächlich gesagt, dass die beiden ein tolles Paar seien.
Rotwein macht aus Schwachsinn keine Wahrheit. Es bleibt einfach Schwachsinn.
Johanna und ich blieben noch eine Anstands Viertelstunde in der Küche sitzen, tranken keinen Wein mehr und wurden langsam wieder schweigsamer. Kurz bevor wir schlafen gingen, sagte sie wie aus dem Nichts, dass sie übrigens auch glaube, dass Jennifer schon lange tot sei. Ich schaute sie sehr überrascht an. Dann prosteten wir uns mit den leeren Gläsern zu – auf Jennifer – auf Jennifer - und dann erzählte ich ihr von der Jenseitsvorstellung meines Vaters mit den viel zu hell gleißenden Laternen. Und dass ich mir immer vorstellen würde, dass Jennifer inzwischen im Jenseits ein Mittel erfunden hätte, die Laternen zu dimmen und das meinem Vater vorführen würde. Ein kleines schwarzes Kästchen mit mehreren Reglern und sie verschiebt zuerst einen, alles wird angenehm dämmrig, dann verschiebt sie noch einen zweiten und dann einen dritten und so weiter und die Laternen wechseln die Farbe, von zartrot zu tiefblau und dann lässt sie alles in einem beruhigenden Rhythmus blinken, das ganze beschissene Jenseits blinkt in wechselnden sanften Farben.
Noch einmal sahen Johanna und ich uns an. Noch einmal nahmen wir unsere Hand. Noch einmal war alles ein bisschen gut.
Dann gingen wir schlafen. Sie zu Antoine. Ich allein in einem kleinen Dachzimmer.
Die Sache mit den Platzpatronen habe ich erst am nächsten Morgen angesprochen. Beim Frühstück. Antoine las aus der Zeitung vor, dass von Barkhausen in Nordrussland angeblich eine militärische Allianz schmieden würde, um in nicht allzu ferner Zukunft seine Macht wieder zurück zu erobern. Es klang wie eine ziemlich durchsichtig konstruierte Rechtfertigung der drastischen Erhöhung der Militärausgaben, die die neue Regierung als erstes durchsetzen wollte. Antoine sagte mit einem leichten Lächeln, dass es vielleicht doch ein klein bisschen schade sei, dass ich von Barkhausen damals bei unserem Attentat trotz der kurzen Entfernung verfehlt hatte.
„Das ist nicht komisch“, sagte Johanna „und du weisst genau, dass das kein Attentat war. Wir wollten nur meine Freundin Barbara retten.“
„Ich weiß“, sagte Antoine und biss sich auf die Lippen. Eindeutig ein Reizthema zwischen den beiden.
„Das war ein Attentat“, sagte ich. „Egal, mit welcher Motivation wir da eingedrungen sind. Und ich habe ihn verfehlt, aber nicht, weil ich ein so beschissener Schütze gewesen bin oder weil von Barkhausen von übersinnlichen Kräften beschützt worden ist, sondern weil in der Pistole nur Platzpatronen waren.“
Während ich das sagte, beobachtete ich Johanna und an ihrer Reaktion sah ich sofort und mit hundertprozentiger Sicherheit, dass sie keine Ahnung davon hatte.
Ich erzählte ihnen von Lars und Sven und wie es überhaupt zu meiner Freilassung gekommen war. Ich sagte ihnen, dass ich die Pistole ja von Jennifer bekommen hätte und ich sie eigenhändig geladen hätte - und zwar mit scharfer Munition – und das ja außer Johanna niemand von der Existenz der Waffe gewusst hätte – und natürlich bestätigte sie meine Einschätzung, dass sie das Ding nicht angefasst hätte, sie hätte überhaupt keine Ahnung, wie man so etwas lädt. „Komm, du hast doch genug Krimis gesehen“, lachte Antoine, aber wieder wies Johanna ihn mit den Worten, „das ist nicht witzig“, zurecht.
„Wir müssen den Fall wieder aufrollen, eine Wiederaufnahme beantragen“, sagte Johanna und klang plötzlich wieder wie die Anwältin von früher und nicht mehr wie die Biobäuerin von heute. Ich erklärte ihr, dass Sven mich eindringlich davor gewarnt hätte, die Platzpatronengeschichte in die Öffentlichkeit zu bringen. Ich würde damit meine Freiheit gefährden und überhaupt, was würde es mir nützen?
Es dauerte ein paar Minuten, dann hatten wir uns alle drei wieder beruhigt.
„Letztendlich kannst du doch froh sein“, sagte Antoine in einem abschließenden Tonfall, „ich meine, du konntest ihn gar nicht umbringen, das könnte dein Gewissen beruhigen, falls du dir manchmal wegen deines Mordversuchs Gedanken gemacht haben solltest.“
„Das ändert gar nichts“, sagte ich todernst und während ich das sagte, merkte ich, wie wahr das ausnahmsweise war, „ich wusste nichts von den Platzpatronen und ich war froh, ihn zu erschiessen. Es war einer der glücklichsten Momente in meinem Leben.“
Eine kleine Pause. In der wir alle drei an unserem Kaffee nippten oder sonst wie verlegene Frühstücksgesten ausführten. Die Marmelade ein paar Zentimeter verschieben. Ein paar Brotkrümel vom Tisch aufsammeln und in den Mund stecken. Solche Sachen, die keinen eigenständigen Sinn haben, sondern nur Zeit überbrücken sollen, um die Vergangenheit sicher von der Gegenwart zu trennen.
Das gelang im ersten Anlauf noch nicht so recht. Also sagte ich noch, „ich hätte verdammt noch mal mehr darüber nachdenken sollen, was dadurch alles passieren würde. Dass Johanna für 10 Jahre, ich für mehr als 20 Jahre ins Gefängnis kommen würde. Dass wir gefoltert wurden. Dass wir uns schon im Moment des Schusses für immer verloren hatten. Dass ihr euch gefunden habt. Dass ihr Ziegen haben werdet. Und leckere selbstgemachte Marmelade. Eben einfach alles. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich vielleicht nicht geschossen. Vor allem, wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn verfehlen würde. Dass ich ihn gar nicht treffen konnte. Weil irgendein beschissener Idiot die scharfen Patronen rausgenommen und durch harmlose Platzpatronen ersetzt hat.“
Natürlich dachte ich bei der Formulierung „irgendein beschissener Idiot“ an Brandon Ford und ich wusste, es wurde allerhöchste Zeit, dass ich mich jetzt wirklich auf den Weg nach Tunesien machte.
Wir redeten noch ein paar Minuten, dann sagte ich, ich müsse leider langsam mal los, Johanna wollte mich aufhalten, ich könne gerne noch bleiben, oder ob ich Silvester schon etwas vorhätte?, ich könne gerne hier bei Ihnen feiern, ein Blick zu Antoine, der zustimmend nickte, das sei wirklich sehr sehr nett, aber ich sei in der Tat verabredet, da gebe es Susa, die mich manchmal im Gefängnis besucht habe. Vielleicht wäre es ja eine bescheuerte Idee, aber sie wäre jetzt in Garmisch Partenkirchen und wenn ich mich beeilen würde, könnte ich vielleicht noch Silvester mit ihr auf der Zugspitze verbringen.
Wie gesagt: Schwachsinn. Johanna hatte Antoine. Mit dem und ihren Ziegen würde sie hier am kaputten Deich in das neue Jahr hinein feiern. Da konnte ich doch mit Susa an der Zugspitze eine Rakete auf die Zukunft starten lassen.
Am liebsten hätte ich ihr natürlich gleich gesagt, dass es keine Susa gab, dass ich in Wirklichkeit nach Tunesien wollte, um mich mit dem Mann zu treffen, der unser gesamtes Schicksal zu verantworten hatte, aber natürlich sagte ich nichts. Ich lächelte ein etwas unsicheres Lächeln, wie ein Mann, der sich auf ein Date freut, aber die Frau noch nicht gut genug kennt, um sich über eine gemeinsame Zukunft Gedanken zu machen. Wie ein Mann, der sich nicht allzu viel Gedanken macht, der seine Gegenwart genießt, egal was die Zukunft an Scheußlichkeiten oder Glückseligkeit für ihn bereit hält. Also wie ein Mann, der ich gerne gewesen wäre, der ich aber niemals geworden war, seit ich im Alter von 12 Jahren den Videoplayer gefunden hatte. PLAY oder DONT PLAY.
Also ging ich ein paar Minuten später mit Antoine und Johanna den Deich hinunter bis zu der Bushaltestelle an der Baustelle. Der Bus kam ein paar Minuten später. Ich drückte Antoine die Hand und umarmte Johanna kurz. „Mach's gut“, sagte ich. „Ich wünsch dir eine schöne Zeit, auf das 2058 ein tolles Jahr für dich wird“, sagte sie. „Viel Spaß mit Susa“, sagte Antoine und grinste. Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Aber ich grinste einfach nur zurück und stieg in den Bus.
Kapitel 11
Bis nach Rom kam ich ohne Probleme mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Hamburg aber dort wurde ich aufgehalten, weil man für die Durchquerung des sizilianischen Korridors Visa brauchte, für deren Erteilung man ein paar Tage Wartezeit und einen ziemlichen Batzen Geld benötigte. Flüge gab es zu diesem Zeitpunkt für Privatreisende keine nach Tunesien, also war mein Plan irgendwo in Sizilien ein Boot zu besteigen und illegal einzureisen.
So verbrachte ich den Jahreswechsel in einem verregneten Rom in einem billigen Hotel in der Nähe des Kolosseums. Um Mitternacht stand ich an meinem Fenster, starrte auf den Hinterhof, hörte in einem der Nachbarzimmer einen einsamen Fernseher plärren und irgendwo draußen ein paar Menschen sich mit überdrehten Stimmen ein frohes neues Jahr wünschen. Vorher hatte ich in einer Pizzeria einen Teller Pasta arrabiata mit einer Extraportion Kapern gegessen, einen halben Liter Wein getrunken und mir selbst mit einem Grappa zum neuen Jahr gratuliert.
Das war die Freiheit. Mehr brauchte ich nicht.
Ich wusste, dass das Geld, das mir Matteo zugesteckt hatte, irgendwie reichen würde, um mich in die Paradise Beach Bar zu bringen und dort würde ich auf Brandon Ford treffen. Er würde sagen „Dann komm mal mit“ und dann würde er mir seine Fabriken zeigen und irgendwo in diesen unterirdischen Katakomben würde ich meine Zukunft sehen.
Am Neujahrstag fuhr ich mit der U – Bahn nach Ostia und lief ein paar Stunden am Meer entlang. Es regnete immer noch, aber das störte mich nicht. Ich ging einfach geradeaus. Kilometer für Kilometer. Das Meer auf meiner rechten Seite war grau, links Häuser, die von einer prächtigen Vergangenheit erzählten, die aber schon lange vorbei war. Das wirklich Schöne an diesem Spaziergang war das absolute Fehlen von unsichtbaren Wänden. Irgendwann war ich so nass, das ich einfach mit meinen Klamotten ins Wasser ging. Es war ziemlich kalt, aber auch das war mir egal. Ich stand bis zum Bauch im Wasser und lies den Regen auf mich tropfen. Dann tauchte ich einmal komplett unter.
Ich verliess das Wasser, schüttelte mich ein paar mal und wrang meine Kleider notdürftig aus.
Dann ging ich wieder zurück. Dieselben Kilometer, nur dass das Meer jetzt auf meiner linken Seite war.
Auf der Rückfahrt traf ich in der U – Bahn meine erste Freundin Miriam und wunderte mich, wie sie mich nach ziemlich genau 40 Jahren nach unserer letzten Begegnung wieder erkennen konnte, obwohl ich total durchnässt war und die Zeit im Gefängnis mich in etwas verwandelt hatte, das ich selbst am wenigsten kannte. Sie hat mir im Schnelldurchgang die Stationen ihres Lebens erzählt, so dass ich erst bei unserer Verabschiedung fragen konnte, woran sie mich denn erkannt habe? Sie war schon fast ausgestiegen, als ich das fragte. Einen Moment zögerte sie, dann lächelte sie. „Wir haben uns mal geliebt“, sagte sie, „wenn man sich liebt, erkennt man sich. Das gilt für immer. Da kann man nichts machen.“ Die Türen der Metro schlossen schon und sie sprang im letzten Moment hinaus.
Sie wäre fast hingefallen, konnte sich aber gerade noch abfangen.
Und dann geschah etwas wirklich Merkwürdiges. Kaum war die U – Bahn wieder losgefahren und Miriam aus meinem Blickwinkel verschwunden, veränderte sich das Licht in dem Wagen. Es wurde alles in ein strahlendes Blau getaucht. Aber diese Farbe kam nicht aus der Beleuchtung des Wagens, sondern sie schien direkt von den Menschen auszugehen, die mit mir zusammen in der U – Bahn fuhren. Frauen und Männer, alte und junge, ein paar Kinder. Eine sehr alte Frau, die am nächsten zu mir stand, sah mich für ein paar Sekunden an, sonst waren alle bei sich oder in ihre Handys vertieft. Und alle strahlten in diesem perfekten Blau. Dieses Licht blieb nur ein paar Sekunden, aber die ganze Zeit wusste ich alles von diesen Menschen. Ich erkannte sie und ich wusste, sie erkannten mich. Dann verschwand das blaue Licht und wir verwandelten uns wieder in Fremde unter Fremden.
Zwei Tage später bekam ich mein Visa und fuhr bis nach Mazara del Vallo an der westlichen Seite von Sizilien, wo ich nach zwei weiteren Tagen in der Dunkelheit ein uraltes und nicht sehr vertrauenswürdiges Fischerboot bestieg, das mich aber ohne Probleme am nächsten Morgen ganz in der Nähe von Monastir am Strand absetzte. Ich zog mir das Eichhörnchen Abi Tshirt an und wieder ging ich stundenlang am Meer entlang, nur, dass es dieses Mal warm war. Das Meer war auf meiner linken Seite und am frühen Nachmittag entdeckte ich ein verwittertes Schild „Paradise Beach Bar 300 Meter.“ Ein Pfeil zeigte landeinwärts und ich verliess den Strand. Dreihundert Meter an verlassenen Häusern entlang, dann waren da ein paar Palmen und wieder ein Schild. Paradise Beach Bar. Entrance. Ein Tor, das aber nicht verschlossen war. Ich betrat die Bar und alles sah so aus, wie ich es von dem Video in Erinnerung hatte. Ein Innenhof umrahmt von einer halbhohen weißen Mauer. Kleine Holzpavillons mit Schilfdächern. In jedem Pavillon ein Tisch. An den Wänden Werbeaufdrucke und vor jedem Pavillon ein Schild mit dem vertrauten Namen: Paradise Beach Bar. Alles ziemlich runtergekommen und vollkommen leer. Ich durchquerte den Hof und durch ein weiteres Tor betrat ich einen weiteren, ziemlich identischen Hof. Nur dass dieser nicht leer war. Gleich am ersten Tisch sass er. Jeanshemd. Sonnenbrille und zwei Drinks vor sich stehend. „Herzlich willkommen im Paradies“, sagte Brandon Ford und prostete mir zu.
Ich nahm den zweiten Cocktail und stieß mit ihm an. Das Zeug schmeckte überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Eher bitter als süss, aber hauptsächlich wässrig und ziemlich künstlich.
„Warten Sie schon lange?“, fragte ich ihn, nachdem ich das Glas abgesetzt hatte.
„Ich warte nie“, sagte er.
Ich trank einen zweiten Schluck.
„Schmeckt dir das Zeug?“, wollte er wissen.
„Ich hätte gedacht, dass es süss ist. Süss und klebrig.“
„Und was heisst das jetzt? Schmeckt es dir oder nicht?“
„Nein“, sagte ich.
„Die haben hier nichts anderes. Der Laden ist schon ein paar Jahre geschlossen. Das Paradies hat schon lange dicht gemacht. Aber wir bleiben ja nicht lange.“
„Wieso das denn?“, fragte ich und grinste ihn etwas provozierend an.
„Wenn es dir irgend möglich ist, lassen wir dieses Mal das ganze Getue weg. Wer hier cleverer ist und wer auf wen sauer ist und der ganze wer ist eigentlich der Wichtigste von uns zweien – Scheiß? Ich weiß, warum du hier bist und du weißt, warum du hier bist und du weißt, dass ich es weiß, also bringen wir es einfach hinter uns.“
Ich mochte nicht, dass er so mit mir redete. Also wurde ich bockig.
„Und wer ist jetzt der Wichtigste von uns zweien?“, sagte ich und kam mir sehr witzig vor.
„Ich natürlich“, sagte er ohne mit der Wimper zu zucken.„Also sagst du mir jetzt, was du willst?“
Ich starrte ihn an und schwieg. Ich versuchte seine Augen hinter der Sonnenbrille zu erkennen. Er nahm sie nach ein paar Sekunden einfach ab und legte sie auf den Tisch. Seine Augen hatten dieselbe Farbe, die ich in dem merkwürdigen Moment in der römischen U – Bahn gesehen hatte. Das perfekte Blau.
Und dann platzte es aus mir heraus. „Ich möchte meine Zukunft sehen. Ich möchte wissen, ob sich das alles noch lohnt. Ob ich vergessen kann, was ich erlebt habe. Was ich getan habe. Und ob da noch etwas ist. Etwas anderes. Etwas Leuchtendes. So wie dieses komische Leuchten in Ihren Augen. Ich habe es vor ein paar Tagen gesehen. Für ein paar Sekunden und ich denke, ich habe ein Anrecht darauf, ich wollte das alles nicht, alles ist nur passiert, weil Sie mir dieses Ding geschickt haben, wie auch immer Sie das machen, durch die Zeit, PLAY / DONT PLAY, als ob ich irgendeine Art von Wahl gehabt hätte, Sie haben mich verarscht, hören Sie, verarscht haben Sie mich, ich war 12 Jahre alt und Sie haben mein Leben in einem Moment für alle Zeit verdorben. Und jetzt tun Sie hier ganz großzügig und wollen mich einfach nur weiter verarschen. Aber ich habe ein Anrecht darauf, dass Sie mir alles zeigen. Meine Zukunft.“
Einen Moment schwieg ich wieder und kämpfte die aufsteigenden Tränen hinunter.
„Ich vermisse sie so“, sagte ich irgendwann sehr leise.
„Wen vermisst du?“
„Alle.“
Und ich dachte komischerweise zuallererst an Miriam. Und dann an die Menschen in der U Bahn in Rom. An Johanna und Antoine. An Jasmin und Matteo, ich dachte an Sven und Lars, an meine toten Eltern, an Jonathan Trabers und alle anderen Mitgefangenen, an die Wärter, an Djakery und Barbara und die Freunde aus der Zeit der weißen Nächte, an die Menschen, mit denen ich zur Schule gegangen war, ja ich dachte sogar an Robert von Barkhausen und ganz zuletzt dachte ich an Jennifer.
Er setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Ja“, sagte er und nahm noch einen Schluck, „es ist nicht schön, allein zu sein.“
„Was wissen Sie denn davon?“
„Vom Alleinsein weiß ich viel zu viel. Ich bin der Weltmeister der Einsamkeit. Ich habe ein Ferienhaus am Ende der Welt, da verbringe ich die meiste Zeit meines Lebens.“
„Wo ist das Ende der Welt?“, fragte ich und bedauerte die Frage sofort.
„Das war ein Scherz“, sagte er. „Eine Metapher, kein konkreter Ort. Aber lassen wir das, darum geht es ja nicht.“
„Worum geht es denn dann?“ Ich war immer noch bockig.
„Du hattest einen Wunsch geäußert. Könntest du den noch einmal wiederholen? Klar und einfach, ohne zu viel Emotionen, wenn es geht.“
Ich hätte ihn verprügeln können. Ihm wenigstens den Drink ins Gesicht schütten. Aber ich wollte, dass er mir meine Zukunft zeigt. Und so tat ich ihm endlich den Gefallen.
„Ich will meine Zukunft sehen“, sagte ich und war erstaunt, wie leicht es ging. Einfach nur einen Wunsch zu äußern.
Er lächelte.
Dann schwiegen wir einen Moment und alles rastete ein. Das war der Augenblick, den ich auf dem Video im Gefängnis gesehen hatte. Er prostete mir noch einmal zu. Ich erwiderte die Geste. Wir tranken jeder einen Schluck. Jetzt schmeckte es süss und klebrig. Herrlich süss.
Dann sagte er: „Willst du das wirklich?“
„Natürlich will ich das. Davon habe ich die letzten zwanzig Jahre geträumt.“
„Dann komm mal mit.“
Kapitel 12
Wir verliessen das Paradies auf der meerabgewandten Seite. Auf dem riesigen Parkplatz davor stand nur ein Wagen, ein roter, gedrungener Sportwagen. „Der passt zu Ihnen“, sagte ich.
„Findest du?“
Ich nickte. „Dann nehm ich das mal als Kompliment“, sagte Brandon Ford und lächelte.
Wir stiegen ein und fuhren los.
Die Straße war leer und der Wagen beschleunigte in einem irrsinnigen Tempo. „Wenn es dir zu schnell geht, sag einfach Bescheid“, sagte Brandon Ford und berührte mich kurz an der Schulter. Ich verspürte einen kleinen Stich und dann sah ich auf der Ablage vor meinem Sitz einen schwarzen Videoplayer liegen. Ich wollte danach greifen, aber dann passierte wieder etwas Merkwürdiges. Obwohl der Wagen so schnell fuhr, dass ich tief in den Sitz gedrückt wurde, schlief ich innerhalb von Sekunden ein. Natürlich träumte ich meinen Dauertraum, wie Brandon Ford mich zu seiner sternförmigen, unterirdischen Fabrik führte. Wie er mich zuerst wie ein Kleinkind trug, wie wir an der Bäckerei mit dem Geruch nach Laugenbrötchen vorbeikamen und dann durch das endlose Industriegebiet gingen. Und die ganze Zeit wusste ich, dass wir in Wirklichkeit gemeinsam in seinem roten Sportwagen durch die Wüste rasten. Ich sah, wie Brandon Ford mich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen Seitenblick betrachtete, so als ob er kontrollieren wollte, ob ich immer noch schlief. Und gleichzeitig folgte ich ihm in meiner nebligen Traumwelt vorbei an endlosen Lagerhallen.
Ich wachte merkwürdig erfrischt auf. Das Auto stand auf einer Anhöhe. Drumherum nur Sand. Wir waren mitten in der Wüste. Brandon Ford war ausgestiegen und stand rauchend ein paar Meter vor dem Wagen. Den Player hatte er in der Hand. Ich stieg ebenfalls aus. Es war unglaublich heiß, aber die Luft war klar und trocken.
Ich ging zu Brandon Ford und stellte mich neben ihn.
„In meinem Traum sah das alles anders aus“, sagte ich.
„Das haben Träume so an sich. Sie haben nichts mit der Realität zu tun“, sagte er.
„Ich habe gedacht, dieser Traum wäre die Realität.“
Da lachte er. „Unterirdische, sternförmige Fabriken voller PLAY/DONT PLAY – Geräte. In was für einer Zeit lebst du?“ Er lachte immer mehr. „Und was soll diese Bäckerei? Mit dem Geruch von Laugenbrötchen?“ Brandon Ford lachte mich aus. Ich spürte, wie ich wütend wurde und die Wut sich ganz langsam in mir ausbreitete. Ich ging ein paar Meter von ihm weg und setzte mich in den Sand. Stand aber sofort wieder auf, weil der Sand so heiß war. Das machte mich noch wütender. Ich ging noch ein paar Meter weiter weg. Da lagen ein paar Steine im Sand herum. Ich blieb stehen.
„Was ist daran so komisch?“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Brandon Ford.
Er antwortete nicht.
„Was ist daran so verdammt komisch?“ Dieses Mal schon lauter. Aber natürlich antwortete er immer noch nicht. Und die Wut wuchs und wuchs.
„Ich mag Laugenbrötchen. Schon als kleiner Junge habe ich immer Laugenbrötchen gegessen. Meine Freunde wollten diese labrigen Rosinenteile oder die ach so gesunden Körnerbrötchen oder einfach nur weiße, stinklangweilige Normalobrötchen, aber ich wollte Laugenbrötchen. Immer nur Laugenbrötchen. Mit Marmelade, Honig oder mit Frischkäse oder Leberwurst, ganz egal was drauf war, ich wollte den leicht salzigen, herben Geschmack. Das ist meine Kindheit. Laugenbrötchen mit Leberwurst. Und Tomatensoße mit Kapern. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Bis Sie mich mit ihrem Videoplayer in eine Zukunft gestoßen haben, die nicht meine war. Die ich niemals wollte. Die ich -“
Ich hörte mitten im Satz auf zu reden. Meine Stimme klang schwer belegt. Wenn ich weiter geredet hätte, hätte ich angefangen zu weinen. Und ich würde niemals vor Brandon Ford auch nur eine Träne vergiessen.
Ich nahm einen Stein in der Größe eines Tennisballs in die Hand. Er war ebenfalls sehr heiß, aber ich umklammerte ihn so fest, wie ich nur konnte.
Und dann erst merkte ich, dass Brandon Ford anscheinend meine Träume kannte. Er wusste alles. Meine Träume. Die Bäckerei, an der ich mindestens 1000 mal vorbei gegangen war. Der Geruch von Laugenbrötchen. Er kannte jeden Winkel meines Lebens. Meine geheimsten Wünsche, meine Sehnsüchte, meine verschüttete Liebe, einfach alles. Und jetzt lachte er mich aus. Mitten in der Wüste. Direkt vor seinem beschissenen roten Angeber-Sportwagen. Und er würde mir niemals meine Zukunft zeigen. Er würde einfach nur weiter lachen. Er würde mein ganzes verlebtes Leben verlachen.
Brandon Ford hörte auf zu lachen.
„Tu das bitte nicht“, sagte er und in diesem Moment merkte ich erst, dass ich den Arm ausgestreckt hatte, um ihm den Stein an seinen dämlichen Kopf zu werfen.
Ich melde mich mal wieder aus meinem Alterssitz im Luna Tower in Colombo und Ja, ich bedauere, dass ich diesen Stein geworfen habe. Dass ich getroffen habe und dass ich noch ein paar mal mit voller Kraft mit diesem Stein auf ihn eingeschlagen habe. Er war schon vom ersten Treffer zu Boden gegangen. Ich bin so schnell ich konnte zu ihm gelaufen, habe den Stein aufgehoben und auf ihn eingeschlagen. Auf den Kopf, auf die Schulter und auf den Brustkorb. Aber am meisten auf den Kopf.
Und dann habe ich den Stein fallen lassen, habe Sand genommen und ihm in den Mund gestopft.
Und ich würde gerne sagen, dass ich dachte, ich könne jemand wie Brandon Ford gar nicht weh tun, weil er irgendwie über den Dingen zu schweben schien, die Zeit beherrschte, weil er einen unglaublich schnellen roten Sportwagen hatte und einen dazu bringen konnte, zu schrumpfen, weil er in mich hineingeklettert war und in mir eine stählerne Wendeltreppe auf und ab marschierte und meine Träume kannte, ja, weil er einfach kein Mensch war, aber all das ist dummes Gequatsche, weil Brandon Ford schon nach dem ersten Treffer blutete und er stöhnte und vor Schmerzen schrie, ja, weil er sogar versuchte, sich zu wehren, aber er hatte keine Chance gegen mich und meine Wut.
Ich wollte ihn töten und ich hätte so gerne eine Pistole gehabt, wie damals, als ich auf Robert von Barkhausen schoß, aber dieses Mal hätte ich garantiert dafür gesorgt, dass da keine Platzpatronen drin waren.
Aber auch ein kleiner Stein ist in der Hand eines unendlich wütenden Menschen eine tödliche Waffe. Brandon Ford atmete kaum noch und er wehrte sich nicht mehr, ich hob noch einmal den Stein und in diesem Moment hörte ich es so laut wie noch nie:
Klickklack Klickklack.
Ich ließ den Stein in den Sand fallen, kratzte den Sand aus seinem Mund, drehte ihn auf den Bauch und klopfte ihm wie einem Baby auf den Rücken, bis er den restlichen Sand so gut es ging ausspuckte und wieder zu Atem kam. Dann stand ich auf und ging weg. Einfach nur weg. Von Brandon Ford. Von seinem Auto. Von mir und meiner Wut.
Nach 10 Minuten blieb ich stehen. Die Wut war verraucht. Ich stand mitten in der Wüste. Drehte mich langsam um mich selbst. Überall nur Sand. Und darüber ein unbarmherzig blauer Himmel. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich wieder einigermaßen ruhig atmete. Ich ging meinen Spuren folgend wieder zurück.
Brandon Ford lag immer noch im Sand, an der Stelle, an der ich ihn zurückgelassen hatte. Er atmete und hatte die Augen offen. Der Player lag neben ihm. Ich nahm ihn und drückte auf PLAY. Das Video zeigte die Wüste. Das rote Auto kam angerast, bremste und hielt an. Brandon Ford stieg aus, ging ein paar Schritte, blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Den Player hatte er in der Hand. Dann kam ich dazu und alles geschah genauso, wie es sich vor ein paar Minuten zugetragen hatte. Wir sagten unsere Sätze über die Träume, dann lachte Brandon Ford, ich wurde wütend, ging ein paar Schritte weg, nahm den Stein und holte aus. Brandon Ford bat mich, das nicht zu tun, aber ich warf und traf ihn an der Stirn, direkt über dem Auge, wo jetzt alles blutig und geschwollen war. Dann lief ich zu ihm und schlug immer wieder auf ihn ein. Er blutete und schrie vor Schmerz, versuchte sich zu wehren, aber hatte keine Chance gegen mich. Dann liess ich den Stein fallen und stopfte ihm Sand in den Mund. Ich hob noch einmal den Stein und in diesem Moment war das Video zu Ende.
„Warum haben Sie sich mit mir getroffen, wenn Sie wussten, dass das passieren würde?“, fragte ich Brandon Ford, als ob wir nur eine längere Gesprächspause gemacht hätten.
„Du hast es immer noch nicht verstanden“, sagte er und es hörte sich so an, als ob er ziemliche Schmerzen hätte.
„Erklären Sie es mir bitte“, sagte er.
„Du bittest mich?! Das ist nett, wenn man bedenkt, was du gerade getan hast.“ Er lächelte sogar ein klein wenig, als er das sagte.
„Entschuldigung, ich war außer mir, ich... das tut mir leid“, stammelte ich und begann gleichzeitig mit meinem Abi 58 Eichhörnchen T – Shirt das Blut aus seinem Gesicht zu tupfen.
„Lass das“, sagte er. „Und ich entschuldige das nicht. Damit musst du klar kommen. Für den Rest deines Lebens.“
Mit diesen Worten versuchte Brandon Ford aufzustehen, aber er kam nur bis auf die Knie. Augenscheinlich hatte ich ihn ziemlich heftig verletzt.
„Würdest du mir bitte helfen?“, sagte er und ich half ihm vorsichtig auf die Beine. Dann führte ich ihn zum Auto.
„Du wirst wohl oder übel fahren müssen“, sagte er und setzte sich unter lautem Stöhnen auf den Beifahrersitz. Ich stieg auf der anderen Seite ein und schaute Brandon Ford etwas hilflos an. „Wenn Sie vielleicht bitte den Autoschlüssel...? Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, ich bin seit vielen Jahren nicht mehr gefahren.“
„Wenn du nicht fahren kannst, ist es keine so gute Idee den Fahrer zusammen zu schlagen“, sagte er und als ich daraufhin mit den Schultern zuckte, sagte er, „das war wieder ein Witz, das Auto fährt selbstverständlich von alleine, wir müssen nur die Koordinaten eingeben. Die Tastatur direkt vor dir. X140755X, das ist der Code für mein Zuhause.“
Ich tippte die Kombination ein und fragte ihn dann, seit wann er denn in Tunesien wohne und nicht mehr in Colombo im Luna Tower?
„Ich habe nichts von Tunesien gesagt“, sagte er. „Ich bin zwar ziemlich fertig von deinen nahezu mörderischen Schlägen, aber ich erinnere mich genau, ich sagte, das ist der Code für mein Zuhause.“
Ich sagte nichts.
„Würdest du jetzt bitte die Eingabe noch mit der grünen Taste bestätigen“, sagte er und schlug mir spielerisch auf die Schulter, wodurch ich dort wieder einen kleinen Stich verspürte, „sonst sitzen wir morgen noch hier und ich möchte gerne nach Hause, die Wunden versorgen, etwas trinken und dir dann in Ruhe eine Geschichte erzählen.“
Ich drückte auf die grüne Taste, das Auto fuhr sofort los, ich klammerte mich an das Lenkrad, aber das verschwand nach ein paar Sekunden in der Konsole vor mir und noch ein paar Sekunden später war ich wieder eingeschlafen.
Kapitel 13
Als ich wieder aufwachte, lag ich vollständig bekleidet auf einem Bett in einem abgedunkeltem Zimmer. Meine rechte Hand war verbunden und ich hatte wahnsinnigen Durst. Ich stand auf und öffnete den Vorhang vor dem kleinen Fenster. Ein unheimlich weiter Blick tat sich auf. Hügelige Landschaft bis zum Horizont. Grün. Definitiv nicht mehr die Wüste. Die Sonne schien gleich unter zu gehen. Oder war sie gerade erst aufgegangen?
Ich hatte das Gefühl, sehr lange geschlafen zu haben.
Ein schöner Blick.
Ich konnte keine Straße entdecken, keine anderen Häuser, kein rotes Auto. Kein Brandon Ford. Nur endloses hügeliges Grün.
Ich schloss den Vorhang wieder und sah mich in dem Zimmer um.
Ein Bett. Ein kleiner Nachttisch mit einer Lampe und einem Glas Wasser darauf. Eine Tür. Sonst nichts.
Ich trank einen Schluck Wasser.
Ich setzte mich wieder auf das Bett. Trank das Glas leer.
Sah wieder vor mir, wie ich den kleinen Stein nehme und ihn mit voller Kraft auf Brandon Ford schleudere. Wie heiß der Stein ist. Und wie ich ihn ein zweites Mal aufhebe und Brandon Ford damit verprügele. Wie ich den Sand in seinen Mund stopfe.
Mir wurde schlecht. Ich wollte mich nicht erinnern. Und erinnerte mich mit aller Macht. An jeden Schlag. An Brandon Fords unterdrückte Schreie. An das Blut. An den Sand. Ich wollte mich nicht erinnern. Ich löste den Verband von meiner Hand. Die Innenseite war verbrannt. Die Haut hatte sich an einigen Stellen gelöst, aber irgendjemand hatte mir eine Salbe drauf geschmiert. Es tat nicht weh, es kribbelte nur ein wenig. Und es roch nach Olivenöl.
Irgendjemand hatte meine verbrannte Hand mit Olivenöl eingerieben.
Irgendjemand?!
Ich schaute mich um. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand war eine Tür. Ich stand auf. Irgendwo hinter der Tür würde er sein. Brandon Ford. Der Mann, den ich töten wollte.
Und der mich ins Bett getragen und meine Wunde versorgt hatte.
Ich stand wieder auf, ging zur Tür und öffnete sie.
Ein riesiger Raum. Lichtdurchflutet, weil eine Seite komplett verglast war. Die tiefstehende Sonne tauchte das Zimmer in ein zartes Orange. Es gab nur einen Tisch und zwei Stühle. Der Tisch war gedeckt. Es roch nach Kaffee. Ich goss mir einen Becher ein und ging damit an das riesige Fenster. Ganz langsam stieg die Sonne über den Horizont. Also früher Morgen.
„Da bist du ja wieder unter den Lebenden.“ Brandon Ford war irgendwann hereingekommen, ohne dass ich ihn gehört hatte. Er hatte mehrere kleine Wunden am Kopf. An zwei Stellen hatte er Pflaster darüber geklebt. Über der linken Augenbraue war ein Riß mit ein paar Stichen genäht. Er hatte ein Tablett in der Hand. Mit Rührei, Marmelade und Brötchen. Laugenbrötchen. Tatsächlich Laugenbrötchen.
„Setz dich. Und bedien dich. Die Brötchen sind selbstgebacken.“
Ich setzte mich und nahm mir ein Laugenbrötchen. Ich biss ab. Tatsächlich. Der Geschmack meiner glücklichen Kindheit.
„Vielen Dank“, sagte ich.
„Gern geschehen“, sagte er und goss sich ebenfalls einen Kaffee ein.
„Wo sind wir hier?“, fragte ich möglichst beiläufig.
„Bei mir zuhause“, sagte er. „Und bevor du weiter fragst: Mehr werde ich dazu nicht sagen. Ich hasse unangemeldeten Besuch, deshalb der kleine Trick mit den Betäubungsspritzen im Auto und mehr als du sehen kannst, musst du über diesen Ort nicht wissen. Es ist ruhig hier. Es ist schön hier. Und jetzt möchte ich dir gern eine Geschichte erzählen.
„Sie müssen mir nichts erzählen“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. „Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Ich hätte Sie fast umgebracht und Sie kümmern sich um mich. Versorgen meine verbrannte Hand, die ich nur verbrannt habe, weil der Stein mit dem ich Sie verprügelt habe, so heiß war. Sie haben mir gestern bereits gesagt – es war doch gestern? -,“ Brandon Ford nickte.
„Sie haben mir gestern gesagt, dass Sie mir nicht vergeben können und ich glaube, ich fange an zu verstehen, warum nicht, aber Sie sollen wissen, dass Sie mir nichts, aber auch gar nichts schuldig sind.“
„Bist du fertig?“
Jetzt nickte ich.
„Ich sagte, ich möchte dir eine Geschichte erzählen, von Schuld habe ich nichts gesagt. Und gestern habe ich nicht von „vergeben“ gesprochen. Ich hatte dir bereits vergeben, als ich das Video gesehen hatte, auf dem du mich verprügelt hast. Und ich vergebe dir auch jetzt, obwohl das mit dem Sand wirklich eklig war. Ich kann dich nur nicht von deiner Schuld frei sprechen. Damit musst du selber klar kommen. Das habe ich dir gestern gesagt. Und verzeih mir bitte meine Wortklauberei. Darf ich jetzt meine Geschichte erzählen? Und wenn es dir möglich ist, unterbrich mich nicht zu oft.“
Ich nickte wieder. Nahm mir noch ein Laugenbrötchen. Und ein Glas Wasser.
„Danke“, sagte Brandon Ford und ich verstand erst nach einem Moment, dass er sich für mein Nicken bedankte. Für die Erlaubnis, seine Geschichte zu erzählen, die ich ja mehr als alles Andere hören wollte.
„Du hast mich gestern gefragt, warum ich mich mit dir getroffen habe, obwohl ich durch das Video ja wusste, dass du mich mit dem Stein verprügeln und mir Sand in den Mund stecken würdest? Genauso gut könnte ich dich fragen, warum du auf Robert von Barkhausen geschossen hast oder warum du nach Tunesien in die Paradise Beach Bar gekommen bist?“
„Aber das ist doch etwas völlig anderes. Ich wollte Sie sehen und ich wusste nicht, ob ich auf von Barkhausen schiessen würde...“, unterbrach ich ihn.
„Bitte nicht dazwischen quatschen, ich kann mich wirklich nicht so gut konzentrieren, ich habe Kopfschmerzen, als ob ich gestern gesteinigt worden wäre“, sagte er und lächelte über seine Bemerkung. „Es ist egal, wie wir die Ereignisse auf diesen Videos bewerten oder ob wir die Konsequenzen in ihrer Tragweite überschauen können. Die Dinge passieren. Wir drücken auf PLAY und sehen, was passieren wird. Und dann passiert es. Genau so, wie wir es gesehen haben. Da ist nichts zu machen. Egal, ob uns das gefällt oder nicht.“
„Aber wenn Sie gestorben wären? Ich meine, wenn Sie Ihren eigenen Tod auf dem Video gesehen hätten? Hätten Sie sich dann trotzdem mit mir getroffen? Oder hätten Sie sich dann gegen das Video gewehrt? Entschuldigung, aber ich muss das fragen.“
„Ich habe dir schon bei unserem ersten Treffen in Colombo gesagt, dass es keine Videos von unserem letzten Moment gibt, also stellt sich die Frage nicht. Aber jetzt, wenn du erlaubst, zu meiner kleinen Geschichte. Sie beantwortet vielleicht deine drängendsten Fragen.“
„Ich erlaube es Ihnen“, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. Brandon Ford lachte.
„Ich habe dir ja schon in Colombo erzählt, wie ich den ersten Player bekommen habe, mit 14 Jahren am Strand des Pazifik, der mir den Umzug nach Frankfort, Kentucky angekündigt hatte. Und ich wollte ja nicht nach Frankfort, also hätte ich mich da schon gerne gegen das Video „gewehrt“, wie du es gerade so schön genannt hast. Aber das entschieden ja nun mal meine Eltern, also da hatte ich sowieso keine Chance. Es dauerte dann etwa zwei Jahre, bis ich das nächste Video fand. Ein vollkommen belanglose Aufnahme von einem Spaziergang durch ein langweiliges Einkaufszentrum. Ich aß ein Waffeleis und wurde deswegen aus einem Buchladen rauskomplimentiert. Sollte ich mich dagegen zur Wehr setzen?
In den nächsten Jahren fand ich immer öfter solche Videoplayer. PLAY/DONT PLAY. Ich habe zu dieser Zeit immer auf PLAY gedrückt, es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen auf DONT PLAY zu drücken. Das habe ich erst sehr viel später einmal getan. Aber damals habe ich immer auf PLAY gedrückt und habe viele belanglose Schnipsel meiner Zukunft und einige wenige interessante gesehen und darunter war nur ein einziger Videoschnipsel, gegen den ich mich zur Wehr setzen wollte...“
„Entschuldigung, aber so kommen Sie mir nicht durch“, unterbrach ich ihn wieder.
„Ich hatte es mir fast gedacht, dass du mir das nicht durchgehen lässt“, sagte er.
„Was passiert, wenn man den DONT PLAY Button drückt?“
„Man spielt nicht. Also im übertragenen Sinn. Mit seiner Zukunft. Seinem Schicksal. Wie immer du es nennen willst.“
„Und sonst passiert nichts?“
„Nichts von Bedeutung.“
„Mister Ford, ich bedauere es, Sie verprügelt zu haben und es wird nicht wieder vorkommen, aber Sie machen mich schon wieder wütend. Lügen Sie mich bitte nicht an.“
„Ich lüge nicht. Es hat keine Bedeutung.“
„In Colombo sagten Sie mir, dann taucht Ihr Name und Ihre Adresse auf. Wie es bei mir auch geschehen ist.“
„Ja. Ich sagte doch, es hat keine Bedeutung. Ich entscheide, mit wem ich Kontakt aufnehme, die Adresse allein nützt niemand etwas.“
„Verarschen Sie mich nicht“, sagte ich, „bitte, lassen Sie das.“
„Das ist die Wahrheit, mein Freund.“
„Das ist eine Lüge und ich bin nicht Ihr Freund.“
„Sie haben mir Sand aus dem Mund und der Luftröhre geholt. Ich habe Ihnen Ihre verbrannte Hand verbunden. So gesehen haben wir uns beide Gutes getan. Das kann eine Basis für eine Freundschaft sein. Also ich heisse Brandon, Fritz.“
„Aber“, ich atmete einmal tief ein, bevor ich ihn das erste Mal beim Vornamen nannte, „Brandon, du willst mir doch nicht ernsthaft sagen, dass, als du das erste Mal auf den DONT PLAY Button gedrückt hast, dein Name und deine Adresse auf dem Player auftauchten. Sozusagen als Erinnerung, nur falls du vergessen hast, wie du heisst und wo du wohnst?“
„Nein, das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, es hat keine Bedeutung.“
„Was hat keine Bedeutung?“
„Gut“, sagte er und hatte plötzlich einen Player in der Hand. „Weil du ja sonst niemals deine Klappe hältst.“ Und dann sagte er in den Raum hinein „bitte dunkel machen“ und sofort schloßen sich vorher unsichtbare Klappen vor dem riesigen Fenster. Der Raum wurde in Sekunden komplett dunkel. Nur die beiden Buttons auf dem Player leuchteten noch schwach. Und dann drückte Brandon Ford auf den DONT PLAY Button.
Und in diesem Moment explodierte die Dunkelheit. An allen vier Wänden, an der Decke und auf dem Boden tauchten winzige Bildschirme auf. Auf allen liefen kleine Filme, alle mit Ton, eine unglaubliche Kakophonie von Geräuschen und Gesprächsfetzen. Nichts zu verstehen, kaum etwas zu erkennen, aber ich meinte auf einigen der Videos Brandon Ford zu identifizieren. Tausende von kleinen Ausschnitten. Wenn ein Film zu Ende war, begann sofort ein anderer, es war nicht zum Aushalten, nach ein paar Sekunden bekam ich entsetzliche Kopfschmerzen, aber Brandon Ford kannte keine Gnade. Er stand sogar auf und lief im Zimmer umher. Auch auf ihm waren jetzt überall Filmausschnitte zu sehen. Er schien einen bestimmten zu suchen, aber es dauerte sicher eine Minute, bis er an der Wand gegenüber dem Fenster gefunden hatte, was er suchte. Er berührte den kleinen Ausschnitt mit dem Finger und im selben Moment hörte der Wahnsinn auf. Der von ihm berührte Ausschnitt vergrößerte sich und alle anderen verschwanden augenblicklich. Übrig blieb das jetzt eingefrorene Bild einer jungen Frau mit schwarzen Haaren, die an einer Bushaltestelle stand und mit einem schiefen Lächeln den Betrachter ansah.
„Ich sagte doch, es hatte keine Bedeutung oder konntest du etwas von Bedeutung erkennen?“
„Ich meine, dass du auf einigen zu sehen warst.“
„Ja, das ist ja auch sozusagen mein Leben. Unerträglich, wenn man es alles auf einmal serviert bekommt. Ich habe ein paar Jahre gebraucht, das umzuprogrammieren, ab da tauchte nur noch mein Name und die Kontaktadresse in Colombo auf, wenn mal eine verwirrte Seele auf den DONT PLAY Button drückte. Aber das passiert sehr sehr selten. Aber dadurch habe ich ein wenig Einblick in die Programmierung dieser Dinger und des ganzen Systems bekommen und konnte nach einigen weiteren Jahren der Forschung mein Geschäftsmodell aufziehen. Der Verkauf von Informationen. Aber ich wollte ja von Jane hier erzählen“, damit ging er zu der immer noch als Standbild an die Wand projizierten schwarzhaarigen jungen Frau.
„Hast du mir auch Informationen verkauft? Muss ich jetzt noch dafür bezahlen, dass ich als 12 jähriger dieses Video vom Attentat auf von Barkhausen gefunden habe?“
„Nein, dass du das gefunden hast, war einfach ein Fehler.“
„Du machst Fehler?!“
„Nein, ich doch nicht. Zumindest nicht mit diesen Playern. Dass du damals dieses Ding gefunden hast, ist nur der Fehlerhaftigkeit des Universums zu verdanken.“
„Des Universums?“
„Ja oder wie immer du es nennen willst. Das große Ganze, das System, das Leben, egal – ich liebe das Wort Universum, weil es eben alles enthält, also das Universum kennt keine Perfektion. Es ist eher dem System Ausprobieren und Fehler machen zugeneigt. Deshalb landen manchmal solche Aufnahmen aus der Zukunft in der Vergangenheit. Also streng genommen ist ja schon unsere Ordnung der Zeit, also die Einteilung in Zukünftiges, Vergangenes und den schmalen Grad des Gegenwärtlichen dazwischen ein Versuch etwas Ungeordnetes in ein System zu pressen, das selbstverständlich Fehler produzieren muss, weil es von fehlerhaften Voraussetzungen ausgeht.“
„Aber die Zeit vergeht immer in eine Richtung“, versuchte ich ihm zu widersprechen.
„Und was war das gerade?“
„Was meinst du?“
„Ach tu doch nicht dümmer als du bist, Fritz. Dir brummt noch der Kopf. Die Kakophonie meines Lebens?!“
„Ach die kleine Videoperformance gerade? Sehr beeindruckend, aber doch nur eine technische Spielerei.“
„Es ist schwer zu akzeptieren. Ging mir damals auch so. Schon die Vorstellung die Perspektive einmal zu wechseln, also die Richtung aus der wir auf unser Leben schauen. Nicht von der Vergangenheit in die Zukunft, sondern rückwärts, von der Zukunft in die Vergangenheit, dann stellt sich die Frage, ob du etwas anders machen kannst, als es auf den Videos zu sehen ist, gar nicht mehr. Es ist ja bereits passiert. Aber lassen wir das. Meine kleine Geschichte hier mit Jane handelt ja gerade von dem Versuch, etwas anders zu machen. Lässt du mich jetzt weiter erzählen?“
„Ich werd's versuchen“, sagte ich.
„Jane lernte ich mit 17 kennen. In Frankfort, Kentucky. Ein hübsches Mädchen, oder?“
Ich nickte zur Abwechslung mal wieder.
„Meine erste wirklich große Liebe. Ich war so glücklich, wie nie zuvor in meinem Leben. Was war schon der Pazifik und das ganze durchgedrehte Kalifornien gegen einen Abend mit Jane? Und ich meine einen ganz normalen Abend. Pizzaessen im Diner und Kino. Und ein Spaziergang nach Hause. Arm in Arm. Glückseligkeit. Vollkommenheit. Mehr wollte ich nicht vom Leben. Also und das nur mal so am Rande gesagt, diese Vollkommenheit hätte ich komplett versäumt, wenn ich mich erfolgreich gegen das Umzugsvideo nach Frankfort gewehrt hätte.
Mit 19 fand ich ein Video, auf dem sie mich beschimpfte, ich hätte sie mit einer Mathilda betrogen und sie wolle mich nie niemals wiedersehen. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt keine Mathilda, aber ich war gewarnt: Ein halbes Jahr später arbeitete ich als Ferienjob im Supermarkt, Getränkeregale einräumen und solchen Kram und an der Kasse sass eine Frau mit kurzen blonden Haaren und einer Brille und sie hatte ein süsses Lächeln und in der Pause sassen wir auf der Lieferrampe und quatschten nett miteinander, es war ein schöner Tag, Sonne, es war angenehm warm, weiße Wölkchen am blauen Himmel und wir mochten uns auf Anhieb und wir hatten uns noch nicht mal vorgestellt, erst am Ende des Tages, als wir uns vor dem Supermarkt verabschiedeten, fragte sie mich plötzlich nach meinem Namen. Ich nannte ihn ihr und noch bevor sie es gesagt hatte, wusste ich, sie war Mathilda.
In den nächsten Wochen dachte ich noch, ich hätte alles im Griff. Ich mochte Mathilda, ja ich fand sie sehr sexy, aber ich liebte Jane. Ich würde der Zukunft keine Chance geben. Dann flog Jane ein Wochenende zu ihrem Onkel nach Texas und ich ging alleine Pizza essen und natürlich war Mathilda auch da und wir tranken ein paar Bier und dann spielten wir ein paar Runden Poolbillard und irgendwann lief ein Lied, das wir beide sehr mochten und dann tanzten wir und ich dachte die ganze Zeit an Jane und wie sehr ich sie liebte, aber irgendwann merkte ich, dass ich nicht mehr an Jane dachte, sondern mich beim Tanzen sehr nah an Mathilda schmiegte und dass wir uns küssten und da dachte ich wieder an Jane und ich löste mich von Mathilda und sagte ihr, dass ich jetzt nach Hause müsste und Mathilda schaute mich ziemlich verwirrt an, aber ich ging schon zum Tresen und bezahlte und in diesem Moment spürte ich, wie ein Riss durch meine Welt ging. Buchstäblich. Und dieser Riss ging direkt durch mich durch. Das waren Schmerzen, dagegen war das, was du mir gestern zugefügt hast, Nullkommanichts. Es zerriß mich, ein Blitz, der durch den ganzen Körper fährt. Aber eine Art sehr sehr langsamer Blitz. Stell dir ein richtig scharfes Messer vor, dass in Zeitlupe durch alle deine Sinneswahrnehmungen schneidet. Ich hörte nur noch einen sehr hohen, sehr lauten Ton, und mein Körper schien in verschiedene Richtungen gleichzeitig auseinander zu fallen. Mit diesem Ton wurden die Farben aus meinem Blickfeld gesaugt, alles wurde grau, eintönig wie mit einem dicken Schmutzfilm überzogen, bis ich kaum noch etwas erkennen konnte.
Als letztes sah ich noch Mathilda, die mich entsetzt anzusehen schien. Dann wurde alles dunkel und gleichzeitig still und meine Welt war verschwunden.
Du magst mich für einen feigen Schwächling halten, aber ich habe das keine Sekunde länger ausgehalten. Ich streckte das, was ich für meinen Arm hielt in die Richtung aus, in der ich Mathilda zuletzt gesehen hatte und dann spürte ich ihre Hand und in Windeseile wurde es wieder hell und mein Körper kehrte zurück und die Welt rastete wieder ein und die Schmerzen verschwanden und ich küsste Mathilda und diese Küsse waren meine Welt.
Zwei Wochen später beschimpfte mich Jane und wir haben uns getrennt und mit Mathilda bin ich nie richtig zusammen gekommen. Ich habe nie wieder versucht, mich gegen die Zukunft zu wehren und ich habe nie wieder bei einem Player, der mich betraf auf PLAY gedrückt.“
Brandon Ford schien mit seiner Geschichte fertig zu sein. Er starrte einen Moment die hübsche schwarzhaarige Frau an, dann sagte er „System aus und bitte hell machen“ in den dunklen Raum hinein. Das Bild von Jane verschwand. Das große Fenster wurde wieder frei gegeben. Die Sonne stand jetzt schon deutlich über dem Horizont.
Brandon Ford stand immer noch nahe dem inzwischen verschwundenen Bild seiner Jugendfreundin. Er sah sehr alt aus und das lag nicht an den Verletzungen in seinem Gesicht.
Ich brach das Schweigen. „Also wenn ich damals nicht mit der Pistole zu Robert von Barkhausen gegangen wäre, hätte es mich buchstäblich zerrissen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Brandon Ford.
„Und das in der Pistole nur Platzpatronen waren, hatte keine Bedeutung?“
Brandon Ford machte sich keine Mühe, mir zu antworten.
Natürlich hätte ich mir die Antwort auch selber geben können. Auf dem Video war nicht zu sehen, welche Art von Munition in der Pistole steckte. Also keine Änderung der Zukunft. Kein Zerreißen, kein Dunkelwerden, kein Verlust der Welt deswegen.
Also stellte ich als nächstes die Frage, die gestellt werden musste: „Hast du die Platzpatronen in den Revolver getan?“
Dieses Mal reagierte er. Mit einem etwas mitleidigen Lächeln. „Warum sollte ich so etwas tun? Ich habe dir schon in Colombo gesagt, dass ich mich als junger Mensch ein klein wenig in dir gespiegelt sehe und du mir wohl deshalb ganz sympathisch bist, aber deshalb mische ich mich ganz bestimmt nicht in dein Leben ein.“
„Wenn ich nicht in die Paradise Beach Bar gekommen wäre, hätte es mich dann genauso zerrissen wie dich?“, stellte ich die nächste unabdingbare Frage.
„Woher soll ich denn das wissen?“
„Ist das Zerreissen so etwas wie der Tod? Also wenn du nicht in Mathildas Arme zurückgekehrt wärst, wärst du dann tot?“
„Ich wäre sehr froh, wenn das die letzte Frage wäre, die mit einem Konjunktiv beginnt.“
„Würdest du sie unter dieser Voraussetzung beantworten?“
„Aber sicher doch. Nein, man stirbt nicht unbedingt, wenn man sich erfolgreich gegen die Zukunft wehrt, wie du es genannt hast. Allerdings kenne ich auch nur eine einzige Person, die das getan hat und am Leben ist. Und bevor du weiter fragst, ich bin etwas müde und deshalb überlege dir gut, was du noch wissen willst, denn die nächste Frage ist gleichzeitig die letzte für heute.“
Ich brauchte keine Sekunde zu überlegen. „Zeigst du mir noch etwas aus meiner Zukunft?“
„Warum habe ich das Gefühl, das ist eher ein Befehl als eine Frage?“
„Bitte“, sagte ich noch sehr leise.
„Du bittest mich?! Ich muss sagen, dass ist mir natürlich viel lieber als, wenn du mich steinigst oder sonst wie verprügelst. Aber am liebsten wäre es mir, wir würden einfach noch ein bisschen die gemeinsame Zeit hier genießen, ich würde dich morgen wieder in mein Auto setzen und es würde dich zurück in deine Heimat bringen. Warum willst du nach deinen Erfahrungen noch unbedingt mehr von deiner Zukunft wissen?“
Du hast mir den ersten Player geschickt, du bist dafür verantwortlich, dass ich meine Zukunft kennen will. Mich das zu fragen macht mich schon wieder wütend. Das ist wie ein Dealer, der einen auf Heroin gebracht hat und jetzt scheinheilig fragt, warum man die Droge denn unbedingt will?!“
„Ich will dich nicht wütend machen, aber ich habe es dir schon gesagt, der erste Player war einfach ein stinknormaler Fehler des Universums und seitdem fühle ich mich ein klein wenig für dich verantwortlich, aber ich habe dir seitdem nur den Player von unserem Treffen hier in der Paradise Beach Bar geschickt, um dir Kraft zu geben, das Gefängnis durchzustehen.“
„Darüber war und bin ich auch sehr froh.“
„Dann lass diese unsinnigen Vergleiche mit dem Drogendealer. Es ist deine Entscheidung, ob du noch etwas sehen willst und es ist meine Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß ich dir deinen Wunsch erfülle.“
„Ich möchte unbedingt noch etwas von meiner Zukunft sehen. Ich halte mich sonst kaum noch aus.“
„Und wenn es Mist ist, was du siehst? Wenn du schlimme Dinge tust und Menschen unglücklich machst?“
Er machte mir Angst. Aber das wollte ich ihm nicht zeigen. „Du machst mir keine Angst“, sagte ich.
„Das ist lächerlich und du weißt, dass ich das weiß. Aber wenn du unbedingt willst. Ich schlage vor, wir treffen uns hier, wenn die Sonne untergeht und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe nicht wie du die ganze Nacht im Auto geschlafen.“
Mit diesen Worten wandte er sich zur Tür, die sich im selben Moment öffnete. Eine vollverschleierte Frau betrat den Raum, ging zum Tisch und räumte das Frühstück zusammen.
„Das ist Tabitha“, sagte Brandon Ford, der in der offenen Tür stehen geblieben war. „Sie hilft mir ein wenig“, sagte er.
„Ich hatte mich schon gewundert, dass du so gute Laugenbrötchen backen kannst.“
Tabitha hielt in ihrer Bewegung inne und schaute in meine Richtung.
„Vielen Dank, die waren sehr lecker. Wie in meiner lange verschollenen Kindheit“, sagte ich zu ihr.
Sie senkte für einen Moment den Kopf. Dann nahm sie das Tablett und ging damit hinaus. In der Tür nahm Brandon Ford ihr das Tablett ab. Sie senkte auch ihm gegenüber einmal den Kopf, dann drehte sie sich noch einmal zu mir. Sah mich an. Mir wurde schwindlig und ein Druck breitete sich vom Herzen kommend in meinem Brustkorb aus.
Dann hörte ich es ganz leise. Klickklack Klickklack. Der Druck verschwand. Tabitha drehte sich weg und verließ den Raum.
„Dann bis heute abend“, sagte Brandon Ford. „Ich freue mich auf die Fortsetzung unseres anregenden Gesprächs. Und ich denke, du hast Verständnis, dass diese Tür leider geschlossen bleiben muss. Am besten legst du dich noch ein wenig hin.“ Damit schloß er die Tür hinter sich. Natürlich kontrollierte ich, ob sie wirklich zu war. Dann probierte ich es mit einem genau wie Brandon Ford in den Raum gesprochenen „Tür öffnen“, aber nichts passierte. „System an.“ Nichts geschah. Ich probierte noch ein paar langsam immer idiotischer werdende Befehle, aber natürlich passierte nichts. Als ich als letztes „noch ein Laugenbrötchen bitte“ verlangt hatte, ging ich ins Nebenzimmer zurück, legte mich aufs Bett und starrte den Rest des Tages an die Decke, wie ich es jahrelang im Gefängnis getan hatte.
Kapitel 14
Irgendwann schlief ich wieder ein. Als ich erwachte, war die Sonne gerade untergegangen. Ich stand auf und ging ins Nebenzimmer. Brandon Ford sass bereits an dem großen Tisch, auf dem eine Kanne Tee und zwei Becher standen. Wir begrüßten uns und er schenkte die Becher voll. Dann kam er ohne weitere Einleitung zur Sache.
„Also du willst noch mehr von deiner Zukunft sehen?“
Ich nickte, obwohl ich in diesem Moment überhaupt nicht mehr sicher war, ob ich das wirklich wollte.
„Warum willst du das?“, fragte er und weil ich nicht antwortete, sagte er noch „Wenn du es denn wirklich willst?“
Man konnte ihm einfach nichts verheimlichen.
„Ich will es, weil ich wissen will, ob es sich noch lohnt.“
„Mit „es“ meinst du wahrscheinlich das Leben so im allgemeinen. Und wenn du kein Video findest, das dir das Gefühl gibt, dass sich dein Leben noch lohnt, bringst du dich um oder säufst dich wie dein Vater zu Tode?“
Darauf antwortete ich nicht.
„Meine Kund:innen geben mir normalerweise ziemlich genaue Anweisungen nach was ich suchen soll: Meistens geht es um einfache Möglichkeiten, ohne viel Arbeit Unmengen von Geld zu verdienen. Ich fand das immer etwas phantasielos, aber ich liess mir meine Informationen ja eine Menge kosten, also mussten die Kund:innen das ja irgendwie wieder refinanzieren. Die zweitbeliebteste Kategorie, wenn ich das so sagen darf, war immer herauszufinden, wie lange die Kund:innen noch leben würden. Da es ja, wie du weisst, keine Videos vom Sterben gibt, kann man das, wenn überhaupt nur in Annäherungswerten ermitteln. Wenn man sich Videos anschaut, auf denen man möglichst alt ist. Aber die Gefahr dabei ist, dass man Versionen seiner selbst begegnet, die man lieber nicht sehen will. Alt. Krank. Voller Schmerzen. Da sind Abbildungen von großen Häusern, Aktienpaketen, die steigen und steigen oder anderer vollkommen nutzloser Luxus natürlich etwas, was man lieber sehen will. Aber ich nehme an, dass du die Antworten auf deine Frage „ob es sich noch lohnt“, nicht in monetären Kategorien suchst.“
Ich nickte wieder und sagte „Nein, ich suche etwas anderes, etwas wie ...“ Ich sprach nicht weiter. Jede Formulierung kam mir schal und unzutreffend vor.
Brandon Ford wartete ein paar Sekunden, dann sagte er, „du musst dir das wie eine Suchmaschine vorstellen, ich gebe als Begriff „Geld“ ein und bekomme alle Player angezeigt, in denen das Wort oder die Abbildung vorkommt. Ich kann auch „Katzen“ oder „rote Mützen“ eingeben, dann sehen wir alle Videos, die dich betreffen, in denen Katzen oder rote Mützen vorkommen. Ohne einschränkende Begriffe ist die Suche unmöglich. Du hast ja heute morgen einen Eindruck davon bekommen, wie das aussieht, wenn du alles ungefiltert laufen lässt. Dann sitzt du noch in zehn Jahren hier und suchst nach dem einen Video, das dir zeigt, dass sich dein Leben noch wirklich lohnt. Also nach was wollen wir suchen?“
Ich merkte, wie sich die Stahlplatten und die alten Eichenbalken wieder um mein Herz schlossen. Ich wollte das nicht. Ich schaute Brandon Ford hilfesuchend an.
Er lächelte, sagte in den Raum hinein „bitte abdunkeln“, das Fenster wurde geschlossen und er wiederholte seine Frage. „Wonach wollen wir suchen?“
„Kann man auch nach Personen suchen?“, sagte ich und mein Herz schlug wieder laut und unbedrängt.
„Natürlich“, sagte er. „Aber du musst eingeben, ob die Person im Video zu sehen sein soll oder ob es auch reicht, wenn über sie gesprochen wird. Und ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich dir nur eine Suche gestatte. Die aber schenke ich dir. Wenn du es denn wirklich willst.“
„Geben Sie meine Schwester Jennifer ein. Egal, ob man sie sieht oder ob nur über sie gesprochen wird.“
„Deine Schwester also. Jennifer. Das verstehe ich. Also wenn du sie findest oder zumindest erfährst, was mit ihr geschehen ist, dann lohnt sich dein Leben. Geschwister sind schon etwas besonderes. Gut, dann wollen wir mal.“
Mit diesen Worten zog er ein kleines silbernes Gerät aus seiner Hosentasche, klappte es auf und tippte etwas ein. „Suche bitte starten“, sagte er wieder in den Raum hinein.
Ein paar Sekunden passierte nichts.
„Manchmal dauert es etwas länger“, sagte Brandon Ford. „Das bedeutet die zu durchsuchende Zeit ist noch relativ groß. Du hast also noch eine ganze Menge Jahre vor dir.“
Wir warteten noch ein paar Sekunden.
„Aber es kann auch bedeuten, dass es leider keine Treffer gibt“, sagte Brandon Ford mit einem Anflug von Bedauern. „Was aber nicht gleichbedeutend ist, dass du deine Schwester nicht mehr siehst oder niemals wieder über sie in deiner Gegenwart gesprochen wird. Diese Player zeigen ja nur einen Bruchteil deines weiteren Lebens.“
Noch ein paar Sekunden.
Dann betrat Tabitha den Raum. Brandon Ford erschrak für einen Moment. „Ich wollte nicht gestört werden“, sagte er und seine Stimme klang richtig verärgert.
Tabitha blieb in der Tür stehen und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Brandon Ford antwortete in derselben Sprache und erklärte mir danach, dass er ihr gesagt hätte, dass wir nichts bräuchten. Der Tee sei wunderbar.
Tabitha schaute die ganze Zeit in meine Richtung, dann verbeugte sie sich wieder leicht und wandte sich zum Gehen. In diesem Moment tauchten an der Rückwand des Zimmers drei Videos auf. Brandon Ford drückte auf sein Gerät und die Bilder froren ein. Tabitha schaute zu Brandon Ford und der gab ihr ein ungeduldiges Zeichen, dass sie die Tür schließen solle. Sie schaute noch einmal zu mir, dann verschwand sie.
Auf dem ersten Bild war ich zu sehen. Ich sehe sehr sehr alt aus und ich sitze auf einem weißen Plastikstuhl auf einem Balkon. Hoch über einer Stadt, die ich aber in diesem Moment nicht erkenne. Sie liegt am Meer, der ganze Horizont wird von einem dunklen Ozean abgeschlossen.
Auf dem zweiten Bild sitze ich in einer schönen Wohnung auf einem dunkelgrünen Sofa. Ich bin etwa in dem Alter, in dem ich gerade bin, also cirka 60 Jahre alt. Neben mir sitzt eine Frau, die ich nicht kenne, etwa in meinem Alter. Wir haben die Arme umeinander gelegt und scheinen fern zu schauen. Die Frau zeigt in Richtung des Bildschirmes, auf dem mir unbekannte Menschen zu sehen sind, die an einem Tisch sitzen und applaudieren.
Auf dem dritten Bild sitze ich wieder etwas älter an einem Tisch mit einer rot weißen Tischdecke. Ich habe ein großes Bierglas vor mir und mache einen sehr zufriedenen Eindruck.
„Das ist alles“, sagt Brandon Ford und zeigt auf die Frau, mit der ich vor dem Fernseher sitze „ist das deine Schwester Jennifer?“
„Nein“, sage ich, ich habe sie zwar fast dreißig Jahre nicht mehr gesehen, aber das ist sie nicht.“
„Ich lasse sie durch den Gesichtsscanner laufen“, sagt er und nach ein paar Sekunden dann „nein, das ist nicht deine Schwester, das ist eine Liane Schöningh, sie lebt in Norwegen, in Mo i Rana.“
„Ich erinnere mich an den Namen. Sie war mit meiner Schwester in einer Widerstandsgruppe gegen Robert von Barkhausen. Sie nannten sich die Gruppe der 12.“
„Wollen wir es uns anschauen?, fragt Brandon Ford.
Ich nicke und im selben Moment startet der Film.
Die Frau, die Liane Schöningh heisst, zeigt auf den Fernseher und sagt „ja, das ist die Datei, gleich kommt Jennifer, warte...“, die Kamera schwenkt herum und da ist meine Schwester. Genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Sie ist Anfang 20, der Film muss aus der Zeit sein, in der sie verschwunden ist. Ich erkenne ein paar der anderen, das sind die Reste der Gruppe der 12, vielleicht ein halbes Jahr nach den weißen Nächten. Jennifer steht auf. Es scheint ihr große Mühe zu bereiten, die Frau neben ihr, in der ich jetzt die neben mir sitzende Liane Schöningh in sehr viel jünger erkenne, hilft ihr auf. Und dann spricht meine Schwester. Sie spricht direkt in die Kamera und es wirkt, als ob ihr jedes Wort Schmerzen bereitet, sie spricht sehr langsam, aber jedes Wort erreicht mich, als ob sie wieder lebt und sich nur mit mir unterhält. Eine Botschaft aus der Vergangenheit, vielleicht 2032 aufgenommen und über den Umweg über die Zukunft vielleicht irgendwann in den nächsten 10 Jahren in Mo i Rana in Norwegen bei Liane Schöningh abgespielt, höre ich ihre Worte in der Gegenwart 2058 im Zuhause Brandon Fords:
„Wir dürfen das nicht machen. Wir dürfen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Niemals. Hört Ihr mich? Wenn wir das tun, ist alles verloren. Dann sind Djakery und all die anderen umsonst gestorben.“
Sie macht eine Pause und sie sieht aus, als ob sie unsägliche Schmerzen erleidet und deshalb nicht weitersprechen kann.
„Ich bitte euch um Frieden. Einfach nur um Frieden. Lasst uns nicht schuldig werden. Bitte, lasst uns nicht schuldig werden.“
Dann ist der Film zu Ende. Das Bild friert wieder ein. Jennifers schmerzverzerrtes Gesicht auf dem Fernseher und ich und Liane Schöningh als stumme Zuschauer:innen davor.
Ein paar Sekunden sitzen Brandon Ford und ich ebenso stumm auf unseren Stühlen, dann zeigt er auf das Bild, auf dem ich als sehr alter Mann auf dem weißen Plastikstuhl auf dem Balkon sitze. Heute weiß ich natürlich, dass es der Luna Tower in Colombo ist, wo ich auch jetzt sitze, aber damals fragte ich Brandon Ford, ob er wisse, wo das ist oder ob er das auch durch einen Scanner jagen könne?
„Nein“, sagte er lächelnd, „ich weiß auch so, wo das ist. Das ist der Luna Tower in Colombo. Ich habe dort einige Jahre ein Büro gehabt. Soll ich den Film starten?“
„Ja, bitte“, sagte ich.
Eigentlich passiert nichts. Ein belangloser Ausschnitt mit einem alten Mann, der augenscheinlich nicht mehr gut sieht und mindestens eine halbe Minute umständlich eine dicke Brille putzt. Dann setzte ich mir die Brille auf und schaue in Richtung der Kamera. „Ach, Jennifer“, sage ich. Dann noch einmal eine halbe Minute Schweigen. Dann ist auch dieser Film zu Ende.
„Das war nicht gerade das, was man einen Volltreffer nennt“, sagte ich.
„Da bin ich anderer Meinung“, sagte Brandon Ford. „Du siehst, dass der Luna Tower in der Zukunft ziemlich zerstört ist. Du bist noch am Leben. Ich schätze dich auf mindestens 85, vielleicht sogar 90 oder älter, du hast also noch wirklich eine ganze Menge Zukunft vor dir. Du hast Probleme mit deinen Augen, aber wer hat das nicht in dem Alter? Ja und du scheinst deine Schwester immer noch zu vermissen. Also vielleicht hast du recht, nicht unbedingt ein Volltreffer, aber da stecken doch eine ganze Menge Informationen drin, auch wenn ja eigentlich nicht viel passiert. Willst du gleich den dritten Film sehen?“
„Wenn ich Pech habe, trinke ich einfach nur das Bier aus.“
„Tut mir leid, wenn ich schon wieder widerspreche, aber ich würde so ein friedliches Bier eher als einen Glücksfall einordnen. Und außerdem muss deine Schwester ja zumindest irgendwie erwähnt werden.“
„Hör auf zu sabbeln“, sagte ich.
Ich trinke wirklich von dem Bier und wische mir den Schaum von den Lippen. Ein paar Sekunden passiert nichts weiter. Dann kommen zwei Menschen und setzen sich neben mich. Ein Mann und eine junge Frau. Beide haben ebenfalls ein volles Bierglas.
„Soll ich die beiden durch den Gesichtsscanner jagen?“, sagt Brandon Ford, aber ich winke ab und bedeute ihm, dass er ruhig sein soll. Der Mann ist mein Gefängnisfreund Jonathan Trabers und ich weiß sofort, dass die Frau seine Tochter Lina ist, auch wenn ich sie noch nie gesehen habe.
Wir prosten uns alle drei zu und Jonathan sagt „Auf dich Fritz, auf das Wunder, das du vollbracht hast.“
Ich winke ab, anscheinend sind mir seine Worte etwas peinlich.
„Doch“, sagt er, „doch doch, Fritz, mein Freund, du hast ein Wunder vollbracht. Du hast mich aus dem Gefängnis geholt, das alleine verdient schon das Wort, aber dann hast du uns beide“, ein Seitenblick zu seiner Tochter, die den Tränen nah ist, „du hast uns beide wieder zusammengebracht und das ist wirklich ein Wunder. Danke, Fritz.“ Und dann umarmt er mich und seine Tochter umarmt uns beide und wir drücken uns alle drei sehr kräftig und dabei stoßen wir eins der Biere um und wir lösen uns aus der Umarmung und lachen und verteilen die zwei vollen Gläser auf das dritte ausgelaufene und stoßen wieder an und trinken und es sieht wie eine sehr gute Bierreklame aus oder eben wie drei glückliche Menschen und dann sagt Jonathan Trabers Tochter Lina zu mir „Fritz, du bist für mich so etwas wie ein Schutzengel, wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich untergegangen, aber komplett.“ Ich will widersprechen, aber sie lässt mich nicht zu Wort kommen und sagt, „du bist mein Schicksal, basta.“ Ich erröte doch tatsächlich und dann klingelt Jonathan Trabers Handy, er geht ran, sagt ein paar Mal „ja“ und „wirklich?“ und ähnliche Wortfetzen, wenn man signalisieren will, dass man versteht, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wird, dann legt er wieder auf und wendet sich übergangslos an mich. „Fritz“, sagt er, „es gibt Neuigkeiten von deiner Schwester.“ „Von Jennifer?“, sage ich und starre ihn mit offenem Mund erwartungsvoll an. Und natürlich friert in diesem Moment das Bild wieder ein und der Film ist zu Ende.
„Frechheit“, sagte Brandon Ford, „aber das sind ja alles irgendwie Zufallsprodukte, die folgen keiner Spannungsdramaturgie.“
„Und da gibt es keine Fortsetzung?“, wollte ich wissen.
Brandon Ford tippte auf seinem Gerät herum, aber nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf. „Nichts zu machen“, sagte er. „Mehr gibt es nicht.“
Kapitel 15
Ich habe ihn angebettelt. Wie ein Drogensüchtiger seinen Dealer. Aber es hat nichts genützt. Brandon Ford war nicht zu erweichen. Er öffnete die Fensterverdunkelung. Die Suche war beendet und er würde mir keine zweite Chance geben. Nachdem ich ihn ein paar Minuten angefleht hatte, stand er auf und sagte, ich solle mich mal wieder einkriegen. Ich hätte mit dieser Suche seiner Meinung nach ziemliches Glück gehabt, drei wirklich gute Momente erwischt, wenn ich damit nicht zufrieden wäre, könne er auch nichts machen. Dann würde es sich eben nicht mehr lohnen. Das sei ganz alleine meine Entscheidung. Er würde sich freuen, in einer Stunde mit mir Abendbrot zu essen, aber nur, wenn ich mit meinem ewigen Genöle aufhören würde. Damit verliess er das Zimmer.
Ich war schon wieder wütend. Wieder sah ich mich, Sand in seinen Mund stopfen und mit dem Stein auf ihn einschlagen. Ich wollte nicht mehr wütend sein.
Als ob er meine Gedanken gehört hätte, betrat er noch einmal das Zimmer, sah mich einen Moment stumm an und legte drei schwarze Videoplayer auf den Tisch. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er wieder das Zimmer.
Einen Moment kämpfte ich mit meiner schon wieder verebbenden Wut, dann nahm ich mir die drei Player und drückte nacheinander auf PLAY. Es waren die drei Filme, die ich bereits gesehen hatte. Noch einmal sah ich mich umständlich meine Brille putzen. Noch einmal sass ich mit Liane Schöningh auf ihrem grünen Sofa und hörte Jennifers Bitte um Frieden zu. Und noch einmal sah ich Jonathan Trabers, seine Tocher Lina und mich, wie wir Bier tranken und uns umarmten.
Brandon Ford hatte recht. Ich hatte Glück. Ich betrachtete die Filme ein zweites und drittes Mal und wurde langsam wieder ruhiger.
Und dann schob ich die drei Player zur Seite. Ich sah mich wieder als 12 jähriger den ersten Videoplayer finden. Ich sah mich in Colombo und im Gefängnis die Videoplayer betrachten. Was brauchte ich noch mehr Informationen über meine Zukunft? Natürlich hatte ich Jennifer nicht gefunden und würde sie wahrscheinlich niemals finden, aber wer weiß, vielleicht hätte Jonathan wirklich Neuigkeiten über ihren Verbleib? Ich dachte an Jonathan Trabers und seine Tochter. Wie sie mich umarmten. Ich war Linas Schicksal. Und damit Basta. Ich dachte an Liane Schöningh. An ihr grünes Sofa in der Wohnung in Mo i Rana. An Jennifers Rede. Nicht schuldig werden. Frieden finden. Und dann dachte ich an mich. Wie ich meine Brille putze. Im Luna Tower in Colombo. Und innerhalb von ein paar Sekunden rastete alles ein. Ich wusste, ich musste nicht mehr wissen. Diese drei Momente waren mein Leben. Meine Zukunft: Liane Schöningh in Mo i Rana. Jonathan und Lina in irgendeinem Biergarten. Und ich und meine Brille in Colombo. Ich wurde so ruhig wie schon seit langer langer Zeit nicht mehr. Ich trat an das Fenster und schaute hinaus. Da wo vor einiger Zeit die Sonne untergegangen war, war noch ein zartes Orange am Horizont zu sehen, die ersten Sterne waren am Himmel aufgetaucht, nur der Mond war nirgends zu entdecken.
Ich holte mir einen der Stühle, setzte mich vor das Fenster und schaute hinaus.
Irgendwann kam Brandon Ford wieder zurück. Auf einem Tablett brachte er das Abendessen. Einen Salat mit Tomaten und einem mir unbekannten Käse. Ein Omelett mit Kräutern, die ich ebenfalls nicht kannte, die köstlich schmeckten. Dazu Obst: Mango, Papaya, Ananas und sehr süsse kleine Bananen. Eine Karaffe mit Wasser.
Wir setzten uns an den Tisch und aßen.
Es war ein schöner Abend. Brandon Ford hatte mir vorgeschlagen, dass wir uns nicht über die Zukunft unterhalten würden und ich schaffte es zu meiner eigenen Überraschung ohne größere Schwierigkeiten, mich daran zu halten. Ich fragte ihn, ob Tabitha schon Feierabend hätte. Und er grinste und sagte, sie hätten keine Arbeitsbeziehung, also würde das Wort Feierabend nicht so recht Sinn machen. Wenn meine Frage aber dahin zielen würde, ob er das Omelett und den Salat selbst zubereitet hätte, dann würde die Antwort schlicht und einfach „ja“ lauten. Ich sagte, es schmecke alles phantastisch und das Lob schien ihn zu freuen. Wir sprachen über unsere kulinarischen Vorlieben, er schien ein ziemlicher Feinschmecker zu sein, während ich durch das lange Gefängnisessen eher abgestumpfte Geschmacksnerven hatte. Er wollte wissen, was denn mein Lieblingsessen wäre? Also außer Laugenbrötchen. Er lächelte. Ich dachte an die versuchte Steinigung. Das war vor gerade mal 24 Stunden gewesen. Er hatte mir vergeben. Er redete über meine Vorliebe für Laugenbrötchen und er lächelte dabei. Und ich lächelte zurück.
„Einfach Nudeln mit Tomatensoße“, sagte ich schließlich. „Ich weiß, das ist ein Kinderessen, aber das wichtigste sind die Kapern. In die Tomatensoße gehören richtig viele Kapern.“
Später tauchte der Mond am Abendhimmel auf. Eine dünne Sichel knapp über dem Horizont.
„Ein bisschen kitschig“, sagte ich mit Blick auf den wunderschönen Himmel.
„Was meinst du genau mit kitschig?“, fragte er.
„Wenn etwas zu schön ist, einfach drüber, zu viel des Schönen, so dass es eigentlich nicht mehr auszuhalten ist. Durch endlose Wiederholungen abgenudelte Schönheit. Sowas wie dein Ausblick hier“, sagte ich und zeigte auf den Nachthimmel.
„Verzeih mir, wenn ich widerspreche, aber ich finde nicht, dass es etwas wie zu viel des Schönen gibt. Davon quatschen wir nur, wenn wir die Schönheit nicht ertragen. Den Schmerz, der mit der Schönheit immer einher geht.“
„Warum gehört Schmerz zur Schönheit?“
„Weil es irgendwann aufhört“, sagte er. „Weil es dunkel wird. Weil wir blind werden. Weil wir aufhören. Weil wir sterben.“
Damit war unsere Abendunterhaltung beendet. Brandon Ford räumte das Essen ab. Er kündigte mir an, dass wir morgen früh aufbrechen würden, er würde mich aber rechtzeitig wecken. Ich könne leider nicht länger bleiben sagte er noch, er hätte geschäftliche Verpflichtungen, aber das Auto würde mich morgen früh zum nächsten Flughafen bringen. Er würde mir ein Ticket für einen Rückflug buchen. Ich erwiderte, dass es soweit ich wüsste ja keine Flieger für Privatpersonen mehr geben würde. Er widersprach, dass sei nur eine Frage des Preises. Ob ich nach Hamburg wolle oder lieber gleich nach Oslo?
„Was soll ich denn in Oslo?“, fragte ich.
„Von Oslo gibt es direkte Zugverbindungen nach Mo i Rana. Dauert nur ein paar Stunden.“
Er grinste mich an.
„Dann nehme ich Oslo“, sagte ich und grinste zurück.
Am nächsten Morgen erwachte ich von Geräuschen im Nebenzimmer. Brandon Ford hatte Frühstück gedeckt. Kaffee und Laugenbrötchen. „Mit einem schönen Gruß von Tabitha“, sagte er. „Sie hätte sich gerne von dir verabschiedet, aber sie hatte anderweitige Verpflichtungen, die sie bereits aufbrechen liessen.“
„Dann grüsse sie bitte von mir und richte ihr meinen Dank für die Laugenbrötchen aus. Die sind wirklich phantastisch“, sagte ich und biss wie zum Beweis ein großes Stück ab.
„Das wird sie freuen“, sagte er.
Das Frühstück dauerte nur ein paar Minuten und wir schwiegen die ganze Zeit. Meine altvertrauten Stahlplatten und die Eichenbalken schlossen sich wieder um mein Herz.
Brandon Ford stand auf. Ich stellte die Teller auf das Tablett, aber er bedeutete mir, alles stehen zu lassen. „Du musst jetzt los“, sagte er.
Ich stand ebenfalls auf. Ich schaute Brandon Ford an, der trotz des frühen Morgens schon seine Sonnenbrille aufhatte. Von einer Sekunde auf die andere war ich todtraurig. Ich fiel fast um vor Traurigkeit. Er nahm die Sonnenbrille ab und schaute mich wieder mit seinen blauen Augen an. Das perfekte Blau. Und plötzlich wusste ich, woher meine Traurigkeit kam.
„Werde ich dich noch einmal wiedersehen?“, fragte ich ihn und spürte wie mein Herz im selben Moment wieder frei schlug.
„Woher soll ich das wissen?“, sagte er. Und dann: „Ich würde mich freuen, aber ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung.“ Und dann holte er eine kleine Plastikkarte aus seiner Tasche und gab sie mir. „Das ist die Schlüsselkarte zu meinem Büro im Luna Tower in Colombo. Ich denke, die wirst du irgendwann brauchen.“
Ich nahm die Karte und sah ihn fragend an. „Ich habe noch eine zweite“, sagte er und setzte seine Sonnenbrille wieder auf.
Er ging nach draußen und ich folgte ihm. Vor dem Haus stand das rote Auto. Er öffnete die Beifahrertür. Ich sah mich um. Der Morgen dämmerte bereits und es war angenehm warm. Ein paar Vögel kreischten. Das Haus war nicht besonders groß. Wir standen jetzt wohl auf der Rückseite. Da waren nur zwei Fenster. Für einen Moment dachte ich, an dem einen Tabitha zu sehen, also hob ich die Hand, um ihr zu winken, aber Brandon Ford sagte im selben Moment „da ist niemand.“
Klickklack. Klickklack.
Da war es wieder. Leise, aber unüberhörbar. Er ging die Treppe in mir herunter. Und er stand gleichzeitig vor mir.
„Lass das“, sagte ich.
„Was denn?“
„Tu bitte nicht so scheinheilig.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Du läufst seit über 25 Jahren in mir herum, treppauf treppab, aber du hast keine Ahnung davon?!“ Ich tippte mir, während ich das sagte, auf die Brust, um ihm zu verdeutlichen, wo ich das Geräusch seiner Schritte wahrnahm.
Er erschrak für einen Moment. Dann hatte er sich wieder im Griff. Entweder war er erschrocken, weil ich ihn damit konfrontiert hatte oder er hatte wirklich keine Ahnung.
„Mein lieber Fritz“, sagte er, „muss ich mir ernsthaft um deinen Geisteszustand Sorgen machen oder denkst du wirklich, ich könnte mich sozusagen verkleinern, um in deiner Brust Treppen auf- und abzusteigen, während ich hier vor dir stehe und mit dir spreche?“
Also erzählte ich ihm, dass ich dieses Klickklack immer wieder hörte, seit er in Colombo das erste Mal seine Sonnenbrille abgenommen hatte und wir uns sehr sehr lange in die Augen gesehen hatten. „Du hast gesagt, dass es gefährlich sein könnte. Und dass sich dadurch die Welt verändert“, fügte ich noch hinzu.
„Du musst mir verzeihen“, sagte er und nahm wie zum Beweis erneut seine Sonnenbrille ab. „Mein Geschäft ist ja nicht wirklich legal und lockt deshalb, sagen wir mal, zwielichtige Gestalten an. Deshalb habe ich mir einige Tricks angeeignet, die die Machtverhältnisse klarstellen. Suggestion, Manipulation, Einschüchterung. Alles nicht besonders schön, aber wirksam. Es tut mir leid, dass ich diese Tricks dir gegenüber angewandt habe. Das ist einfach die verfluchte Gewöhnung. Aber ich kann mich nicht verkleinern und sende dir auch auf keiner irgendwie vorstellbaren Weise irgendwelche Klickklack – Geräusche. Warum sollte ich das auch tun?“
„Ich dachte, du würdest mich dadurch von Zeit zu Zeit warnen.“
„Warnen? Wovor denn?“
„Nicht aufzugeben. Nicht aufzuhören. Immer wieder anzufangen. Wach zu bleiben. Solche Sachen.“
„Also ist das KlickKlack eher etwas Gutes für dich?“
„Es hat manchmal sehr genervt. Aber alles in Allem: Ja. Es ist gut für mich. Es hat mich am Leben gehalten.“
„Dann wünschte ich, ich hätte dir diese klickklackenden Botschaften geschickt, aber ich war es nicht. Es klingt für mich, als ob du vielleicht in doppelter Funktion an diesem Geräusch beteiligt warst. Als Empfänger und als Sender. Um dich selbst zu warnen, um nicht aufzuhören, um immer wieder anzufangen. Wach zu bleiben. Solche Sachen.“
„Das klingt wie eine nette Umschreibung der Tatsache, dass ich wohl einen an der Waffel habe, wenn ich mir einbilde, Geräusche zu hören, die ich mir sozusagen selber schicke.“
„Tut mir leid“, sagte er und setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Ich habe jedenfalls nichts damit zu tun. Ich hatte das Unglück oder das Glück, ganz wie man es sehen will, Zugriff auf diese seltsamen PLAY/DONT PLAY – Dinger zu haben, aber ansonsten beherrsche ich keine übersinnlichen Techniken.“
„Also bin ich es wirklich selbst?“
„Ich wüsste niemand sonst, der ein Interesse haben sollte, dir solche guten Botschaften zu schicken.“
„Du hast in Colombo davon gesprochen, dass du dich nur mit mir getroffen hast, um jemand einen Gefallen zu tun.“
„Wirklich? Das habe ich?“
Ich nickte.
„Auch so ein Trick. Mach dich bedeutender, weil du mit geheimnisvollen Dritten in Verbindung stehst. Tut mir leid.“
„Schon gut“, sagte ich. „Es hat mir ja letztendlich nicht geschadet. Ich habe eine Zukunft. Eine Frau in Norwegen mit einem grünen Sofa. Ich vollbringe Wunder, schmeiße Biergläser um und putze stundenlang meine Brille. Das ist doch ganz gut.“
Richtig gut fühlte es sich in diesem Moment nicht mehr an, aber immerhin wurde ich nicht mehr wütend. Etwas enttäuscht vielleicht, dass mein übersinnlicher Brandon Ford sich als ein cleverer, aber ansonsten normaler Geschäftsmann erwies.
Brandon Ford zeigte auf das mit offener Tür dastehende Auto. „Ich glaube, du solltest jetzt mal los. Der nächste Flughafen ist nicht gerade um die Ecke.“
„Betäubst du mich wieder?“
„Das ist nicht nötig“, sagte er. „Ich glaube nicht, dass du jemals wieder hierher kommen willst.“
„Warum nicht?“
„Schon vergessen: das grüne Sofa in Norwegen. Die Wunder. Das Brilleputzen. Du hast genug zu tun.“
„Und wenn ich Sehnsucht nach dir bekomme?“
„Du hast die Karte zu meinem Büro. Wenn wir uns noch einmal sehen, dann ja wohl da.“
Und mit diesen Worten streckte er mir seine Hand entgegen. Ich drückte sie. Dann stieg ich in das Auto.
„Mach es gut“, sagte Brandon Ford und das ist bis heute das letzte, was ich von ihm hörte.
Buch 3
Kapitel 1
35 Jahre sind vergangen, seit ich in Brandon Fords roten Sportwagen stieg und dieses Auto mich in einem ziemlichen Tempo nach Addis Abeba brachte. Ja, sein Zuhause war irgendwo im äthiopischen Hochland. Die Fahrt dauerte den halben Tag und auf dem Fahrersitz lag noch ein Geschenk für mich, das mir mein Leben in den nächsten 35 Jahren erheblich erleichtert hat. Eine Geldbörse mit etwas mehr als 20.000 englischen Pfund und ein weiterer PLAY/DONT PLAY Player. Auf dem Player war nur das Standbild des Chartsverlaufs einer Aktie aus dem Pharmabereich. Sie kam in den nächsten Tagen auf den Markt und wenn ich nur die Hälfte von Brandon Fords großzügigem Geschenk darin investierte und sie Mitte der 80er Jahre vor dem großen Crash an den Börsen wegen der Explosion des Atomkraftwerkes im Elsaß verkaufte, wäre ich Millionär. Mit anderen Worten: ich hatte ausgesorgt. In Oslo angekommen, legte ich ein Aktiendepot an und brauchte mich von da ab, Brandon Ford sei Dank, nie wieder um die finanzielle Seite meines Lebens zu kümmern.
35 Jahre ziemlich sorgenfreies Leben. Das ist eine ganze Menge. Gut, in den letzten 15 Jahren geht es mir altersbedingt gesundheitlich nicht mehr so gut. Die Augen machen nicht mehr richtig mit, da hilft auch die dicke Brille nicht, die ich seit ungefähr 10 Jahren trage. Und die Knie machen mir seit einiger Zeit Probleme, aber ich verlasse Brandon Fords Büro inzwischen nur noch sehr selten. Lebensmittel lasse ich mir liefern und immerhin funktioniert der Aufzug im Luna Tower noch. Hören tu ich auch nicht mehr so gut und längere Strecken zu Fuss schaffe ich seit über einem Jahr nicht mehr, aber ich beklage mich nicht. 93 Jahre. Fast das ganze Jahrhundert habe ich erlebt. Überstanden. Überlebt. Wie immer du es nennen willst.
Die letzten 35 Jahre waren im Vergleich zu der Zeit davor relativ ruhig. Ach was, diese Jahre waren eine gute Zeit. Wenn ich die Geschichte mit Jonathan Trabers mal außen vor lasse, waren diese 35 Jahre die Besten meines Lebens. Vor allem die erste Zeit mit Liane Schöningh in Mo i Rana. Ja, ich lernte sie schon kurz nach meiner Ankunft in dieser kleinen Stadt am Rande des nördlichen Polarkreises kennen. Und nicht, dass du denkst, ich wäre gleich vom Bahnhof zu ihrer Wohnung in der Nähe des Hafens gestiefelt, hätte geklingelt und gesagt, ich bin der Bruder von Jennifer Brockstedt, mit der du vor über 30 Jahren in der Gruppe der 12 im Widerstand gegen Robert von Barkhausens Partei der Mitte warst und du musst da irgendwo eine Videodatei mit einer Rede meiner Schwester haben. Lass uns mal auf dein grünes Sofa setzen, miteinander kuscheln und das Ding anschauen.
Nein, ich wusste die Dinge würden auch so passieren. Ich musste nichts dafür tun. Ich lebte diese 35 Jahre mehr wie ein Beobachter meines Lebens als wie der Gestalter desselben. Als ob mein Leben ein Geschenk wäre, dass ich ruhig annehmen könnte und mich vielleicht höchstens im gleißenden Licht der jenseitigen Laternen bei irgendwem dafür bedanken müsste. Vielleicht ist eine solche Beobachterposition einzunehmen sowieso das Einzige, was wir tun können und alles Andere ist Selbstüberschätzung und Anmaßung.
Ich habe mir in Mo i Rana einfach ein billiges Zimmer genommen und bin jeden Tag in der Stadt spazieren gegangen. Habe in einem Restaurant am Hafen abends leckeren Fisch gegessen und hin und wieder in einer Kneipe ein paar sehr teure Bier getrunken. Getroffen habe ich Liane das erste Mal, als ich nach ein paar Wochen die Tropfsteinhöhle besucht habe, die etwas außerhalb der kleinen Stadt liegt. Sie arbeitete dort ein paar Stunden die Woche, kümmerte sich um die Verwaltung und übernahm manchmal die Führungen. Wir mochten uns auf Anhieb und schon am nächsten Wochenende lud sie mich zu einem kleinen Essen mit Freund:innen in ihre Wohnung ein, sagte mir aber nicht, dass der Grund der Feier ihr Geburtstag war. Dabei entdeckte ich, dass sie das grüne Sofa noch gar nicht besaß. Sie suche ein Sofa, aber ihre Freunde zogen sie auf, dass sie wohl nie das Richtige finden würde, solange wie sie schon auf der Suche danach wäre. Drei Wochen später standen wir gemeinsam vor einem Schaufenster eines kleinen Einrichtungsladens und im Schaufenster stand genau das grüne Teil, dass ich vom Videoplayer her kannte. Es gefiel ihr sehr, war aber viel zu teuer. Meine Aktien hatten zu diesem Zeitpunkt schon die ersten Kurssprünge gemacht, also kaufte ich es ihr. Ich hätte ihr ja nichts zum Geburtstag geschenkt, sagte ich, als der Möbeltransport überraschend bei ihr klingelte. Seit diesem Tag waren wir ein Paar und es war eine wirklich gute Zeit. Erst über ein Jahr später fragte sie mich, ob ich eigentlich eine Schwester namens Jennifer habe und noch einmal ein paar Tage später erlebte ich den Videoplayermoment mit Jennifers Rede.
„Wir dürfen das nicht machen. Wir dürfen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Niemals. Hört Ihr mich? Wenn wir das tun, ist alles verloren. Dann sind Djakery und all die anderen umsonst gestorben. Ich bitte euch um Frieden. Einfach nur um Frieden. Lasst uns nicht schuldig werden. Bitte, lasst uns nicht schuldig werden.“
Nachdem sie das gesagt hat, setzt sie sich wieder. Auch das fällt ihr schwer. Die Kamera bleibt auf ihr. Sie sieht aus, als ob sie gleich vor Schmerzen aufschreit, aber sie atmet sehr langsam und schreit nicht. Sie blickt einen Moment starr in die Kamera. Dann winkt sie, als ob man aufhören soll, sie zu filmen und sagt: „Bitte, Jonathan“. Nach ein paar Sekunden hört der Film auf. Also hat Jonathan Trabers sie damals gefilmt. Liane bestätigt mir das, als ich nachfrage. Er hat ihr den Film geschickt, weil sie Jennifers Worte so beeindruckt hatten. Ein paar der Anderen und vor allem Jonathan hätten sich vehement für einen gegenteiligen Kurs ausgesprochen. Wenn man den Herrschenden nicht mit Gewalt zeigen würde, dass ihre Macht Grenzen habe, könne man gleich kollektiven Selbstmord begehen.
Liane hatte Jennifer kurz nach ihrer Rede gefragt, was mit ihr sei, sie sehe so fertig aus, aber sie hätte nur gesagt, es sei alles in Ordnung. Ein paar Minuten später wäre sie gegangen. Sie hätte sich nicht verabschiedet und sie hätte sie niemals wieder gesehen. Auch den Film hätte sie seit damals nie wieder angeschaut. Überhaupt ein Wunder, dass sie den noch hatte, nach so vielen Jahren. Liane war kurz nach diesem Treffen nach Norwegen gegangen. Hauptsache weg aus Zentraleuropa, von der Politik der Mitte, von all den wahnsinnig erregten Menschen, die sich gegenseitig abschlachten wollten, um auf den Gräbern der Feinden eine bessere Welt aufzubauen. Und diese Flucht wäre die beste Entscheidung gewesen. Sie könne verstehen, dass ich mich für einen anderen Weg entschloßen hätte, aber so richtig weit sei ich damit ja auch nicht gekommen.
Ich nickte zustimmend. Und ich erzählte ihr von den Platzpatronen. So wie es war, dass ich keine Ahnung davon gehabt hatte und dass ich im Nachhinein froh sei, dass ich Barkhausen nicht erschiessen konnte. Jennifer hätte doch recht: Wenn wir Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn wir Gewalt mit Gewalt vergelten, sind wir alle verloren.
Und dann versicherten wir beide uns, was für ein irrer Zufall es sei, dass wir uns jetzt getroffen hätten, wo unsere Leben doch durch Jennifer schon so lange miteinander verbunden sein. Zufall, sagte ich, oder Schicksal.
Ich habe es nicht entschieden. Es ist einfach so passiert. Liane und ich könnten auch sagen, wir waren füreinander bestimmt. Sie hat mich zu ihrem Essen eingeladen und wir haben uns ineinander verliebt. Das passiert andauernd. Ohne das jemand schon vorher irgendwas davon auf einem schwarzen Videoplayer gesehen hat. PLAY oder DONT PLAY.
Ich will ehrlich sein. Zweimal habe ich den Beobachtungsposten verlassen und sozusagen mein und damit die Leben von anderen Menschen mit gestaltet. Das eine Mal, als ich nach dem Atomreaktorunfall 2084 meine Millionen genommen habe und Europa verlassen und nach Sri Lanka gegangen bin. Das war eine sehr sehr gute Entscheidung. Ich habe die letzten Jahre hier wirklich genossen. Und das andere Mal war die Geschichte mit Jonathan Trabers. Da habe ich mich aktiv eingemischt und wie auch immer es sonst zu unserer Bierumarmung gekommen wäre, ich habe gelogen, beziehungsweise ich habe Liane dazu überredet zu lügen und so wie sich die Geschichte weiter entwickelt hat, war das zumindest zum Teil keine wirklich gute Entscheidung. Obwohl diese Entscheidung auch viele glückliche Momente nach sich gezogen hat. Vor allem Lina war und ist glücklich. Ich habe ein Wunder vollbracht. Basta. Auch wenn ich dafür gelogen habe. Also Liane gelogen hat. Ist etwas automatisch schlecht, wenn es aufgrund falscher Voraussetzungen stattgefunden hat? Anders gefragt: Kann aus einer Lüge Wahrheit entstehen? Das habe ich ein paar Jahre versucht zu glauben. Habe jeden Zweifel daran ausgelöscht. Aber inzwischen geht das nicht mehr. Sven Schulzdorf hatte Beweise, auch wenn ich mich geweigert habe, sie zu akzeptieren. Er hatte 2083 doch noch alte Geheimdienstunterlagen gefunden, aus denen hervor ging, dass Jonathan Trabers in der Zeit der weissen Nächte für den Verfassungsschutz gearbeitet hatte und somit alles, was die Gruppe der 12 besprochen und geplant hatte, an Barkhausens Schlägertypen weiter gegeben hatte. Um es deutlich zu sagen: Er war damit maßgeblich mitverantwortlich an der Ermordung von über 100 Demonstranten in den weißen Nächten. Er war mitverantwortlich an der Ermordung Djakerys.
Ob er seine Frau ermordet hat, weiß ich bis heute nicht hundertprozentig, aber sie war auf der Seite der Demonstrant:innen und wie Sven aus einer von ihm ebenfalls gefundenen Tagebuchnotiz dieser Frau wusste, die aber im Prozess niemals verwendet wurde, hatte sie kurz vor ihrer Ermordung herausgefunden, dass Jonathan Trabers der Maulwurf war, der Verräter, der Mitschuldige an der Ermordung von mehr als der Hälfte der Gruppe der 12.
Als Sven mich vor ungefähr 10 Jahren mit diesen Beweisen konfrontierte, wollte ich davon nichts hören. Ich sagte ihm, dass Liane Schöningh Jonathan Trabers ein Alibi für die Mordnacht gegeben hatte. Einmal gelogen, immer gelogen. Jonathan war aufgrund dieses falschen Alibis frei gekommen. Der Prozess wurde wieder aufgenommen, Liane wiederholte ihre Lüge vor Gericht und er wurde frei gesprochen. Wir wurden wirklich Freunde. Ich besuchte seine Tochter und überzeugte sie in langen und vorsichtigen Gesprächen von der Unschuld ihres Vaters und schließlich kam es zur Versöhnung und ein paar Wochen später saßen wir alle 3 in einem Biergarten im Allgäu. Das war das Wunder. Übrigens hatte Jonathan dann doch keine Neuigkeiten zu Jennifer. Wieder mal hatten sich ihre Spuren im Nebel verloren. Sie war und blieb einfach verschwunden. Soviel zur Spannungsdramaturgie des Schicksals.
Lina weiß bis heute nichts von den Beweisen gegen ihren Vater und ich habe alles vernichtet, dessen ich habhaft werden konnte. Ich gehe davon aus, dass Sven Schulzdorf in der Lage wäre, ihr deutlich zu machen, dass ihr Vater doch ihre Mutter umgebracht habe, weil diese herausgefunden hat, dass er als Geheimdienstmitarbeiter an der Blutspur der weißen Nächte mitschuldig war, aber Sven hat mir glaubhaft versichert, dass er sie niemals damit behelligen wird. Ich hatte ihm mein ganzes Aktienpaket für sein Schweigen angeboten, aber er hat mich nur enttäuscht angesehen.
„Ich habe dir seit vielen Jahren geholfen, weil ich immer das Gefühl hatte, durch meine Arbeit in der ZEG Schuld auf mich geladen zu haben. Dir zu helfen, der von der ZEG gefoltert wurde, dich aus dem Gefängnis befreit zu haben, war meine Art der Sühne. Dass du glaubst, mich mit Geld kaufen zu können, zeigt mir, dass ich keine Schuld mehr zu begleichen habe. Fritz, wenn du wirklich meinst, Jonathan Trabers sei am Tod seiner Frau unschuldig oder er hätte genug gebüsst, dann ist das deine Sache. Das entscheidest nur du.“
Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht lebt er auch nicht mehr. Was weiß ich. Ich habe aufgehört, im Internet nach den Spuren mir bekannter und vertrauter Menschen zu suchen. Es sind sowieso fast alle tot. Mein Vater, meine Mutter, seit zwei Jahren auch Jasmin, meine ganze Familie. Johanna starb vor vier Jahren. Kurz nachdem Antoine an Krebs gestorben war, ging sie in einer nebligen Winternacht total betrunken in die kalte Nordsee. Wir haben uns in den 30 Jahren immer mal wieder gesehen, aber zur Beerdigung bin ich nicht gefahren.
Liane starb kurz nach ihrer Aussage im Berufungsprozess gegen Jonathan Trabers. Ich glaube, sie wusste damals schon, dass sie nicht mehr lange leben würde und hat einzig mir zu Liebe Jonathan das falsche Alibi gegeben. Ich hatte ihr immer wieder erzählt, dass ich von Jonathans Unschuld überzeugt war, dass er mir seit unserer gemeinsamen Zeit im Gefängnis nicht aus dem Kopf ginge. Dass er schon seit so langer Zeit unschuldig im Gefängnis sässe. Liane hat den Vorschlag irgendwann von alleine gemacht. Sie hätte zu Beginn der 40er Jahre zwar schon lange in Norwegen gelebt, aber hin und wieder hätte sie sich noch in Hamburg mit den Überlebenden der Gruppe der 12 getroffen und sie wisse es nicht mehr genau, aber Jonathan Trabers hätte durchaus dabei sein können. Liane und ich sassen auf ihrem grünen Sofa in ihrer Wohnung und sie sah mich so liebevoll an, als sie das sagte. Ich habe erst nur genickt und später in der Nacht, nachdem wir uns mal wieder geliebt hatten, habe ich sie gefragt, ob sie das auch vor Gericht beschwören könnte. Sie hat nur genickt und dann haben wir uns geküsst und uns umarmt und so sind wir eng umschlungen eingeschlafen.
Kurz bevor Liane gestorben ist, haben Jonathan und seine Tochter Lina uns in Norwegen besucht und sich bei ihr für ihren Anteil an dem „Wunder“ bedankt. Liane lag damals schon im Krankenhaus und konnte kaum noch sprechen, aber sie nahm meine Hand und drückte sie so fest, wie sie konnte. Auf der anderen Seite des Bettes saß Lina und hielt Lianes andere Hand. Jonathan stand an der Fußseite und ich erinnere mich genau, dass er Tränen in den Augen hatte. Vielleicht weil er wusste, dass alles eine Lüge war. Weil er in der Nacht, für die Liane Schöningh ihm ein Alibi gegeben hatte, in Wirklichkeit doch seine Frau und die Mutter seiner Tochter ermordet und zerstückelt hatte und dieser Zwiespalt ihm die letzten Tränen herauspresste oder weil er es eben wirklich nicht war und einfach nur vor Glück zerfloß mit mir und seiner wiedergefundenen Tochter am Totenbett dieser tollen, alten Frau zu sitzen, die ihn gerettet hatte.
Also noch einmal: Ich weiß es nicht sicher, was in dieser Nacht Anfang der 40er Jahre geschehen ist, ich war schließlich zu dieser Zeit im Gefängnis, aber es spricht verdammt viel dafür, dass Jonathan Trabers seine Frau umgebracht und uns alle beschissen und betrogen hat. Nur, dass seine Tochter das nicht glaubt. Und dass sie, seitdem sie das Gegenteil glaubt, ein einigermaßen gutes Leben lebt. Als ich sie das erste Mal getroffen habe, war sie wie sie selber gesagt hat, am Untergehen. Komplett am Untergehen, das waren ihre Worte auf dem Player und in dem Moment, als wir sehr viel später in dem Biergarten wirklich beieinander sassen. Sie war schwer depressiv, lebte abwechselnd in einer Klinik für psychisch Kranke und völlig zurückgezogen in einer winzigen abgedunkelten Wohnung in einem Slum am Rande des ehemaligen Bankenzentrums von Frankfurt. Jetzt lebt sie im Allgäu, hat zwei Kinder und arbeitet in einem Kulturzentrum. Ich habe sie immer besucht, wenn ich mal wieder in Europa war und wir telefonieren alle paar Wochen miteinander. Ich freue mich, wenn sie sich freut, dass ihre Kinder gut in der Schule sind. Sie erzählt mir, dass sie sich in letzter Zeit wieder mit dem Vater ihrer Kinder trifft, obwohl sie sich vor drei Jahren haben scheiden lassen. Sie erzählt mir von Theaterstücken mit Kindern, an denen sie arbeitet. Sie erzählt mir, dass sie manchmal Alpträume hat, die immer wieder in der Nacht spielen, in der ihre Mutter ermordet wurde und ich sage ihr, dass es nur Träume sind und sie bedankt sich ernsthaft für den Trost. Ich werde niemals zulassen, dass Linas Leben zerstört wird und sie wieder komplett untergeht.
Aber obwohl ich mit dieser Seite der Geschichte völlig im Einklang bin, macht mir die Vorstellung immer wieder zu schaffen, dass Jonathan Trabers mich heimlich auslacht. Also dass er im Jenseits sitzt, denn er ist ja schon seit Mitte der 80 er tot und sich über den Trottel ausschüttet, der ihm seine Unschuld geglaubt hat. Dass er meinen Vater und all die anderen Toten, die mich kannten, damit zu textet, wie er mich mit seinem Gerede im Gefängnis um den Finger gewickelt hat, mit seinen Tränen und seinem ganzen Getue, obwohl er indirekt an all diesen Toten schuld war. Und wie sie ihm zuhören müssen, weil man im Jenseits nicht davon laufen kann und so sitzen sie dort alle schön ordentlich aufgereiht wie in einem Theater und Jonathan steht auf der Bühne und lacht sich kaputt. Die ganze makabre Vorstellung wird von meinem, wie Brandon Ford behauptet hat, selbsterzeugten Klickklack – Soundtrack begleitet. Ich sehe meine Eltern, ich sehe Djakery, ich sehe Liane, seit zwei Jahren sehe ich auch Jasmin in diesem bescheuerten Theater sitzen und natürlich ist da auch Jennifer und diese Vorstellung nervt kolossal, aber ich würde sie niemals gegen Linas Untergang eintauschen.
Kapitel 2
Jonathan Trabers hat mich 2086, ein Jahr vor seinem Tod einmal in Sri Lanka besucht und ich war niemals so nahe daran, einen Menschen umzubringen wie an diesem Tag. Weder bei meinem Platzpatronenschuß auf Robert von Barkhausen noch bei der Steinigung von Brandon Ford.
Ich lebte damals schon fast zwei Jahre in Colombo und hatte mir eine Routine zugelegt, die mir half meine Tage in einer Art süßer Langeweile zu verbringen. Am Vormittag ging ich auf den Markt, egal ob ich etwas brauchte oder nicht. Der Spaziergang endete mit einem leichten Mittagessen in einer der kleinen Restaurants in der Nähe des Luna Tower. Dann folgte ein ausgiebiger Mittagsschlaf und den Rest des Tages verbrachte ich mit Lesen und dem Verfolgen von irgendwelchen Sportübertragungen. Manchmal ging ich am Abend in die Lunabar im obersten Stockwerk des Towers und philosophierte mit dem Barkeeper ein wenig, während ich zwei oder drei meist ziemlich süsse Cocktails trank. Nichts Aufregendes, aber ein Mann von Mitte 80 braucht auch nicht Unbedingt mehr ein aufregendes Leben.
Und immer vor dem Schlafengehen setzte ich mich in den weißen Plastikstuhl auf meinen Balkon. Im Hintergrund die dunkle Stadt und das noch dunklere Meer und ich putze umständlich meine Brille und dann sage ich irgendwann „Ach, Jennifer“ und starre noch ein bisschen vor mich hin.
Und dann klingelte es irgendwann im Sommer 2086 bei mir und ich sah sofort an der Überwachungskamera, dass Jonathan Trabers unten am Luna Tower vor dem Eingang stand.
Er hatte stark abgenommen und sah sehr sehr alt aus.
„Hallo Fritz“, sagte er einfach. Und gleich nochmal, „Hallo Fritz“.
Ich antwortete nicht. Ich sah mich vor hunderten von Jahren unten am Luna Tower stehen, da wo Jonathan jetzt stand, und nach Brandon Ford suchen.
„Hallo Fritz“, sagte er ein drittes Mal, „ich weiß, dass du da bist.“
Ich rührte mich immer noch nicht. Mir war einfach nur sehr unheimlich zumute, schließlich wusste ich seit drei Jahren durch Svens Beweise, dass Jonathan beim Verfassungsschutz gearbeitet und an Djakerys Tod mitschuldig gewesen war. Wenn ich ehrlich bin, bin ich mit meinem Umzug nach Colombo auch ein wenig vor Jonathan und seiner Freundschaft abgehauen. Zuvor lebte ich hauptsächlich in Mo i Rana, wo ich auch nach Lianes Tod geblieben war, aber vor allem im Winter floh ich aus der norwegischen Dunkelheit manchmal für Wochen ins Allgäu, wo Jonathan in der Nähe seiner Tochter lebte. Wir spielten jeden Nachmittag Schach miteinander, fütterten die Vögel und kümmerten uns um Linas kleine Kinder. Eine merkwürdige Wohngemeinschaft. Linas Mann war Sozialarbeiter und arbeitete sehr viel, deshalb waren wir beiden alten Gefängniskumpels oft mit Lina und den beiden kleinen alleine und überboten uns gegenseitig in der Rolle des hilfsbereiten Großvaters.
Es war schön. Nicht so schön wie die Zeit mit Liane in Mo i Rana, aber es war schön. Aber dann kam Sven mit seinen Beweisen und ab da wurden meine Besuche im Allgäu immer kürzer und die Stimmung, wenn ich dort war, immer angespannter. Bis ich schließlich ins sonnige Sri Lanka abhaute und mich in Brandon Fords altem Büro im Luna Tower breit machte. Mit Lina hielt ich die ganze Zeit Kontakt, aber wenn Jonathan mit mir sprechen oder eine Partie Online Schach spielen wollte, hatte ich immer gerade keine Zeit, schob irgendwelche gesundheitlichen Probleme vor oder ich ging einfach nicht ans Telefon und meldete mich auf seine Kontaktversuche nicht zurück.
Und jetzt stand er vor dem Luna Tower in Colombo.
„Ich bleibe hier stehen, bis du irgendwann runter kommst oder mich rein lässt. Ich brauche dich“, sagte er und dann fügte er nach einer Pause noch „mein Freund“ hinzu.
Ich drückte auf den Öffnungsknopf und liess ihn hinein.
„Das ist ja eine Überraschung“, empfing ich ihn und wollte ihn am liebsten mit Worten überschütten, bis er wieder verschwunden wäre. Ich zeigte ihm die Wohnung, ich bot ihm zu essen und einen Tee an, zeigte ihm die Aussicht und erzählte von meinem zurückgezogenen Leben, von meinen seltenen Ausflügen an die südliche Küste, von meiner Routine, den Spaziergängen über die Märkte, über Meditationen in stillen Klostergärten, über die bunten Vögel, die manchmal sogar auf meinen Balkon kommen würden, aber irgendwann hörte ich mitten im Satz mit dem sinnlosen Gequatsche auf. „Was willst du von mir?“, sagte ich. „Wofür brauchst du mich?“
„Ich brauche deine Vergebung“, sagte er und setzte sich in meinen Lieblingssessel.
„Meine Vergebung?“, wiederholte ich sehr leise und dann fragte ich doch tatsächlich, „wofür?“
„Ich werde nicht mehr sehr lange leben“, sagte er „ein Tumor hier oben“, und dabei zeigte er auf seinen Hinterkopf, „schon ziemlich groß und ich möchte nicht, dass irgendjemand mir meinen Kopf aufschneidet und ich nachher vielleicht wie ein Idiot noch ein paar Monate vor mich hin vegetiere. Aber ich kann nicht sterben, ohne dass mir irgendjemand vergeben hat. Nicht meine Sünden. Ich glaube an keinen Gott oder irgendeinen übersinnlichen Kram. Ich meine das so wie ich es sage: Ich kann nicht sterben ohne Vergebung. Lina kommt dafür nicht in Frage und du bist der einzige Freund, den ich jemals hatte. Deshalb bin ich hier.“
„Ich will deine Beichte aber nicht hören. Was glaubst du, warum ich hier lebe? Warum ich mich nicht bei dir zurückmelde? Mich am Telefon verleugne? Ich weiß genug. Mehr ertrage ich nicht. Und ich verstehe nicht, was meine Vergebung mit deinem Ableben zu tun haben soll.“
Und dann fiel mir ein, was Brandon Ford 25 Jahre zuvor zu mir gesagt hatte. Dass er mir vergeben hatte, aber dass ich selbst mit meiner Schuld klar kommen müsste. Aber das sagte ich Jonathan Trabers nicht. Den Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Ich sagte nur: „Und jetzt geh bitte wieder.“
Jonathan blieb sitzen. Zusammengesunken und ohne Bewegung. Und als ob ich nichts gesagt hätte, fing er an zu erzählen. Seine ganze verfluchte Lebensgeschichte. Wie er dieselbe Talkshow mit Robert von Barkhausen wie ich gesehen hatte, wie er Fan von ihm geworden wäre und ein paar Jahre später auf irgendeiner Demo von Mitarbeitern einer geheimen Gruppierung von Barkhausens Partei der Mitte angesprochen wurde. Wie sie ihn angeworben und ihn später auf die Gruppe der 12 angesetzt hätten. Wie er dort Mitglied geworden wäre und wie er diese Menschen ausgehorcht und alles, was sie besprachen und planten an seine Auftraggeber weitergegeben hatte. „Ich war 21 Jahre alt“, sagte er ein paar Mal, als ob das eine Erklärung wäre.
Dann kam die Planung der weißen Nächte. Was für eine Euphorie geherrscht hätte. „Ich weiß“, sagte ich, „ich war dabei.“
„Entschuldige wenn ich deine Erinnerung korrigiere, aber du warst nicht dabei. Du warst ein Mitläufer. Bei den Sitzungen der Gruppe der 12 habe ich dich nie gesehen.“
Ich widersprach nicht. Denn natürlich hatte er recht. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass es eine Gruppe der 12 gab.
„Wir haben uns damals ein paar Mal gesehen. Du warst der große Bruder, der zu viel Bier trank und hin und wieder große Sprüche machte, ansonsten bist du nicht aufgetaucht. Deine Schwester war ein ganz anderes Kaliber.“
„Ich will von dir nichts über Jennifer hören.“
„Aber darum geht es doch. Deshalb brauche ich doch deine Vergebung.“
Bis dahin stand ich am Fenster und hatte mich kaum bewegt. Jetzt ging ich zu meiner kleinen Küchenzeile. Ich wusste in dem Moment noch nicht, was ich da wollte, aber ich ging zielstrebig hinüber und stellte mich neben das Waschbecken. Ich trank einen Schluck Wasser, dann nahm ich das große Messer aus dem Messerblock und streckte es ihm entgegen.
„Hast du Jennifer umgebracht?“
„Nein“, sagte er, ohne irgendwie auf das Messer zu reagieren, „ich weiß ja nicht einmal, ob sie noch lebt, auch wenn ich das nicht glaube. Ich habe sie nicht umgebracht, aber ich habe Schuld an allem, was seit den weißen Nächten mit allen 12 Menschen der Gruppe der 12 geschehen ist.“
„Es waren 13“, sagte ich und spürte wie mein Schweiß am Griff des Messers herunterlief.
„Ach ja, Djakery“, sagte Jonathan, „der arme Junge, da ist er dem Bürgerkrieg in Äthiopien entkommen, verliebt sich in eine tolle Frau wie deine Schwester und wird dann einfach abgestochen.“
„Ich sage es zum letzten Mal: ich will das nicht hören!“, sagte ich, hörte dann aber trotzdem, wie er mir erzählte, wie er allen seinen Freund:innen in der Gruppe der 12 erzählte, dass sie sich während der Demo an einer bestimmten Stelle versammeln sollten, genau da, wo dann wirklich die rechten Schlägertrupps bei ihrer Spur der Verwüstung durchgezogen waren und Djakery und zwei weitere Mitglieder der Gruppe der 12 ermordet wurden. Er erzählte das alles tonlos, ohne Emotionen, so wie ich es aus dem Gefängnis von ihm kannte. Ich wäre gerade rechtzeitig Bier holen gegangen, sonst würden wir jetzt wohl kaum hier sitzen. Djakery wäre von einem maskierten Mann erstochen worden und Jennifer hätte sich auf ihn gestürzt und ihn umgestoßen. Dann hätte sie ihm mit ihren Stiefeln ins Gesicht und in den Bauch getreten, bis ein anderer Maskierter sie k.o. geschlagen hatte und mit Djakerys blutüberströmten Mörder in der Menge verschwunden wäre.
In diesem Moment fiel mir das Messer aus der Hand. Ich schwitzte unglaublich. Ich atmete schwer. Ich bückte mich umständlich und hob das Messer auf. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und stand jetzt in einer Entfernung in der ich ihn abstechen konnte. Ich hob das Messer.
„Nur zu“, sagte er, „auch das ist eine Form der Vergebung.“
Vielleicht hat ihm dieser Satz das Leben gerettet, denn so einfach wollte ich ihn nicht davon kommen lassen. Ich holte aus und nagelte mit dem Messer seine Hand an der Tischplatte fest. Dann schlug ich ihn. Ins Gesicht. Er wehrte sich nicht. Er schrie nicht, obwohl seine Hand sehr blutete. Er ließ alles geschehen. Das machte mich nur wütender. Ich schmiß den Tisch um und riß ihn damit zu Boden. Ich trat ihn ins Gesicht. Genau wie meine Schwester es mit dem Mörder ihres Geliebten gemacht hatte. Ich hatte zwar keine Stiefel wie sie damals an, sondern nur Sandalen, aber ich trat mit der Fusssohle zu. Auf seine Stirn. Auf die Nase. Den Mund. Mehrmals hätte ich fast das Gleichgewicht verloren, aber ich stützte mich an meinem Sessel ab und trat wieder zu. Ich würde solange treten, bis er aufgehört hätte zu atmen.
Und dann ging es wieder los. So laut wie ich es niemals zuvor gehört hatte.
Klickklack. Klickklack.
Und gleichzeitig hörte ich meine Schwester. Ihre Rede, dass wir niemals Gleiches mit Gleichem vergelten dürften. Ich wollte sie nicht hören. Also schrie ich. Ich trat Jonathan Trabers ins Gesicht und schrie wie ein vollkommen Besessener.
Aber Jennifer hörte nicht auf, um Frieden zu bitten. Ich wusste, dass sie nicht wirklich mit mir sprach. Das war nur ich selbst, Empfänger und Sender in einer Person, wie Brandon Ford es genannt hatte. Ich wollte mich selbst zurückhalten, zum Mörder zu werden. Und irgendwann gewann dieser Teil. Ich hörte auf. Zu schreien. Ich hörte auf zu treten. Ich zog das Messer aus Jonathan Trabers Hand und hob ihn auf. Ich setzte ihn auf einen Küchenstuhl und verband seine Hand. Dann setzte ich mich in meinen Lieblingssessel.
Ein paar Minuten schwiegen wir beide.
„Ich wollte dir noch sagen, dass...“, fing er an, aber ich unterbrach ihn „wenn du weitersprichst, mache ich da weiter, wo ich gerade aufgehört habe.“
Wir schwiegen wieder.
Irgendwann stand ich auf, holte meinen Laptop und stellte ihn vor Jonathan hin. Dann startete ich den Film mit Jennifers Rede.
Wieder hörte ich ihre Worte:
„Wir dürfen das nicht machen. Wir dürfen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Niemals. Hört Ihr mich? Wenn wir das tun, ist alles verloren. Dann sind Djakery und all die anderen umsonst gestorben. Ich bitte euch um Frieden. Einfach nur um Frieden. Lasst uns nicht schuldig werden. Bitte, lasst uns nicht schuldig werden.“
Als der Film zu Ende ist, schweigen wir wieder. Irgendwann sagt Jonathan:
„Ich habe das damals gefilmt. Aber ich habe nicht gehört, was sie gesagt hat. Als ob ich auf einem anderen Planeten leben würde. Aber Sie hat recht. Es ist alles verloren. Und ich habe mich schuldig gemacht.“
„Ich auch. Ich habe mich genauso schuldig gemacht. Gerade eben wieder. Und das war nicht das erste Mal. Ich habe ihr auch nicht zugehört. Obwohl ich den Film mindestens tausendmal in den letzten 35 Jahren gesehen habe.“
„Ich vergebe dir“, sagte er.
Und ich nickte. Ich meinte mit meinem Nicken, dass ich ihm für seine Vergebung für meinen gerade erfolgten Mordversuch dankte.
Jonathan Trabers lächelte. Er verstand, dass ich ihm all seine Taten vergeben hatte.
Und dann stand er auf. Mühselig, aber immer noch ein wenig lächelnd. Sehr Verletzt und sehr alt. Er ging auf meinen Balkon. Kletterte auf den Stuhl, den ich dort stehen hatte, um den Sonnenuntergang zu betrachten, meine Brille zu putzen und „Ach Jennifer“ zu sagen, hievte sich auf das Geländer, sah ein letztes Mal zu mir, jetzt nicht mehr lächelnd und liess sich in die Tiefe fallen.
Kapitel 3
Und so landete ich zum zweiten Mal in meinem Leben im Gefängnis. Die Polizei ermittelte wegen Mordverdacht. Allerdings nur für ein paar Wochen, dann wurde die Anklage fallen gelassen und ich konnte zurück in den Luna Tower. Zurück in meine Routine, zurück zu meinen jetzt noch etwas höher aufgetürmten Schuldgefühlen. Dreimal hatte ich versucht, einen Menschen umzubringen. Jetzt war zum ersten Mal einer zumindest an den Folgen meiner Tat gestorben.
Irgendwelche Menschen hatten gesehen, wie Jonathan alleine auf das Balkongeländer gestiegen war und damit war ich aus dem Schneider. Wegen der Verletzungen wurde ich nie befragt. Vielleicht interessierte sich niemand dafür, was zwei uralte Deutsche miteinander auszumachen hatten oder man konnte an Jonathan Trabers Leiche nicht mehr so recht feststellen, welche Verletzung durch den Sturz entstanden und was ihm vielleicht schon zuvor von jemand Anderem zugefügt worden war. Auf jeden Fall befragte mich nie jemand dazu und so sah ich es auch nicht als notwendig an, der Polizei dazu Angaben zu machen.
Jonathan Trabers wollte sterben. Er ist gestorben. Ich war vielleicht so etwas wie ein Katalysator. Wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, dass ich ihm vergeben hätte, wäre er erst Monate später an den Folgen seines Tumors gestorben. Wenn ich nicht im Gefängnis neben ihm gearbeitet hätte, wäre er niemals frei gekommen und hätte sich nicht mit seiner Tochter versöhnt.
Wenn. Wenn. Wenn.
Ein paar Wochen lang, nachdem ich wieder in Freiheit war, ging ich endlose Ketten von solchen Wennwennwenn Sätzen durch, aber das verschwand von ganz alleine wieder. Meine Marktspaziergänge, meine Cocktails in der Lunabar und vor allem mein spätabendliches Nachspielen des Ach-Jennifer-Moments, meine ganze Altmänner Routine war stärker als die Schuldgefühle wegen Jonathan Trabers Selbstmord. Er hatte genug Unheil angestellt. Und selbst dass ich nicht wusste, ob er wirklich seine Frau umgebracht hatte, machte mir nicht mehr viel Kopfzerbrechen. Ich kannte seine Frau nicht, aber ich kannte Djakery und die anderen aus der Gruppe der 12 und ich kannte Jennifer und das reichte an Schuld für Jonathan Trabers.
Ach, Jennifer.
Komischerweise hatte ich so etwas wie schlechtes Gewissen Sven Schulzdorf gegenüber. Er hatte sich über so viele Jahre für mich eingesetzt. Ohne ihn wäre ich niemals aus dem Gefängnis rausgekommen. Und er hatte für mich nach Jennifer geforscht. Er hatte Jonathan Trabers Geheimdienstvergangenheit aufgedeckt, aber ich hatte ihn damals nur unfreundlich abgewimmelt. Ich schrieb ihm einen langen Brief, in dem ich ihm um Verzeihung bat und ihm von Jonathan Trabers Geständnis und Selbstmord informierte, aber ich habe nie eine Antwort bekommen. Vielleicht erreichte ihn der Brief einfach nicht. Vielleicht war er auch schon verstorben. Wie fast alle anderen. Das letzte Mal flog ich nach Europa, als Jasmin im Sterben lag. Noch einmal der Schwarzwald. Noch einmal so etwas wie Familie. Dann war nur noch ich übrig.
Ach Jennifer.
Ich telefonierte alle paar Wochen mit Lina im Allgäu. Ich philosophierte mit dem Barkeeper in der Lunabar und machte bei meinen Spaziergängen über die Märkte immer an denselben Ständen Halt und sprach ein paar Sätze mit den Menschen dort. Ich war viel allein, aber nicht wirklich einsam.
Ach, Jennifer.
Ich vermisste sie. Ich vermisste Brandon Ford. Natürlich gab es die Momente, in denen ich entgegen meiner Aussage doch von Einsamkeit umschlossen wurde und dann vermisste ich grundsätzlich alle Menschen, die mir jemals begegnet waren.
Ach Jennifer.
Aber Brandon Ford und meine Schwester vermisste ich wirklich. Dauerhaft. Jeden Tag.
Ach Jennifer.
Ich stellte mir vor, dass dieser Moment, den ich das erste Mal in Brandon Fords Zuhause gesehen hatte und mir seitdem fast jeden Tag einmal auf dem PLAY / DONT PLAY ansah, noch nicht geschehen war. Jeden Abend seit fast neun Jahren, außer den paar Tagen im Untersuchungsgefängnis und meiner Europareise, als Jasmin im Sterben lag, habe ich diesen Moment nachgespielt, aber ich war mir sicher, dass es noch nicht geschehen war.
Ach Jennifer.
Und natürlich lag das an der Hoffnung. Nicht darauf, dass Jennifer doch noch auftauchen würde. Nein, ich war mir sicher, dass Brandon Ford eines Abends, wenn ich meine Brille geputzt, „Ach Jennifer“ gesagt und noch ein bisschen vor mich hingestarrt hatte, in sein altes Büro zurückkehren würde. Warum hatte er sonst gesagt, dass er noch eine zweite Schlüsselkarte besass?! Er würde wiederkommen und wir würden ein bisschen reden und ich würde ihn auf einen Drink in die Lunabar einladen und ihm ein spätes Abendbrot machen, wie er es für mich getan hatte und danach konnte geschehen, was auch immer geschehen musste.
Ach Jennifer.
Jeden Tag achtete ich darauf, dass ich genug zu Essen da hatte, falls er kommen würde. Ein paar Eier, Tomaten, Zwiebeln, für ein Omelett, Süsskartoffeln, ein Brot und frisches Obst.
Ach Jennifer.
Und dann habe ich erst vor ein paar Wochen bei meinem Besuch in der Luna Bar anstelle meiner üblichen zwei oder drei Cocktails einfach Arrack getrunken. Sehr hochprozentigen und eine ganze Menge. Ich saß wie üblich direkt an der Bar und spät am Abend war außer mir kein einziger Gast mehr anwesend. Und ganz ehrlich, ich weiß nicht mehr wie der Barkeeper und ich auf dieses Thema gekommen sind, aber irgendwann sprachen wir darüber, ob unser Leben vorbestimmt sei oder ob wir doch eher eine Wahl haben, was wir aus daraus machen. Nun gut, vielleicht habe ich davon angefangen, ich habe darüber ja genug nachgedacht.
Der Barkeeper heisst Jinpa. Er ist ein sehr junger Mensch, vielleicht Ende zwanzig und er kommt ursprünglich irgendwo aus Nordindien. Aufgewachsen am Fusse des Himalaja, ist er irgendwann auf dem Weg nach Australien in Sri Lanka hängengeblieben. Vielleicht habe ich ihn aufgrund seiner Herkunft schon immer für einen quasi wenigstens zum Teil erleuchteten Menschen gehalten. Nahe dem Dach der Welt leben Wesen, die von oben auf unsere kleingeistigen Probleme herabschauen können und dadurch vieles, wenn nicht sogar das meiste, durchschauen. Das war natürlich alkoholseliger Schwachsinn, aber Jinpa war in jedem Fall einer der klügsten Menschen, die ich jemals getroffen habe, Brandon Ford mal ausgenommen.
Ich erzählte ihm nach dem dritten oder vierten Arrak, dass ich sicher sei, dass unser Leben vom Schicksal vorher bestimmt sei, alles sei beschlossen, man könne nichts daran verändern, nicht ein Fitzelchen, nicht ein winziges Fitzelchen. Dieses Wort hatte es mir augenscheinlich angetan, denn ich wiederholte es mehrfach.
Jinpa goß mir einen weiteren Arrak ein und meinte, das sei ja eine ziemlich tiefschürfende Erkenntnis.
„Wie meinst du das?“, fragte ich ihn, unsicher ob er mich verarschen wollte.
„Entschuldige meine Ironie, aber das ist ja nun mal eine ziemliche Banalität“, sagte er. „Du musst dir ja nur vorstellen, du hättest dein Leben bereits gelebt. Und das hast du ja. Den noch verbleibenden Rest kannst du statistisch getrost vernachlässigen. Also schau dir dein langes, langes Leben an. Aber von diesem Moment aus, wie wir beide hier in der Bar im Luna Tower sitzen, weit entfernt von unseren Heimatländern und unseren Träumen und unseren jugendlichen Sehnsüchten, wie wir gemeinsam trinken und philosophieren. Seit vielen Jahren tun wir das alle paar Wochen ein Stündchen oder so und es ist mir wirklich eine Freude und eine Ehre. Also, wie sollte es jemals eine Chance gegeben haben, dass es nicht so gekommen wäre? Das geht nicht. Nicht, wenn du es von heute aus betrachtest. Es gibt nur dieses eine Leben. Eine Chance. Und alle Philosophen dieser Welt, alle weisen Buddhas und verwirrten Religionsstifter versuchen sich vor dieser Tatsache demütig zu verbeugen und sie als das Wunder zu akzeptieren, dass es nun mal ist. Aber wir schaffen es nicht. Sonst würden wir ja sofort aufhören zu philosophieren und nur noch trinken.“
Er prostete mir augenzwinkernd zu.
Und dann sagte er, „stell dir vor, du könntest der jungen Version deiner selbst, sagen wir dem 10 jährigen Fritz eine Geschichte erzählen, also deine Geschichte, wie sich alles zugetragen hat, von dem Moment seines 10 jährigen Geburtstages bis heute, bis zu unserem Gespräch in diesem Augenblick und er würde erkennen, dass das sein Leben ist, also in meiner Vorstellung der Welt würdest du ihn damit zu einem wahrhaft glücklichen Menschen machen.“
„Aber würde er sich nicht wehren wollen, gegen die nicht so schönen Teile der Geschichte?“
„Ich sprach von demütiger Verbeugung, also wenn du deinem 10 jährigen Ich begreiflich machen kannst, dass das nun mal sein Leben ist, bis ins kleinste Fitzelchen, dann ist in diesem Begreifen das Akzeptieren quasi inbegriffen. Und dann wehrt er sich nicht. Er lebt. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.“
Ich widersprach Jinpa noch ein paar Schlückchen lang, aber im Grunde wusste ich in diesem Moment, was ich noch mit dem Rest meines Lebens tun würde. Dass ich dir diese Geschichte erzähle. Wie es sich zugetragen hat. Unser Leben. Nicht jedes Fitzelchen. Aber die wichtigen Sachen. Die Schönen und die Hässlichen. Das Brutale und das Liebevolle. Der Unsinn und das bisschen Reinheit, dass uns möglich ist.
Am nächsten Tag setzte ich mich mit meinem Computer in meinen Lieblingssessel, legte eine Videodatei an und begann dir diese Geschichte zu erzählen. Ich platzierte die drei mir verbliebenen PLAY / DONT PLAY – Geräte unübersehbar neben meinen Computer, obwohl ich wusste, dass sie diese Geschichte nicht aufzeichnen würden. Das könnte erst Brandon Ford machen. Er würde verstehen, was zu tun ist, selbst wenn ich bei seinem Auftauchen nicht mehr am Leben wäre. Und er wäre in der Lage, diese Geschichte von meinem Computer auf solch einen Player zu überspielen und ihn dir zu schicken, meinetwegen an unseren 10. Geburtstag. Oder an den 12.ten oder in die Nacht in der Lüneburger Heide mit dem orangenfarbenen Vollmond, als ich den ersten Player gefunden habe.
Und er wird mir diesen Gefallen tun. Ich bin mir ganz sicher. Und was du mit dieser Geschichte anfängst, ist natürlich deine Sache, aber ich leugne nicht, dass mir Jinpas Version des demütigen Akzeptierens sehr gefällt.
Ach Jennifer.
Und so erzählte ich dir in den vergangenen Wochen diese Geschichte und jetzt habe ich mich endgültig eingeholt. Es verbleibt keine Vergangenheit mehr.
Ach Jennifer.
Das ist meine Gegenwart.
Ach Jennifer.
Kapitel 4
Der orangene Mond ist zurück.
Ich habe lange geschlafen. Ich sitze auf meinem weißen Plastikstuhl und putze meine Brille. Mein Computer und die drei Player liegen vor mir auf dem kleinen Tisch. Es ist mitten in der Nacht, aber es ist merkwürdig hell. Und das Licht hat einen Stich ins orangenfarbene bekommen. Ich kann zwar kaum mehr sehen, aber dieses Orange erkenne ich sofort. Es ist der riesige Mond, den ich das erste Mal als 12 jähriger gesehen habe.
Ich setze die Brille auf und begrüße den Mond wie einen lang vermissten Freund.
Ach Jennifer, sage ich aus purer Gewöhnung, obwohl ich weiß, dass dies nicht der Moment des PLAY – Videos war, denn auf diesen Bildern war der Himmel nicht orangefarben.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier schon sitze.
Habe ich ein paar Stunden geschlafen? Oder ein paar Tage?
Einen Moment denke ich darüber nach, aufzustehen, den Balkon zu verlassen und mich in mein Bett zu legen.
Aber der Mond ist zu schön. Also bleibe ich sitzen.
Und schlafe wieder ein.
Als ich wieder aufwache, ist der Mond verschwunden und der Morgen dämmert bereits herauf.
Und ich weiß, ich bin nicht mehr allein auf dem Balkon. Da steht jemand schräg hinter mir in der offenen Tür und betrachtet mich. Und es ist nicht Brandon Ford. Es ist eine alte Frau. Sie hält die Schlüsselkarte in der Hand.
„Ach, Jennifer“, sage ich.
Epilog
Mein Bruder ist ein paar Stunden nach meinem Auftauchen gestorben. Friedlich eingeschlafen, wie man so sagt. Er hat mich gebeten, den Rest der Geschichte zu erzählen. Unbedingt sollte ich das tun, das war ihm sehr wichtig. Also bitte:
Er drehte sich zu mir und sagte „Ach, Jennifer“.
Und ich sagte, „da bin ich wieder“ und es klang, als ob ich nur mal eben für eine halbe Stunde draußen gewesen wäre, um etwas einzukaufen oder einmal um den Block zu laufen und nicht fast 60 Jahre lang aus dem Leben meines Bruders und aller anderen Menschen verschwunden gewesen.
„Ich habe dir einen Tee gekocht“, sagte ich und er bedankte sich, machte aber keine Anstalten, etwas zu trinken. Er bewegte sich fast gar nicht mehr. Und er sprach kaum noch.
Ob Brandon Ford auch noch komme, wollte er wissen.
Also habe ich ihm erzählt, dass Brandon schon viele Jahre tot ist. Kurz nach dem letzten Treffen der beiden in Äthiopien ist er gestorben. Ich war bei ihm.
„Du warst Tabitha, oder?“, sagte Fritz und lächelte ein klein wenig.
„Ja“, sagte ich. „Niemand macht so gute Laugenbrötchen wie ich.“
Und dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Beginnend in den weißen Nächten mit Djakerys Ermordung. Und wie ich den Mann, den ich für seinen Mörder hielt, fast umgebracht hätte. Wie ich ihn immer wieder mit meinen Stiefeln ins blutüberströmte Gesicht getreten habe.
Und wie ich in den Wochen danach versucht habe, zu verstehen, was ich getan hatte. Dass ich den Mann töten wollte. Dass ich außer mir war. Dass ich es nicht bereute. Dass ich es nicht verstand. Dass ich mich immer mehr als Monster empfand. Dass ich nicht einmal wusste, ob der Mann überhaupt Djakerys Mörder war. Und dass diese Frage letztendlich keine Bedeutung hatte. Ich wollte töten. Egal wen.
Und ich hatte keinerlei Ahnung, wie ich mit dieser Erkenntnis weiter leben sollte. Mit meiner Wut. Meinem abgrundtiefen Hass. Meiner Mordlust.
Und dann fand ich eines Morgens so einen schwarzen Videoplayer. PLAY / DONT PLAY. Er lag in unserem Hauseingang, ziemlich mittig zwischen den Briefkästen und den Mülleimern. Natürlich hatte ich gedacht, da hat jemand sein Handy verloren und legte es auf die Mülleimerabdeckung. Ja und dabei habe ich wohl unabsichtlich auf den PLAY Button gedrückt. Und sah mich selbst, wie ich eine kleine Rede halte, die an die anderen Mitglieder der Gruppe 12 gerichtet ist, an die, die die weiße Nacht überlebt hatten. Liane Schöningh saß neben mir und ich sprach sehr kalt und sehr überzeugend von der Notwendigkeit, ab jetzt Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Ich zählte eine Liste von zu tötenden Politiker:innen auf, angefangen mit Robert von Barkhausen. Wenn wir nicht mit gleichen Waffen zurückschlagen würden, seien Djakery und die anderen umsonst gestorben.
Als ich an dieser Stelle der Erzählung angekommen war, bewegte sich mein Bruder ein klein wenig und zeigte auf die drei PLAY / DONT PLAY Geräte auf dem Tisch vor ihm. Ich schob sie in seine Reichweite und so sahen wir uns einen Moment später den Film an, wie er mit Liane Schöningh in Mo i Rana die Rede ansah, die ich dann wirklich gehalten hatte.
„Es war letztendlich sehr einfach“, sagte ich. „Ich wollte keine eiskalte Killerin werden, also habe ich mich dafür entschieden, zum Frieden aufzurufen. Aber als ich die ersten Worte gesagt hatte, zerriß es mich fast. Meine Welt verschwand buchstäblich. Brandon hat dir davon erzählt, wie es ihm ging, als er versuchte, seine Zukunft zu ändern, indem er Mathildas Küssen widerstand. Es war entsetzlich, aber ich wollte es so.“
In diesem Moment nahm mein Bruder meine Hand und drückte sie so stark er es noch konnte. Wir hielten uns an der Hand, bis er starb.
Ich erzählte weiter, wie ich nach der Rede vor Schmerzen kaum noch etwas sehen konnte. Ich verließ den Raum, in dem wir uns getroffen hatten. Ich verließ das Haus. Ich tastete mich durch die Dunkelheit und irgendwann konnte ich wieder ein klein wenig besser sehen, aber die Welt hatte sich verändert. Oder ich war eine andere geworden. Ich sah die Welt, aber irgendwie war sie ein wenig durchsichtig geworden und andere Menschen schienen mich nicht zu sehen. Erst später lernte ich, dass, nur wenn jemand stirbt, man mich für eine kleine Weile sehen kann. Ich verstehe das bis heute nicht. Brandon meinte, ich würde in einer Art Zwischenwelt leben. Ich wäre nicht tot, aber auch nicht Teil der lebendigen Welt. Nur Brandon selbst konnte mich immer sehen, weil er ja zumindest für einen Moment ein Teil dieser Zwischenwelt geworden war.“
„Warum konnte ich dich als Tabitha sehen?“ Mit dieser Frage unterbrach mein Bruder meine Erzählung.
„Du konntest mich als Tabitha sehen, weil Brandon da schon dem Tode geweiht war. Er starb kurz nach deiner Abfahrt.“
Nachdem ich das gesagt hatte, schwiegen wir beide für ein paar Minuten. Hielten uns an der Hand und atmeten jeder still vor sich hin. Wir schwiegen, aber ich weiß, wir dachten beide an Brandon. Wie er unsere Leben begleitet hatte. Er hatte mich in der Nacht, als ich mich durch meinen Friedensappell erfolgreich gegen mein Schicksal, gegen meine Zukunft, gewehrt hatte, einfach aufgesammelt. Ich stolperte durch die immer transparenter werdende Stadt und wunderte mich immer mehr, dass mich niemand zu sehen schien, da hielt plötzlich ein Auto neben mir und Brandon Ford sprach mich sehr freundlich an, ob ich Hilfe bräuchte. Ich stieg zu ihm in das Auto und wurde von da ab Teil seiner Welt. Seit seinem Tod habe ich seine Firma übernommen, aber eigentlich mache ich keine Geschäfte mehr mit den Playern. Ich mag die Kunden nicht, die nur Geld verdienen wollen oder die Angst vor ihrem Tod haben. Ich versuche nur zu verhindern, dass die Dinger sich von Zeit zu Zeit selbstständig machen und Menschen durcheinander bringen, wie es bei Fritz und mir gewesen ist. Obwohl ich ja mit meiner Entscheidung letztlich zufrieden war. Es war alles andere als angenehm gewesen, die Zukunft zu ändern und auch die Konsequenz, das Leben in der Zwischenwelt, war nicht gerade das, was ich mir für mein Leben eigentlich erträumt hatte, aber die mehrfache Mörderin, die ich in der wirklichen Welt geworden wäre, war für mich niemals eine Alternative.
Fritz aber tat mir leid. Brandon hatte mir erzählt, dass er schon als 12 jähriger einen Player gefunden hatte, der ihm das Attentat auf von Barkhausen als seine Zukunft zeigte und wie er die ganzen Jahre einen aussichtslosen Kampf dagegen geführt hatte. Ich hatte Brandon gebeten, sich mit Fritz in Sri Lanka zu treffen und er hatte mir nach einiger Überredung den Gefallen getan. Bei ihrem Gespräch im Teehaus sass ich für Fritz unsichtbar an einem der Nebentische und als Brandon seine Sonnenbrille abnahm und die beiden sich sehr sehr lange ansahen, hatte ich eine Verbindung zwischen meinem Bruder und mir hergestellt. Die Zwischenwelt und die wirkliche Welt sozusagen miteinander verknotet. Fritz beschrieb diese Verbindung immer als eine Art Wendeltreppe, auf der ich -, er glaubte, es sei Brandon Ford, immer mal wieder auf und abgehen würde. Klickklack. Klickklack. Aber in Wirklichkeit war ich natürlich nicht in ihn hineingestiegen. Meine Zwischenwelt ist transparent, auf eine angenehme Art schwebend, sehr leicht. Da gibt es andere Möglichkeiten, in Verbindung zu sein. Also um das zu verstehen, darf man einfach nicht so materiell denken. Ich habe mich immer wieder mit ihm verbunden, aber auch das hat natürlich nicht so hundertprozentig funktioniert, weil er meine Botschaften immer nur als Klickklack identifizieren konnte. Aber immerhin hat es ihn wach gemacht, wie er selbst gesagt hat, hat ihn ein wenig dazu gebracht, nicht aufzugeben, immer wieder anzufangen.
Nur einmal habe ich direkt in sein Leben eingegriffen. Ich wollte einfach nicht, dass mein Bruder zum Mörder wird, also habe ich die Patronen in seiner Pistole kurz vor seiner Fahrt nach Berlin durch Platzpatronen ersetzt.
Klickklack. Klickklack. Ich hörte es ganz deutlich. In meiner Brust. Genau wie Fritz es beschrieben hatte. Er grinste mich an.
„Du kannst es also auch“, sagte ich. Er nickte und wie zur Bestätigung hörte ich es noch einmal. Klickklack.
„Es ist ganz einfach“, flüsterte er. „Man muss nur aneinander denken.“
Dann sassen wir beide noch eine Weile ganz still beieinander.
Ich sah, wie die Welt immer heller wurde, der Himmel blau, ein paar weiße Wolken über dem Meer. Verkehrsgeräusche drangen von der Straße zu uns herauf. Alles klar und deutlich und erst dann merkte ich es richtig: Nichts davon war mehr durchsichtig. Alles transparente, das meine Welt seit mehr als 60 Jahren ausgemacht hatte, war verschwunden. Meine Welt war wieder dieselbe wie die meines Bruders.
Irgendwann fing Fritz noch einmal ganz leise an zu sprechen. Ich beugte mich zu ihm herunter, um ihn verstehen zu können. Es ging um die Player. Ob ich seine auf dem Computer gespeicherte Lebensgeschichte auf einen PLAY / DONT PLAY - Player überspielen und sie seinem 10 jährigen Ich zukommen lassen könne?
„Nein“, sagte ich, „das geht nicht. Wir können die Dinger nicht programmieren. Das geschieht alles ohne unser Zutun.“
„Aber meine Geschichte?“, sagte er und zeigte mit letzter Kraft auf seinen Computer.
„Aber die ist doch schon in der Welt. Du hast sie erzählt. Es ist im Grunde wie mit dem Klickklack. Du erzählst und denkst dabei an die Menschen, denen du sie erzählst und schon hören sie die ganze Geschichte.“
„Erzählst du das Ende?“, sagte er und drückte noch einmal meine Hand. „Bitte“, sagte er und ich sagte, das würde ich tun.
Ach, Fritz.
Und das ist das Ende:
Er atmete noch ein paar Mal sehr schwer. Seine Hand krallte sich in meine.
Dann liess er los. Atmete ein letztes Mal aus.
Und wie ich vor hundert Jahren mal gesagt habe: Weinen ist ganz einfach.
Ich hielt seine Hand noch lange, nachdem er gestorben war. Irgendwann kam vom Ozean her Wind auf und trocknete meine Tränen.
Alle Rechte bei Thomas Matschoss