Roman 3
von Thomas Matschoss
Prolog
Die Geschichte beginnt in einer dieser Vollmondnächte, die so hell sind, dass man nicht einschlafen kann, selbst wenn man den ganzen Tag schwer gearbeitet hat. Holz gehackt oder ein halbes Haus gebaut, solche Sachen. Wenn der volle Mond orange glüht und ganz tief über dem Horizont schwebt, so dass man lange Schatten wirft – mit orangenen Umrandungen -, vor denen man an schlechten Tagen selber Angst bekommt.
Aber es war kein schlechter Tag. Und ich war nicht ängstlich. Nicht zu dieser Zeit. Ich war 12 Jahre alt und eine aufregende Zukunft lag vor mir. Eine Zukunft, die ich mir erobern würde. Erobern nicht in dem Sinn einer militärischen Operation, sondern als Metapher für eine explodierende Neugier, die all die sinn – und endlosen Wiederholungen von nur aus purer Langeweile eingeübten Tagesabläufen und nur für uralte Menschen begreifbare Rituale in die Luft sprengen würde.
Aber da hatte ich mich getäuscht. Etwas war in diesem Moment tatsächlich weggesprengt worden und es dauerte viele Jahre, bis ich begriff, dass das die Vorstellung von Zukunft überhaupt war. In der Sekunde als ich mich gebückt hatte, um etwas aufzuheben, das mir wie ein Handy vorkam. Es lag im Gras und blinkte im Licht dieses alles der orangefarbenumrandeten Helligkeit übergebenden Vollmondes.
Ich merkte sehr schnell, es war kein Handy. Aber es hatte einen Bildschirm. Und zwei Buttons. PLAY. Das war der eine.
DONT PLAY. Das war der zweite.
Ich drückte auf PLAY. Und damit änderte sich alles.
Oder gerade nicht.
Das versuche ich seitdem herauszufinden. Und ich bin jetzt fast 94 Jahre alt. Es ist die Silvesternacht des Jahres 2093. Ich sitze in einem kaputten Hochhaus in Colombo, Sri Lanka und warte.
Und noch immer glaube ich, dass etwas explodieren wird.
Wenn man einen Menschen ansieht, also wirklich ansieht, nicht nur hin – und gleich wieder weg – denn dann sieht man nur sich selbst und davon auch nur die Oberfläche – also wenn man den anderen wirklich betrachtet und man genau so betrachtet wird – und das für eine wirklich lange Zeit – und lang, das heißt immer etwas länger als das, was einem eigentlich schon lang vorkommt – also wenn man jemanden auf diese Art für eine wirklich lange Zeit anschaut, dann -
verändert sich die Welt.
Das hat er gesagt. Brendan Ford. So hat er sich mir vorgestellt. Vor vielen Jahren. Es war ebenfalls in Colombo, Sri Lanka. Ein Teehaus. Ich war da im Urlaub. Oder auf der Flucht. Je nachdem, wie ihr die Geschichte versteht. PLAY oder DONT PLAY.
Natürlich heisst er nicht Brendan Ford. Er hat keinen Namen. Nicht wie wir Menschen. Denn er ist kein Mensch.
Ihr denkt also, was ist er dann? Ein Wesen, dass sich mir vorstellen kann, mit einem englisch klingenden Namen, in einem Teehaus in Sri Lanka? Aber kein Mensch?!!!
Also nur damit ihr nicht denkt, es geht hier um irgendeine philosophische Scheiße.
NEIN. Es geht um die handfesten Dinge des Lebens. Gewalt. Liebe. Tod.
Und ich fange von vorne an oder wie der große schwedische Dichter Lars Gustaffson immer wieder geschrieben hat:
Wir geben nicht auf. Wir fangen wieder an.
Kapitel 1
Also zurück in die Nacht des orangenen Vollmondes. Spätsommer. 2012. Wie das klingt. 2012. Eine Jahreszahl aus einem Märchen. Es war einmal vor langer, langer Zeit. Aber auch diese Zeit hat es einmal gegeben. Genauso wirklich oder unwirklich wie heute. 2093. Nur dass fast alles, das die Realität des Jahres 2012 ausmachte, heute verschwunden ist. Aber auch das ist ja normal. 81 Jahre vergehen und alles verschwindet. In diesem Satz ist nichts Tragisches enthalten. Nur die Normalität unserer Vergänglichkeit und die Schönheit von Veränderungen. Oder der Schrecken. Das sind nur zwei unterschiedliche Arten die Welt und unsere Rolle darin zu betrachten.
Stop. Ich will nicht philosophieren. Ich habe es euch versprochen. Also hier in aller Kürze die Fakten.
Wie alles begann.
Meine Eltern lebten in Hamburg und arbeiteten beim Fernsehen. Meine Mutter war Schauspielerin. Ihre Paraderolle war Frau Dr. Kessler im Heidekrankenhaus. Ihr müsst euch nicht schämen, wenn ihr das nie gesehen habt. Lief im Vorabendprogramm und war der übliche Lebensrettungskitsch, der damals von vielen als kleine Flucht aus dem ach so beschwerlichen Alltag ganz gerne zur Begleitung eines ansonsten sterbenslangweiligen Abendessens angestarrt wurde. Meine Mutter war über 20 Jahre lang Frau Dr. Kessler. Das hat mir das Aufwachsen in einer Traumaltbaueigentumswohnung in Hamburg Ottensen ermöglicht, also werde ich mich nicht beklagen. Weder über Frau Dr. Kessler. Noch über meine Mutter.
Mein Vater schrieb Texte für einige zu dieser Zeit sehr angesagte Komiker. Satire. Comedy. Auch eine damals sehr beliebte Art aus der Realität abzuhauen. Er war politisch engagiert, aber das waren damals alle in den geräumigen Altbauwohnungen in Hamburg Ottensen. Ich glaube er litt an der Oberflächlichkeit seiner Texte. Das würde jedenfalls erklären, dass er zwar viele Menschen zum Lachen brachte, ich mich aber nicht erinnern kann, ihn überhaupt einmal lachen gesehen zu haben. Auch das nicht weiter tragisch. Es war nur nicht seine Art. Manchmal staunte er über die Welt und seine Mitmenschen, dann lächelte er immerhin, aber ansonsten schaute er irgendwie ausdruckslos auf das Chaos um ihn herum. Chaos, weil ich noch zwei Geschwister hatte. Zwillinge und 10 Jahre jünger als ich. Jenna und Jennifer. Meine Mutter war den beiden Mädchen rettungslos verfallen. Was immer sie anstellten, es war einfach süss. Und das waren sie auch. Zwei süsse Mädchen.
Also wirklich eine gute Familie. Eine tolle Wohnung in einem angesagten Wohnviertel in einer lebenswerten Stadt in einem der damals reichsten Länder der Erde. Ich liebte mein priviligiertes Leben. Von heute aus betrachtet war ich vielleicht ein verwöhnter, etwas altkluger und ziemlich arroganter Schnösel, aber mal ehrlich: Das waren wir doch alle zu dieser Zeit in dieser Gegend der Welt.
Das einzig Blöde war, dass meine Eltern beide einen Tick hatten. Sie liebten das Landleben. Also das, was man sich von Ottensen aus so als Landleben vorstellte. Und so machten wir immer wieder Ausflüge ins – Hamburger Umland. Nahezu jedes Wochende fuhren wir mit unserem familiengerechten siebensitzigen Kleinbus zum Wandern. Äpfel ernten. Paddeln auf kleinen verträumten Flüssen. Ich wollte lieber mit meinen Kumpels abhängen, das heisst am Computer spielen und Superheldenfilme gucken, aber als 12 jährigem wurde mir noch keine großartige Selbstständigkeit zugestanden. Immerhin waren die Ausflüge seit der Geburt der Zwillinge deutlich weniger und kürzer geworden, aber an diesem Wochenende waren die beiden Kleinen bei den Großeltern und wir endlich mal wieder zu dritt unterwegs. Das bedeutete eine mehrstündige Wanderung durch die Lüneburger Heide und Übernachtung in einem Landgasthaus in der Nähe von Amelinghausen. Diese Gegend tat damals so, als ob dort jeder zweite Mensch Schäfer war, dabei arbeiteten sie fast alle in Hamburg und saßen jeden Tag zwei Stunden allein in ihren SUV's, um zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen. Auf der Speisekarte des Gasthauses gab es praktisch nur Heidschnucken. In allen Varianten.
Ich habe meine Eltern selten so glücklich gesehen. Selbst mein Vater lächelte ein wenig. Sie wirkten wie frischverliebt und um sie in diesem Zustand nicht aushalten zu müssen, täuschte ich vor, sehr müde zu sein.
Ich hatte ein eigenes Zimmer und keinen Handyempfang. Also habe ich früh geschlafen, aber bin irgendwann von den Sexgeräuschen meiner Eltern aus dem Nebenzimmer aufgewacht. Ich wollte das nicht hören. Mein Vater klang wie eine röhrende Heidschnucke und meine Mutter stöhnte in einer unglaublich hohen Tonlage. Eigentlich klang das wie eine Orgie in einem schrägen Zeichentrickfilm. Sie hätten wenigstens das Fenster schließen können.
Ich war also hellwach und hörte meinen ausgelassenen Eltern zu, die sich in einen Heidschnuckenhirsch und eine quietschende Comicfigur auf dem Weg zum Orgasmus ihres Lebens verwandelt hatten und beschloss, dass ich das nicht aushalten müsse. Also zog ich mich an und ging hinaus. Und da war dieser orangenfarbene Riesenmond. Unheimlich und wunderschön. Ich ging hinaus in den Garten des Gasthauses, bis ich nichts mehr von der Orgie mitbekam, starrte auf den Mond und versuchte nicht an Sex zu denken. Ich war 12, aber ich wusste natürlich Bescheid. Es war 2012. Ich hatte ein Handy. Ich hatte schon alles gesehen. Aber der Gedanke an Sex zwischen meinen Eltern machte mich nervös. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern das taten, was ich in den kleinen Pornos auf dem Schulhof gesehen hatte. Dass sie ihre gewohnte Kontrolle jemals so vergessen könnten.
Also ging ich noch ein paar Schritte weiter. Auf den orangenen Mond zu.
Und da lag das komische Teil. Im orangenen Gras vor mir. Und ich bückte mich. Starrte es an. Und drückte auf den PLAY Button.
Alle Kinder hätten das gemacht. 2012! Ein handyähnliches Gerät auf dem einem die Auswahl zwischen Spielen und Nichtspielen gelassen wird. Alle 12 jährigen hätten innerhalb von drei Sekunden auf PLAY gedrückt. Egal ob in Ottensen oder in der Lüneburger Heide. Egal ob die Eltern schnarchen oder den Sex ihres Lebens haben. Egal ob der Mond viel zu groß und viel zu orange scheint.
Und außerdem wäre, auch wenn ich nicht auf PLAY gedrückt hätte, passiert, was eben passiert ist.
Zumindest denke ich das jetzt in meinem Versteck im 42.ten Stock.
Kapitel 2
Ich drücke auf PLAY.
Und sehe ein kurzes Video.
Ich habe es seitdem vielleicht ein paar hundert Mal gesehen.
Und ich habe schließlich selbst erlebt, was auf dem Film zu sehen ist.
Es ist ein Innenraum. Eine Garderobe. Nicht besonders groß. Zwei Stühle, zwei Schminktische. Zwei Spiegel.
Der Raum hat keine Fenster. Zumindest sieht es auf dem Video so aus. In der Realität habe ich Jahre später entdeckt, dass da durchaus ein Fenster war. Davor ein seltsam skelettartiger Baum, der von einem genauso orangenen Riesenmond beleuchtet wird, wie ich ihn in der Nacht des Jahres 2012 gesehen habe. Aber das wusste ich damals noch nicht. Auf dem Video waren keine Fenster zu sehen und das Licht war nicht orangen, sondern grellweiß und kam von einer Stehlampe, die der Kamera wohl genau in die Linse blendete.
Mehr sehe ich nicht von dem Raum. Eine nichtssagende Garderobe. Ich kannte das von Besuchen bei den Dreharbeiten meiner Mutter.
In dem Raum sind 4 Personen. Zwei Frauen, zwei Männer. Der jüngere der beiden Männer hat eine Pistole. Er bedroht damit den anderen Mann. Er verlangt von ihm einen Text vorzulesen. Die eine der Frauen wird diese kurze Rede mit einem Handy aufnehmen. Diese Frau weint. Sie hält das Handy hoch und Tränen laufen unaufhörlich über ihr Gesicht. Die vierte Frau hat einen viel zu großen Pullover an. Sie verschwindet fast darin. Ein selbstgestricktes Wollmonstrum mit einem gelben Smiley, das eine Maske trägt. Sie sieht aus, als würde sie am liebsten unsichtbar sein.
Der bedrohte Mann ist ein gutaussehender großer Mann, der trotz seiner offensichtlich sehr misslichen Lage noch ein überzeugendes Lächeln hinkriegt.
„Fangen Sie endlich an“, sagt der Mann mit der Pistole.
„Es wird Ihnen nicht helfen, es wird niemandem helfen“, antwortet der andere, immer noch lächelnd.
Der mit der Pistole fängt an zu zählen. Rückwärts von zehn beginnend. Seine Stimme wird von Zahl zu Zahl immer dünner. Die Frau mit dem Handy weint noch immer.
Bei drei fängt der andere an zu lesen: „Ich, Robert von Barkhausen, Präsident der Republik Zentraleuropa erkläre hiermit meinen Rücktritt von allen Ämtern. Ich tue das freiwillig“ - das Lächeln wird noch einen Tick breiter - „und aus tiefster Überzeugung, dass damit der Weg zu einem dauerhaften Frieden möglich sein wird. Als letzte Amtshandlung hebe ich das Verbot aller politischen Parteien auf und ordne demokratische Neuwahlen zum 1. März 2036 an.“
An dieser Stelle hört er auf und sagt noch einmal ganz leise zu der Frau mit der Kamera: „Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das. Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Johanna schaut zu ihm, aber der sagt nur, „Lad das Video hoch“.
Dann stehen sie alle drei ein paar Sekunden sehr still. Wie eingefroren. Nur die Frau mit dem maskiertem Smileypullover versucht noch mehr in ihrem Pulli zu verschwinden.
Plötzlich hört man einen kurzen sehr hohen Ton und eine Sekunde später ein mechanisches Klicken. Dreimal kurz hintereinander. Vielleicht Schalter, die umgelegt werden.
Der große Mann hört auf zu lächeln. „Tut mir wirklich leid, Johanna“, sagt er und im selben Moment explodiert der Raum. Rauch und Stichflammen drängen in das Bild. Ein einzelner Schuss ist zu hören. „Nein, Fritz, nein!“, schreit Johanna und damit endet das Video.
Ich musste lachen. Natürlich war das nicht komisch, aber dieses „nein, Fritz, nein“ kam mir sowas von bekannt vor. Meine Mutter sagt das andauernd. Klar, ich heisse Fritz und bin 12 Jahre alt. Sie versucht oft, mir was zu verbieten. Zu viel Zeit am Handy, zuviel Mayo zu den Bio Pommes Frites, zuviel Schimpfwörter, zu wenig Rücksicht auf meine kleinen Schwestern. Immer „Nein, Fritz, nein.“
Ich drückte gleich nochmal auf Play. Schaute mir die Szene noch einmal an. Ganz schön spannend. Gut, auch ein bisschen unheimlich, aber ich hatte schon Heftigeres gesehen. Ich hätte gern gewusst, wie es weitergeht. Hatte mein Namensvetter den Präsidenten gekillt und warum weinte Johanna die ganze Zeit?
Aber es gab auf dem merkwürdigen Gerät nur diesen einen Clip. Keinen Hinweis aus welchem Film oder welcher Serie das stammte. Ich nahm mir mein Handy – hier im Garten hatte ich Empfang und versuchte das rauszufinden, aber bei Google fand sich nichts zu den Stichworten Robert von Barkhausen, Johanna und Republik Zentraleuropa. Vielleicht war es ein Video wie es Schauspieler auf ihre Websites tun. Meine Mutter drehte manchmal mit Schauspielschüler*innen solche kurzen Spots.
Nach dem erfolglosen Googeln ging ich wieder zurück in mein Zimmer. Der Mond schien mir noch einen Hauch größer geworden zu sein und gleichzeitig blasser, aber der Mond interessierte mich nicht mehr.
Meine Eltern waren nicht mehr zu hören, aber vielleicht waren sie noch wach. Rauchten einen kleinen Joint oder machten nur eine Pause in ihrer ausgelassenen Orgie. Also suchte ich an dem Gerät nach irgendwas, mit dem man den Ton leiser drehen konnte, aber da gab es nichts. Das Gerät war nur ein flacher, kleiner Kasten. Schwarz bis auf das matte Display. Und die beiden Buttons. PLAY und DONT PLAY. Nichts weiter, nicht einmal eine Firmenbezeichnung oder irgendeine Buchse um das Ding aufzuladen. Nichts weiter. Ich kroch unter die Bettdecke, damit der Ton nicht so laut zu hören war und drückte ein weiteres Mal auf PLAY. Obwohl ich ja schon wusste, was mich erwartete, fand ich es jetzt plötzlich sehr unheimlich. Ich lag in einer Höhle unter der Bettdecke, das Display als einzige Beleuchtung und schaute den Film dreimal hintereinander an. Keine weiteren Hinweise. Die Frau, die Johanna genannt wurde, tat mir leid. Warum war sie mit diesem Idioten mitgegangen, denn das mein Namensvetter ein Idiot war, war mir von Anfang an klar. Ich hatte schon mehrere Filme gesehen, wo sich Typen wie dieser Fritz in irgendwas reingesteigert hatten. Irgendetwas, das sie weder überschauen konnten noch waren sie der Situation auch nur annähernd gewachsen. Aber sie mussten es durchziehen. Die Knarre machte sie mutig, obwohl Fritz ziemlich zittrig und überspannt und auf jeden Fall alles andere als mutig aussah. Solche Filme gingen immer schlecht aus, dachte ich und kroch aus meiner Bettdeckenhöhle heraus. Ich streckte mich aus und merkte plötzlich wie müde ich war, aber bevor ich einschlief, nahm ich noch einmal das Gerät und drückte auf den DONT PLAY Button.
Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Das stand da. Schwarz auf weiß. Mehr war nicht zu sehen.
Ich nahm mein Handy und googelte auch das. Einen Brandon Ford gab es, ein amerikanischer Golfspieler, der in den 70er Jahren mal ein paar Turniere gewonnen hatte und vor drei Jahren an Krebs verstorben war. Einen 447 Luna Tower gab es nicht in Sri Lanka.
Jetzt im Jahre 2093 sitze ich im 447 Luna Tower, also, das was noch von ihm übrig ist. Im letzten Krieg sind die obersten 12 Stockwerke weggesprengt worden und wie fast überall auf der Welt hat man die Überreste einfach sich selbst überlassen.
Der 447 Luna Tower ist 2020 fertiggestellt worden. Kein Wunder, dass ich 2012 noch nichts darüber im Internet fand. Über Brandon Ford fand ich nie etwas im Netz. Weder bei Google noch sonstwo. Er existierte nicht. Oder nicht auf eine dem Internet verständliche Art.
In dieser Nacht habe ich nur noch ein paar Minuten gegoogelt, dann wurde ich wirklich müde. Am nächsten Morgen habe ich mir das Video ein weiteres Mal angeschaut. Dann habe ich das Gerät in meiner Tasche versteckt. Irgendwie wollte ich nicht, dass es meine Eltern sahen. Sie hätten es mir wahrscheinlich weggenommen. Ich hätte es dahin zurücklegen müssen, wo ich es gefunden hatte. „Dieser Mister Ford sucht es wahrscheinlich schon händeringend“, hätte meine Mutter mit todernster Miene behauptet und mir einen langen Vortrag über den Respekt vor fremdem Eigentum gehalten. Da habe ich es lieber versteckt. Über viele Jahre habe ich es versteckt. Ich habe es mir in den nächsten Wochen noch ein paar Mal angeschaut, aber nach wie vor ist mir nichts Besonderes mehr aufgefallen. Nur die immer gleiche Szene. Der nervöse Fritz mit seiner Knarre, die weinende Johanna und der Präsident Robert von Barkhausen mit seinem ewigen „Das wird niemandem helfen“ - Gelächel. Und die Explosion. Der Schuss. „Und Nein, Fritz, nein.“ Und natürlich die namenlose Frau, die versucht in dem viel zu großen Strickpullover mit der Smileymaske zu verschwinden.
Ich habe nie jemand von dem Videoclip erzählt. Das war mein Geheimnis. Ich war richtig stolz, so ein Geheimnis zu haben, aber nach ein paar Wochen habe ich es schon beinahe selbst vergessen.
Zwei Jahre später haben sich meine Eltern für mich völlig überraschend getrennt und ich zog mit meinem Vater zusammen um. Die Zwillinge blieben bei unserer Mutter. Während des Packens hatte mein Vater plötzlich das Gerät in der Hand. „Ist das ein alter Gameboy oder was?“, fragte er mich und wollte das Ding wegschmeissen. Ich sagte, ich wolle es behalten. „Warum denn das? Das ist doch total veraltet“, sagte er und wollte schon auf den PLAY Button drücken. „Nein Papa, nein“, sagte ich, „wir haben jetzt keine Zeit für eine Runde Pacman oder Zuma.“ „Hast du denn dafür noch ein Ladekabel?“ Ich stotterte etwas, ja das hätte ich schon verpackt und nahm ihm das Ding ab. Als er den Raum verlassen hatte, drückte ich nochmal auf PLAY. Zu meiner Überraschung lief der Film sofort und ohne Probleme ab. Musste ein wirklich guter Akku drin sein, dachte ich. Ansonsten derselbe altbekannte Film. Ich steckte es tief unten in einen Umzugkiste mit lauter alten Spielsachen, die ich in der neuen Wohnung sofort auf den Dachboden brachte, wo sie bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag unberührt vor sich hingammelte.
2020 war das Jahr der Corona Pandemie, ich weiß nicht, ob ihr euch erinnert, war ja damals ne große Sache, man sollte am besten niemand anderen treffen und deshalb war meine Geburtstagsparty auch ziemlich klein ausgefallen. Zwei Freunde und Miriam, meine erste Freundin, mit der ich zu diesem Zeitpunkt schon fast vier Jahre zusammen war. Mein Vater und meine Mutter natürlich mit den inzwischen zehnjährigen Zwillingen. Meine Mutter überreichte mir ein dickes Paket und wirkte sehr nervös, als ich es auspackte.
„Du musst ihn nicht anziehen, wenn er dir nicht gefällt“, sagte sie, noch bevor ich wusste, um was es sich handelte. „Ich hab in der Quarantäne mit dem Stricken angefangen und ich fand es irgendwie witzig, aber wenn du nicht willst...“
Sie hörte mitten im Satz auf, weil ich jetzt fertig mit dem Auspacken war und den Pullover in der Hand hatte. Völlig entgeistert schaute ich auf das Smiley mit der Maske.
„Der ist ein bisschen zu groß geworden, aber ich bin ja auch aus der Übung“, stotterte meine Mutter, „also wenn er dir nicht gefällt...“
Sie tat mir leid. Es war ein häßliches Monstrum und ein Smiley mit Maske war in dieser Zeit so ungefähr das Unwitzigste, was man sich vorstellen konnte. Nicht mal unter Androhung von Folter hätte ich mir das Ding angezogen, aber meine Mutter tat mir einfach leid. Sie konnte nicht wissen, warum ich so entsetzt guckte. Und natürlich wollte ich ihr den wahren Grund nicht erzählen. Also tat ich so, als ob ich den Pulli total toll fand und zog ihn an. Miriam konnte sich nicht halten vor Lachen und auch meine beiden Kumpels verarschten meine Mutter mit völlig überzogenen Komplimenten für ihre Strickkünste. Nur mein Vater meinte, dass der Sinn für Humor bei meiner Mutter ja schon immer nicht so ausgeprägt gewesen wäre.
Um halbdrei Uhr nachts – meine Kumpels, meine Mutter und die Zwillinge waren weg, mein Vater war noch zu seiner neuen Freundin verschwunden und Miriam schlief selig – schlich ich mich auf den Dachboden, öffnete die Kiste, räumte das Lego und die Kakerlakensalatspielkarten und den ganzen anderen Kinderkram heraus, bis ich das Ding in die Hände bekam. Ich zitterte ein wenig, als ich auf den PLAY Button drückte. Das Video lief genauso wie vor über acht Jahren. Und ich sah es sofort: Der Pullover, in dem sich die unbekannte Frau verstecken wollte, war derselbe, den ich in den Händen hielt. Farbe, das Smiley, die Maske, selbst die kleinsten Details stimmten: meine Mutter war bei der Maske anscheinend die Farbe ausgegangen. Oben war sie hellgrau und die unteren Reihen waren rot, wie ein dünner mit Lippenstift gezogener Mund. Lange sass ich frierend auf dem Dachboden vor der Kiste. Unfähig zu denken, unfähig mich zu bewegen. Nicht einmal atmen konnte ich richtig. Irgendwann fiel mir das Ding aus der Hand und ich erwachte aus meiner Starre. Ich packte es in die Kiste und schlich mich zurück in die Wohnung. Ich ging ganz leise ins Bett. Miriam wachte nicht auf, aber drückte sich im Schlaf an mich. Sie war sehr warm, sie war sehr real. Ich schlief innerhalb von ein paar Sekunden ein.
Kapitel 3
Wir blieben am nächsten Morgen sehr lange im Bett. Es war Sonntag. Niemand erwartete etwas von uns. Also blieben wir einfach liegen. Irgendwann machte Miriam Frühstück: Rühreier, Brötchen mit Lachs und Frischkäse. Kaffee. Wir aßen im Bett. Danach liebten wir uns. Ich musste an die Nacht mit dem orangenen Vollmond denken. An die Geräusche meiner Eltern. Wie peinlich mir das damals gewesen war. Und dann dachte ich natürlich wieder an das Video. An den schrecklichen Pulli. An die weinende Johanna und den Typ mit der Knarre, der genauso hiess wie ich.
Und ich versuchte zu verdrängen, was ich in der Nacht sofort erkannt hatte. Fritz, der Typ mit der Knarre, hiess nicht nur wie ich, er sah auch so aus wie ich. Etwas älter natürlich, vielleicht 10, 15 Jahre, aber die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Er hatte einen 5 – Tagebart, aber sonst sah er exakt aus, wie die etwas reifere und sehr viel nervösere Version des jungen Mannes, der mich jeden Morgen aus dem Badezimmerspiegel anschaute. Acht Jahre vorher wäre ich niemals auf die Idee gekommen, aber damals war ich auch erst einen Meter fünfzig groß. Wenn Fritz ich war, wer waren dann die anderen? Gut, Robert von Barkhausen hatte sich ja als Präsident von Zentraleuropa vorgestellt. Die Frau in dem Pulli konnte ich kaum erkennen, sie hätte Anfang 20 sein können oder um die 50, sie war klein und ein wenig pummelig. Und Johanna? Etwa mein Alter, also im Video so Mitte dreißig, schwarze Haare. Von heute aus würde ich gerne sagen, dass ich mich sofort in sie verliebt habe, aber das ist sentimentaler Quatsch. Nur weil ich viele Jahre verrückt nach ihr war. Alles getan habe, um sie lächeln zu sehen. Ein Kuss von ihr mich einverstanden machte mit der komischen Welt. Weil sie alles war. Wie gesagt, sentimentaler Quatsch. In diesem Moment war Johanna ein trauriges Gesicht. Ein schönes Gesicht ja, aber vor allem ein Gesicht voller Tränen und eine Stimme, die voller Angst „Nein, Fritz, nein“, rief.
Miriam schob mich irgendwann von ihr runter. Ob irgendwas sei? Ich schwieg. Ob sie etwas falsch mache? Ich schwieg. Ob ich sie nicht mehr liebe? Ich schwieg.
Vielleicht hätte ich es ihr erzählen sollen. Vielleicht wäre dann alles anders geworden?
Aber so wie ich das heute als uralter Mann sehe, wäre alles auch dann genauso geschehen, wie es eben geschehen ist. Brandon Ford ist auf jeden Fall dieser Meinung. Er glaubt nicht daran, dass wir Menschen so etwas wie einen freien Willen haben. „Du lebst nicht in einer Welt der Entscheidungen“, sagte er einmal zu mir, „du lebst in einer Welt, die schon lange bestimmt ist.“ „Und was ist mit Ihnen?“, wollte ich wissen. „Ich entscheide selbst. Ich entscheide jeden Schritt, den ich gehe, jedes Wort, das ich sage, jede Tat, die ich begehe.“
Ich habe ihm das geglaubt. Beinahe mein ganzes Leben habe ich so gelebt, als ob das wahr wäre. Dass ich nichts zu entscheiden habe. Aber jetzt warte ich hier im 447 Luna Tower, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Ich werde ihn überraschen. Auf eine so hundertprozentig unvorhersehbare Art, dass ihm sein Kopf explodiert.
Aber, wenn mir das gelänge, wenn ich doch einen freien Willen haben sollte, dann hätte ich Miriam damals in unserem Bett voller Brötchenkrümeln und Kaffeeflecken erzählen sollen, was mir durch den Kopf ging. Dass es nichts mit ihr zu tun hatte, sondern damit, dass ich die ganze Zeit, während ich so hilflos versuchte, sie zu lieben, daran dachte, dass ich 15 Jahre später einen Menschen mit einer Pistole bedrohen werde und dass dann ein Schuss fallen wird.
Wir hätten uns das Video zusammen angesehen und sie hätte mir gesagt, dass ich keinesfalls so aussehe wie der Typ mit der Knarre.
Oder sie hätte einfach den Smileypulli verbrannt.
Oder wir hätten unsere geplante Reise nach Neuseeland gemacht und wären da geblieben. Hätten uns um Pinguine oder Kiwis gekümmert, Kanutouren für gelangweilte Touristen veranstaltet. Egal was, nur um die nächsten 16 Jahre nicht nach Zentraleuropa zurückzukehren, was auch immer dort geschehen wird.
Aber ich habe nichts gesagt. Es ist so lange her, dass ich mir meiner wahren Gründe für mein Schweigen nicht mehr sicher bin, aber ich weiß noch, dass ich schlicht und einfach Angst hatte. Dass sie mich für ziemlich durchgeknallt halten würde. Vielleicht war ich das ja auch. Dieses Gerät hätte nicht mehr funktionieren dürfen, ohne Stromanschluß. Da waren auch keine Solarzellen. Dieser Film hätte nicht existieren dürfen. Und außerdem kann man einfach nicht in die Zukunft sehen.
In meinem Kopf liefen diese und ähnliche Gedanken in Endlosschleifen. Es ist ein Wunder, dass ich nicht wirklich verrückt wurde. Aber ich habe Miriam nichts davon erzählt. Irgendwann standen wir auf, zogen uns an und machten einen langen Spaziergang. Die Elbe runter bis nach Blankenese. Es war Mitte November und wie meistens in diesen Jahren ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Es regnete nicht, sah aber so aus, als ob es jeder Zeit losplattern könnte. Und ein heftiger Wind zog auf. Der erste richtige Herbststurm.
Miriam sah so traurig aus. Ich versuchte alles, um sie aufzuheitern, aber irgendwann fing sie an zu weinen. Jetzt war ich an der Reihe, sie zu fragen, was denn los sei? Sie würde es sich schon so lange fragen. Ja was denn? Ob das noch Sinn mache mit uns beiden? Warum denn das?
So ging das etwa eine halbe Stunde, in der ich ihr schwor, dass ich glücklich mit ihr sei und wir sobald das Scheißcorona endlich vorbei sei, nach Neuseeland fahren würden. Dass sie alles für mich sei. Ich machte ihr sogar einen Heiratsantrag. Da weinte sie wieder. Aber dieses Mal war sie wütend. Warum ich sie auch noch verarschen müsse? Mach ich doch nicht.
Sie blieb abrupt stehen. Eine Sturmbö fegte über uns hinweg und für ein paar Sekunden war ihr Gesicht unter den vom Wind umtosten Haaren verschwunden. Miriam hatte wunderschöne und sehr lange kastanienbraune Haare. Diese Haare rochen so unglaublich gut. Ich liebte diesen Geruch. 73 Jahre später werde ich vergnügt und traurig zu gleich, wenn ich an Miriams Haare denke.
Ich streckte den Arm nach ihr aus, aber sie wich meiner Hand aus, so dass ich nur ihre Haare zu fassen bekam.
„Lass mich los“, schrie sie mich an. Ich hatte sie niemals so laut erlebt.
Ich öffnete meine Hand und der Wind wehte ihre Haare fort.
„Was hast du nur?“, fragte ich.
„Wer ist Johanna?“
Natürlich beantwortete ich diese Frage nicht und dann schrie sie mich richtig zusammen. Sie hätte ja zuerst geglaubt, dass sie sich verhört hätte, aber dreimal in nicht einmal 12 Stunden würde sie sich ganz bestimmt nicht verhören. Johanna und Miriam könne man ja eigentlich nicht verwechseln. Da müsse man schon ein ganz gemeines Arschloch sein.
Dreimal hatte ich sie als Johanna angesprochen. Soviel zum Thema Verrückt sein.
Das erstemal als ich nach meinem Ausflug auf den Dachboden wieder zu ihr ins Bett gekrochen war. Sie hatte wohl doch noch nicht geschlafen. „Oh, Johanna“, hätte ich ihr praktisch ins Ohr geflüstert.
Das zweite Mal dann natürlich bei unserem verunglückten Morgensex. Da hatte ich es sogar gemerkt. Sie hatte meinen Namen gestöhnt und da hatte ich sehr leise „Oh, Johanna“ geantwortet, aber ich hatte gedacht, sie hätte es nicht gehört.
Ja und das dritte Mal war kurz vor meinem Heiratsantrag gewesen. Da muss ich den verfluchten Namen einfach so vor mich hingenuschelt haben. „Was sagst du da?“, hatte Miriam mich gefragt und da habe ich sie gefragt, ob ich sie heiraten will. Bekloppter geht es nicht.
Miriam hatte das alles rausgeschriehen. In den herbstlichen Sturm. Jetzt war sie still und ich sah sie. Sie war meine Freundin. In meinem 20 – jährigen Leben war sie das Wichtigste, das Aufregendste und das Schönste, was mir bis dahin passiert war. Ich wollte ihr die Wahrheit sagen.
Aber ich sagte, ich hätte Johanna in dem Schnupperwochenende an der Schauspielschule kennen gelernt und mich verliebt. Das war zwar nicht die Wahrheit, aber zumindest das mit dem Verlieben würde sowieso irgendwann in den nächsten 15 Jahren passieren. Da war ich mir sicher.
Kapitel 4
Wenn man es nicht mit einem übermäßigem Hang zum Melodrama betrachtet, war die Trennung von Miriam kurz und schmerzlos. Anstatt noch für Monate oder Jahre unseren Alltag in eine freudlose Version unseres Miteinanderseins zu verwandeln, gingen wir schon an diesem Nachmittag auseinander. Sie fuhr mit der S – Bahn zurück nach Ottensen. Ich ging langsam und wie betäubt zu Fuss zurück. Natürlich fing es irgendwann auch noch zu regnen an, aber das war mir sowas von egal.
Miriam habe ich nur noch dreimal in meinem Leben gesehen. Das erste Mal gleich am selben Tag. Sie holte ihre Sachen bei mir ab. Wir sprachen so gut wie nicht miteinander. Also ich habe es probiert, es täte mir leid und ob wir es nicht doch noch mal versuchen sollten. Ja, ich war 20, ich war verwirrt und melodramatisch und mit „Gefühle in schöne Worte fassen“ hatte ich es schon gar nicht. Miriam war tough. Ich hätte nie gedacht, dass sie so stark sein konnte. Sie schaute mich an und schwieg. Nur einmal lachte sie kurz auf. Ich fragte natürlich, was denn jetzt so komisch sei?
„Na du. Du bist ein Idiot. Ein total blöder und hässlicher Idiot. Und das wusste ich schon in diesem Moment.“
Mit diesem Satz gab sie mir ein Foto wieder, auf dem ich wirklich nicht besonders vorteilhaft aussah. Wir hatten es ganz am Anfang unserer Beziehung gemacht. Ein Selfie nach einer durchgemachten Nacht. Nachdem wir das erste Mal wirklich heftig geknutscht hatten. Es war „unser“ Foto. Ich hatte es ihr erst vor einem halben Jahr geschenkt. In einem für meine Verhältnisse ziemlich teuren Rahmen. Den gab sie mir nicht zurück.
Ein halbes Jahr später habe ich sie das zweite Mal gesehen. Beim Einkaufen in einem türkischen Gemüseladen. Dieses Mal haben wir vergleichsweise viel geredet. Vor allem sie. Ja, es geht ihr gut. Sehr gut, sogar. Sie würde jetzt nach Heidelberg gehen. Zum Studieren. Jura. Da hätte sie richtig Bock drauf, sagte sie gleich zweimal hintereinander. Richtig Bock. Dass das ewige Abhängen nach dem Abi endlich zu Ende wäre. Immer nur Party sei doch ziemlich öde.
Natürlich konnte ich mir nicht verkneifen, sie zu fragen, ob sie nicht mehr nach Neuseeland wolle, denn das war ursprünglich ihre Idee gewesen.
Vielleicht mal in den Semesterferien, sagte sie.
Und dann wollte sie wissen, ob ich denn fahren wollte? Neuseeland hätte doch jetzt die Grenzen wieder aufgemacht.
Ich sei mir im Moment nicht wirklich hundertprozentig klar, was ich machen wollte, sagte ich und tat so, als ob ich unbedingt die Qualität der Tomaten begutachten müsste.
„Hat Johanna keine Lust darauf?“
„Ich bin nicht mit ihr zusammen“, nuschelte ich, ohne den Blick von den Tomaten zu heben.
„Dann sollte es wohl einfach nicht sein“, sagte sie. Da sah ich sie endlich an und für einen langen Moment stand da eine tolle Frau mit jetzt kurzen Haaren vor mir, „es tut mir leid“, sagte ich.
„Schon gut“, antwortete sie und lächelte und dieses Lächeln gab mir einen Stich ins Herz, so stark und so wunderschön schmerzhaft, dass ich sie fast umarmt hätte.
„Es sollte einfach nicht sein“, sagte sie noch einmal „und auch wenn du und Johanna nicht zusammen gekommen seid, haben wir uns dadurch getrennt und gegenseitig viel Schmerz erspart. Alles gut so, wie es ist.“
Ein paar Sekunden standen wir halb weise, halb bekloppt lächelnd voreinander, dann sagte sie „Machs gut, Fritz“, umarmte mich kurz und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ihre Haare rochen auch kurz geschnitten wahnsinnig gut.
Das dritte Mal habe ich Miriam erst Mitte des Jahrhunderts wiedergesehen. Ich hätte sie niemals erkannt, aber sie sprach mich an. In der Metro in Rom. Sie hatte wieder lange Haare, aber sie waren weiß geworden. Wir hatten nur zwei Stationen Zeit, um die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens durchzugehen. Sie war verheiratet. Ja, einigermaßen glücklich. Sie hatten vor kurzem Silberhochzeit gefeiert. Drei Kinder, deshalb hätte sie auch nie richtig als Juristin gearbeitet, aber seit kurzem würde sie in der Kanzlei ihres Mannes mitarbeiten. Sie wären sehr oft geschäftlich in Rom, eine immer noch schöne Stadt, auch wenn die Italiener momentan gerade mal wieder kurz vorm Durchdrehen seien, aber ich wüsste ja wie das sei. Die Kanzlei hätte vor allem Klienten aus Zentraleuropa, die geschäftliche Beziehungen über Südeuropa in die Vereinigten Staaten von Afrika, haha lachte sie, das sei ja in Wirklichkeit eine chinesische Kolonie... na ja, das sei alles hochspannend und ziemlich komplex. Dass da überhaupt noch Handel möglich wäre, wundere sie manchmal. Die beiden Jungs würden studieren. Jura, der eine, Medizin der andere und ihre jüngste Tochter sei gerade für ein Jahr nach – da musste sie lachen – Neuseeland gegangen.
Kurz bevor sie aussteigen musste, sagte sie, sie hätte natürlich von meiner Tat gehört und sie hätte es zuerst einfach nicht verstanden, warum ich so etwas tun konnte, aber als sie mich im Fernsehen gesehen hätte und dann später vor Gericht, hätte sie immer gedacht, dass ich wie ein Mann gewirkt hätte, der genau das getan hatte, was er tun musste und das hätte ihr auf eine komische Art sehr imponiert.
Ja, sagte ich, das sei in etwa auch mein Gefühl gewesen.
Dann lachte sie und sagte „und mit einer Johanna bist du ja doch noch zusammen gekommen.“
Ich lächelte etwas gequält.
„Tut mir leid“, sagte sie und sah auch so aus, als ob sie es meinte. Die S – Bahn bremste ab. „Wir müssten uns unbedingt mal treffen“, sagte sie und wollte meine Handynummer wissen, aber ich hatte aus bestimmten Gründen zu diesem Zeitpunkt kein Handy und außerdem würde ich am nächsten Tag Rom Richtung Süden verlassen, also sagte ich nur „bin nur auf der Durchreise, vielleicht sehen wir uns ein ander Mal, würde mich freuen.“
„Wenn das Schicksal es will“, sagte sie und bei dem Wort musste ich wie seit Jahren immer an Brandon Ford denken. Aber weder er noch das Schicksal hatten für mich und Miriam ein weiteres Wiedersehen vorgesehen.
Kapitel 5
Als ich Miriam bei unserem zweiten Wiedersehen in dem türkischen Gemüseladen erzählt hatte, dass ich momentan nicht so hundertprozentig genau wisse, was ich wolle, war das haltlos übertrieben. Null Prozent wäre ehrlicher gewesen. Mein Abi lag ein ganzes Coronajahr hinter mir und ich hatte seitdem absolut nichts gemacht. Ich habe es natürlich auf Corona geschoben, aber mal ehrlich: Ohne die Pandemie hätte ich auch nichts gemacht. Vielleicht wären Miriam und ich nach Neuseeland gefahren. Aber da hätte ich auch nichts getan. Außer dem Zauberwort, was dem Nichtstun so einen lockeren, irgendwie doch noch aktiven Touch geben sollte: Abhängen. Und Kiffen. Mit beidem hatte ich das letzte Jahr einigermaßen rumbekommen. Das Schauspielschulschnupperwochenende hatte ich nur meiner Mutter zuliebe gemacht. Ich hatte es gehasst. All diese zwangskreativen Seelenstripteasetänzer*innen. Am schlimmsten waren die Lehrer*innen. Verklemmte Versager, die andauernd davon quatschten, dass man beim Spielen aus sich rauskommen sollte. Ich wollte nicht aus mir rauskommen. Ich wollte irgendwie mit mir klarkommen. Das war schon schwierig genug. Nach dem Wochenende habe ich meiner Mutter erklärt, dass die Schauspielerei nichts für mich wäre. Sie hat es zähneknirschend akzeptiert. Keine Ahnung warum sie unbedingt wollte, dass ich in ihre Fussstapfen treten sollte. Sie hatte doch die Zwillinge. Die hatten schon ab ihrem sechsten Lebensjahr gedreht. Zuerst hauptsächlich Werbung, aber später auch Rollen in Vorabendserien und anderen Schwachsinn. Überall wo zwei niedliche Zwillingsmädchen gebraucht wurden, waren sie zur Stelle. Aber ich tue ihnen unrecht. Jenny hat immerhin später in Hollywoodfilmen mitgespielt, bevor es mit Amerika endgültig den Bach runter ging.
Jennifer allerdings hat, nach ihrem achtzehnten Geburtstag nie wieder eine Rolle angenommen. Von einem Tag auf den anderen hat sie verkündet, sie hätte keine Lust mehr auf den substanzlosen Lügenkram. Wir waren einige Zeit zusammen auf Demonstrationen gegangen. Gegen Robert von Barkhausen und seine Partei der Mitte. Sie hat sich sehr viel schneller als ich radikalisiert und als es ab den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts los ging mit dem schleichenden Ende der Demokratie, war sie eine Zeit lang total im Widerstand gegen Von Barkhausens Partei der Mitte aufgegangen. Knapp drei Jahre vor meiner „Tat“ ist sie spurlos verschwunden. Ich glaubte damals, sie sei von Barkhausens Milizen ermordet worden, der Rest der Familie wähnte sie quicklebendig im Untergrund. Bis heute, also das 93 – jährige heute - hat nie wieder jemand etwas von ihr gehört.
Aber zurück ins Jahr 2021. Zu dem Tag, an dem ich zum ersten Mal Robert von Barkhausen sah. Also außer in dem kurzen Video, auf dem ich ihn mit einer Pistole bedrohte.
Die Zwillinge hatten in einem Tatort mitgespielt. Ernste Rollen! Meine Mutter war völlig aus dem Häuschen. Wir mussten uns den Film unbedingt zusammen anschauen. Die ganze Familie. Mein Vater mit seiner derzeitigen Freundin samt pubertierenden Sohn, Jenny und Jennifer, meine Mutter und ich – du kannst gerne jemand mitbringen – das war eigentlich als Frage gedacht, ob ich nicht vielleicht doch wieder eine Freundin hatte, aber direkt zu fragen, war nicht gerade die Stärke meiner Mutter. Wir waren die beste Patchworkfamilie aller Zeiten, aber das waren damals eigentlich alle in Hamburg Ottensen.
Meine Mutter hatte Käsespießchen gemacht. Damit hatte sie mal als eine Art nostalgischem Gag angefangen. Bei einem 50er Jahre Buffett. Zu einer Mottoparty als wir noch eine normale Familie waren. Kleine Plastikspieße mit Goudastückchen, Weintrauben und schwarzen Oliven. Seitdem ist das ihr Standard bei allen Familienfesten. Nur die Plastikspieße waren inzwischen durch hölzerne Zahnstocher ersetzt worden.
Meine Mutter war so aufgeregt, dass sie den Fernseher schon um ein paar Minuten vor acht anschaltete.
Und da sah ich ihn das erste Mal. Kurz bevor die Nachrichten anfingen. Eine Werbung für die Talkshow, die nach dem Krimi gesendet wurde. Der Tatort handelte von einem siebzehnjährigen Jungen aus wohlhabender hanseatischer Familie, der aus unerfindlichen Gründen unbedingt Mitglied eines kriminellen Clans werden wollte. Albaner oder Ägypter, auf jeden Fall Muslime. Meine Schwestern spielten die Schwestern des Jungen, die irgendwann von einem der Clanjungs entführt wurden. Ich kann mich nicht an Details erinnern, es war wie fast immer ziemlicher Schwachsinn, aber die Macher glaubten wohl ein brisantes Thema am Wickel zu haben, denn es gab hinterher eine Talkrunde zu Clankriminalität und Parallelgesellschaften. Vor der Tagesschau wurden die üblichen Verdächtigen als Talkgäste vorgestellt: Die Justizministerin, zwei Politiker*innen von FDP und Grünen und die unsägliche Alice Weidel von der AFD. Und dann er: Robert von Barkhausen. Sozialwissenschaftler und Bestsellerautor. Mehr stand da nicht. Er sah unverschämt gut aus. Und unverschämt jung. Wie ich wenig später herausfand war er zu diesem Zeitpunkt 32. In dem Moment, als ich die Einblendung mit seinem Bild sah, hatte ich mir gerade ein Käsespießchen genommen. Ich erschrak dermaßen, dass ich mir den Zahnstocher in die Unterlippe rammte. Ich schrie kurz auf und alle starrten mich an.
„Alles gut“, sagte ich schnell und wischte mir die Lippe ab. Ein paar Tropfen Blut, weiter nichts. Ich stand auf und ging zur Toilette. Dort googelte ich ihn. Da waren jetzt haufenweise Einträge. Ich hatte sicher mehrere Jahre nicht mehr nach ihm geschaut. In dieser Zeit hatte er wohl ziemlich Karriere gemacht. Er hatte in der Tat Sozialwissenschaften studiert. Mit summa cum laude abgeschlossen. Und er hatte ein Buch veröffentlicht, dass sich wohl ganz ordentlich verkauft hatte. „Mitte sucht Heimat.“ Das war der Titel. Es wurde in einer Kritik als das langerwartete wertkonservative Manifest bezeichnet, von einem anderen Kritiker wurde er „ein unglaublich smarter rechtspopulistischer Demagoge“ genannt. Er schien keiner Partei oder irgendeiner rechten Verbindung anzugehören und vor allem auf Kongressen und Tagungen der bürgerlichen Gesellschaft aufzutreten. Seit ein paar Monaten hatte er eine Kolumne in einer großen, früher eigentlich eher dem linken Spektrum zuzuordnenden Wochenzeitung. Es gab viele Fotos. Auf nahezu allen lächelte er. Und er sah wirklich symphatisch aus. Auf einigen Fotos hatte er eine schöne Frau im Arm. Seine Frau. Sie hatten wohl zwei Kinder, aber von denen gab es keine Fotos. Er hatte keine Website, war aber auf Twitter und den anderen Socialmediakanälen sehr aktiv.
Irgendwann klopfte es an der Toilettentür.
Es war Jennifer. Sie wollte wissen, ob mit mir alles in Ordnung sei.
„Aber klar“, rief ich ihr zu.
„Der Film fängt gleich an“, sagte sie. Ich machte das Handy aus und ging nach draußen.
Jennifer hatte im Flur auf mich gewartet. „Ich bin ganz gespannt“, sagte ich und versuchte zu lächeln, „Mama meint ja, ihr müsstet den Oscar kriegen.“
„Wir hatten eine gute Szene, wo wir mit den Entführern über Fussball gequatscht haben, aber die haben sie aus dem Film rausgeschnitten. Jetzt sind wir nur kurz zu sehen. Die meiste Zeit heulen wir.“
„Das ist doch toll“, sagte ich, ohne eine Ahnung zu haben, warum ich das sagte.
„Heulen ist einfach“, sagte sie, „lachen ist schwierig.“
„Aber wirst du nicht auch erschossen?“
„Erschossen werden ist das Allereinfachste“, sagte Jennifer.
Dann gingen wir ins Wohnzimmer, wo schon die Tatortmelodie erklang. Meine Mutter sah mich vorwurfsvoll an und mein Vater sagte, „Hinsetzen und Klappe halten.“
An den Film erinnere ich mich wie gesagt so gut wie gar nicht. Nur dass meine Mutter weinen musste, als die beiden Mädchen erschossen wurden.
„Ist doch nur ein Film“, sagte mein Vater.
Nach dem Tatort wurden die Mädchen überschwänglich von allen gelobt und meine Mutter machte noch eine Flasche Wein auf. Das war schon die dritte. Ohne Alkohol funktionierte die Patchworkfamilie nicht so gut.
Ich sass sehr nah am Fernseher und wartete auf die Talkshow. Mir war schlecht. Zuviele Käsespießchen. Zuviel Wein und zuviel Angst vor der Zukunft.
Die Talkshow begann und als Alice Weidel von der AFD vorgestellt wurde, stellte mein Vater den Fernseher aus. Ich protestierte, aber er sagte nur seinen Standardsatz: „Diesen Leuten darf man nichts schenken. Am allerwenigsten seine Aufmerksamkeit.“ Er war ganz gut in solchen kurzen Pointen und hatte in den letzten Jahren ein Schweinegeld mit AntiTrump - und Anti AFD – Witzen verdient.
Ich sagte, „aber da ist auch so ein junger Bestsellerautor, von Barkhausen...“
„Robby!“, schrie die Freundin meines Vaters wie ein Fan irgendeiner Boygroup.
„Noch ein Grund auszuschalten“, sagte mein Vater in ihre Richtung.
„Wieso, ist der denn auch so schlimm wie die Weidel?“, wollte ich wissen.
„Nee, der ist nur extrem gutaussehend“, sagte die Freundin.
Dann mischte sich meine Mutter ein. Sie wollte jetzt erstmal auf Jenny und Jennifer anstoßen und das Polikergequatsche würde sie sich schon ganz lang nicht mehr antun.
Ich beschloß mir die Talkshow später in aller Ruhe in der Mediathek anzuschauen und ließ mir von meiner Mutter noch ein Glas Wein einschenken. Wir stießen auf die „unglaublich begabten Charakterdarstellerinnen“ - Originalzitat meine Mutter – an und mir fiel zum ersten Mal ein wirklicher Unterschied zwischen meinen beiden kleinen Schwestern auf. Jenny genoß das Lob, aber Jennifer wirkte so, als ob es ihr peinlich sei. Wieder sagte sie, „das war doch nur ein bisschen Geheule und Heulen ist total einfach.“
„Oooh nein“, widersprach meine Mutter vehement und dann fing sie an, Anekdoten von ihren Dreharbeiten zu erzählen und es war klar, wenn sie niemand stoppte, würde es die ganze Weinflasche so weiter gehen. Mein Vater hatte wohl Lust, sich mit ihr zu streiten und schlug sich auf Jennifers Seite. Ich setzte mich neben die Freundin meines Vaters und fragte sie, ob sie das Buch von „Robby“ gelesen habe. Ich habe keine Ahnung mehr, wie sie hiess, ich glaube, mein Vater und sie waren auch nur kurz zusammen, aber sie war deutlich jünger als er.
Sie hätte es zu Weihnachten von ihren Eltern bekommen, aber erst vor kurzem gelesen. Es sei irgendwie bewegend. Ein junger Mann, der sich so viele Fragen stellt. „Ist das nicht eher ein Rechter?“, fragte ich so unbedarft wie möglich. „Nee, Robby doch nicht“, sagte sie, „also konservativ sicher, nicht wie wir alle in der irgendwie linken Ökoblase zuhause. Nee auf mich wirkt der wie ein ehrlich auf der Suche befindlicher Optimist“.
„Und wonach sucht der?“
„Na nach seiner Heimat. So heisst das Buch ja auch.“
„Mitte sucht Heimat“, korrigierte ich sie.
„Du kommst wohl nach deinem Vater“, sagte sie und lächelte mich komisch an, „der ist auch so'n Korinthenkacker.“
Dann meinte sie, dass sie es mir gerne leihen würde, aber ich sagte nur, ich würde nicht so viel lesen. Danach schwiegen wir ein paar Minuten und hörten den Anekdoten meiner Mutter und den dazwischengestreuten Sticheleien und Bonmots meines Vaters zu. Der pubertierende Sohn spielte irgendein Ballerspiel auf dem Handy, das hatte er schon während des Tatorts mehr oder weniger heimlich getan.
Das war meine Familie. Eine andere hatte ich nicht. Ich trank meinen Wein aus. Dann stand ich auf und sagte die Kabbelei meiner Eltern einfach unterbrechend. „Ich muss jetzt los“.
Mein Vater bot an, mich nach Hause zu fahren, aber davon wollte ich nichts wissen. Ich wollte so schnell wie möglich von allen weg. Ich war schon in der Tür, als Jennifer mir plötzlich nachlief und mich umarmte. „Was ist denn?“, fragte ich sie.
„Ich zeig dir gerne, wie man weint.“
„Warum denn das?“
„Du siehst so traurig aus.“
Dabei sah sie mich ganz ernst an. Meine Güte, sie war gerade elf Jahre alt geworden. Ich musste schlucken, sonst hätte ich wirklich losgeheult.
„Das sind die Nachwirkungen von dem Tatort“, sagte ich und küsste sie auf die Stirn. Dann verschwand ich und ging so schnell wie möglich nach Hause. Es war an der Zeit, mich der Zukunft zuzuwenden. Es war an der Zeit, meinen Gegner kennen zu lernen.
Kapitel 6
Ich war ein paar Wochen vorher zuhause ausgezogen und wohnte jetzt in einer WG in St. Pauli. Als ich um kurz nach Mitternacht dort ankam, waren meine beiden Mitbewohner noch auf. Sie saßen in der Küche und tranken Bier. Ich setzte mich dazu und als ich endlich in meinem Zimmer war und meinen Laptop aufklappte, um mir die Talkshow anzuschauen, wurde es draußen schon wieder hell und ich war sturzbetrunken.
Ganz sicher lag es daran, dass ich den seltsamen Eindruck hatte, dass Robert von Barkhausen nur zu mir sprach. Erst viel später merkte ich, dass er das einfach konnte. Wenn er im Fernsehen oder auf einer Versammlung redete – und ich habe ihn wirklich oft reden hören – dann sprach er immer so, dass man das Gefühl bekam, er meine mit dem, was er sagte, immer jede einzelne Zuhörer*in.
Was er in der Talkshow sagte, war im Vergleich zu seinen späteren Auftritten eher harmlos. Er frage sich schon seit vielen Jahren, was eigentlich eine Gesellschaft ausmache? Wohlstand? Sprache? Werte? Vielleicht die Dinge, die selbstverständlich sind. Wo man sich zuhause fühlt. So was wie: welche Dinge auf einen schön gedeckten Frühstückstisch gehörten? Damit man sich zuhause fühlt. „Das sei ja wohl überall unterschiedlich“, sagte die Grüne und er stimmte ihr zu - er stimmte überhaupt allen immer zu, selbst wenn er gleich danach das Gegenteil sagte. Und er frage sich, ob diese Vielfalt auf dem Frühstückstisch, um mal bei dem einfachen Beispiel zu bleiben, ob diese Vielfalt nicht auf Dauer die Welt klein mache, in der man sich zuhause fühlen kann. Also die Heimatmöglichkeiten einer Gesellschaft nicht minimiere. Daraufhin lud Alice Weidel ihn ein, bei der AFD mitzumachen. Aber da hörte er für einen Moment auf zu lächeln. „Sie von der AFD benutzen den Heimatbegriff als etwas Rückwärtsgewandtes. Ich suche die Heimat für die Zukunft. Denn wir werden sie brauchen. Aber Sie sind nicht zukunftsorientiert, deshalb danke für das freundliche Angebot.“ Jetzt lächelte er Alice Weidel wieder an und zwar auf eine Weise, dass selbst sie für einen Moment verstummte.
Irgendwann um diese Zeit bin ich eingeschlafen. Aber natürlich habe ich mir seinen Auftritt am nächsten Tag gleich nach dem Aufwachen noch einmal angesehen. Er war ein guter Redner und er gab sich wirklich ungeheuer fortschrittlich. Und antikapitalistisch. „Wenn unser Wohlstand identisch mit unserer Heimat ist, werden wir keine Zukunft haben“, das sagte er ein klein wenig abgewandelt mindestens drei mal und die Moderatorin nickte sehr von ihm und seiner Äußerung angetan. Alle, außer Frau Weidel, die wie immer beleidigt war, schienen ihn zu mögen. Er hatte einen leisen Humor und wie gesagt, er sah gut aus. Natürlich mochte er keine kriminellen Muslime, keine Zwangsheiraten und terroristische Gefährder müssten unbedingt abgeschoben werden, egal wie es in deren Heimatländern gerade aussehen würde, aber darin waren sich ja alle einig und er brachte es zudem in einem fragendlächelnden Tonfall vor, dass man es ihm total abnahm, dass er nur auf der Suche war, eben „Mitte sucht Heimat“, wie ja auch sein Buch hiess. Ich wollte etwas an ihm und seinem Gerede entdecken, was mich dazu bringen konnte, ihn in 15 Jahren mit der Pistole zu bedrohen, aber als die Sendung vorbei war, sagte ich nur leise „Scheisse“ und schaltete noch einmal das „Ding“ an. Ohne Frage, derselbe Mann, dieselbe eindringliche Stimme, dasselbe Lächeln.
„Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das.“
Es klang so, als würde er diesen Satz schon jetzt zu mir sagen.
„Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Ihr Freund?! Wann würde ich sie kennen lernen? Für einen Moment verlor ich mich in einen kitschigen und ein klein wenig sexuell aufgeladenen Tagtraum von mir und Johanna, aber dann schlief ich noch einmal für ein paar Minuten ein.
Ich wachte auf und dachte wieder an von Barkhausen. Wie konnte dieser Mann schon in wenigen Jahren die Wahlen gewinnen und in ein paar weiteren Jahren die Demokratie in Deutschland – oder Zentraleuropa, wie es dann hiess – abschaffen und zwar auf eine Art und Weise, dass die Mehrheit der Menschen glaubte, das sei überhaupt nicht geschehen?
Aus meiner heutigen Sicht ist diese Frage natürlich Quatsch. Nicht er hat das geschafft. Keine Diktatur kommt an die Macht, weil der Diktator das will. Es ist immer die Mehrheit der Bevölkerung, die es ermöglicht. Meistens aus Begeisterung über den immer gleich gedeckten Frühstückstisch. Und aus Angst, dass er irgendwann nicht mehr so reich gedeckt sein wird. Und natürlich aus Feigheit. Weil man das ganze liebgewonnene Frühstück samt Tisch und Haus drumherum verlieren könnte.
Bei unserem ersten Treffen in dem Teehaus in Sri Lanka habe ich Brandon Ford die Frage gestellt, wie von Barkhausen so schnell an die Macht kommen konnte, obwohl doch zu dieser Zeit die meisten Menschen in Deutschland für die Demokratie waren? „Selbst wenn ihr Menschen doch so etwas wie eine Entscheidungsmöglichkeit hättet“, sagte er, „und du weisst, das habt ihr nicht: Ihr würdet immer das wählen, was bequemer für euch ist, das Vertraute dem Fremden vorziehen, euer Brötchen mit Marmelade dem undefinierbaren und ein klein wenig für eure Nasen streng riechenden Brei, und euer prall gefülltes Bankkonto würdet ihr für euer selbstverständliches Recht auf ein klein bisschen Sicherheit halten. Und so scheint es euch immer folgerichtig, die zu ermächtigen, die euch versprechen, dass das so bleibt. Aber nur damit du mich nicht falsch verstehst: das war und ist auf der ganzen Welt so, nicht nur in deinem piefigen Zentraleuropa.“
Ich gebe Brandon Ford aus verschiedenen Gründen nicht gerne Recht, aber in diesem Falle blieb mir nichts anderes übrig. Selbst 2021 gab es genug Beispiele für diesen Mechanismus. Genug Mächtige in der ganzen Welt, die von einer großen Mehrheit gestützt wurden, die genau diese Art von Herrschaft haben wollte. Oder die einfach nur zu bequem waren. Und zu ängstlich. Und zu feige.
Nachdem ich die Talkshow zu Ende gesehen hatte, stand ich auf und schlurfte in die Küche. Meine beiden Kumpels sassen da schon bei Kaffee und frischen Brötchen. Ich setzte mich dazu. Die beiden wollten wissen, warum ich mir denn so früh morgens schon so eine langweilige Talkshowscheiße antun würde? Ich erzählte da sei so ein rechter Intellektueller aufgetreten, der sei echt gefährlich.
Sie hatten noch nie von ihm gehört. Und sie fragten auch nicht wirklich nach. Also redeten wir bald über Fußball und als der Kaffee leer getrunken war, holte ich drei Bier aus dem Kühlschrank und sagte, „man soll ja da weiter machen, wo man aufgehört hat.“
Am nächsten Tag wachte ich früh auf und fühlte mich beschissen. Schwerste Kopfschmerzen, ein Magen wie mit porösen Kieselsteinen gefüllt. So durfte das nicht weitergehen. Ich blieb im Bett liegen und nahm mir mein Handy. Von Barkhausens Auftritt war ne große Nummer auf allen Kanälen. Er hatte von allen Parteien Zustimmung bekommen, auch wenn niemand außer der AFD ihm direkte Mitarbeit angeboten hatte. Ich klickte mich durch eine Menge Kommentare und die waren viel radikaler als seine fragende Suche nach Heimat. Wie immer tobten sich die Idioten aus. Und von Barkhausen schien durch seinen Auftritt zum neuen Idol aller Idioten geworden zu sein. Was hatte ich da nur nicht mitbekommen?
Die Kieselsteine in meinem Magen schwammen jetzt in einer ätzenden Flüssigkeit. Ich stand gerade noch rechtzeitig auf, um es bis zum Klo zu schaffen.
Nachdem ich sauber gemacht hatte, duschte ich kalt, zog mich an, nahm eine Aspirin und setzte mich an den Küchentisch. Meine Kumpels waren beide zur Arbeit. Anscheinend vertrugen sie deutlich mehr als ich. Mir war nicht mehr schlecht, aber seltsam dumpf. Minutenlang starrte ich auf eine Ecke in der Küche. Altpapierstapel und unser Mülleimer mit dem FUCKNAZI Aufkleber. Da gab es nichts Besonderes zu entdecken. Ich hatte einen Kloß im Hals. Atmete schwer, obwohl ich mich in den letzten Minuten keinen Zentimeter bewegt hatte.
Ich dachte an die weinende Johanna in der Garderobe, ich dachte an die weinende Miriam an der Elbe und ich dachte an meine kleine Schwester Jennifer, wie sie mich gestern abend plötzlich umarmt hatte. Ich nahm mein Handy und schrieb ihr eine Nachricht: „Kannst du mir das Heulen beibringen?“
Zwei Minuten später hatte ich die Antwort: „Atme tief ein. Zieh den Rotz hoch, reib dir die Augen und halt die Luft so lange an, bis du nicht mehr kannst, dann atme alles auf einmal aus.“
„Danke“, schrieb ich zurück.
„Hast du was?“
„Nein, alles gut.“
„Warum willst du dann heulen?“
„Ich hab mit jemand gewettet, dass ich in 10 Sekunden aus dem Stand heulen kann.“
„Na dann viel Glück.“
Ich trank noch einen Schluck Kaffee. Dann atmete ich tief ein. Zog den Rotz hoch und rieb mir die Augen.
Mir wurde wieder schlecht. Noch einen Schluck Kaffee, dann wiederholte ich die Prozedur. Dieses Mal schaffte ich es. Ich hielt die Luft an, bis mir fast schwarz vor Augen wurde, dann atmete ich aus.
Ein halbgarer Seufzer war alles, was ich produzierte. Es half nichts. So ging es nicht weiter. Wenn ich nicht wollte, dass von Barkhausen und seine versammelten Idioten die Macht übernehmen würden und vor allem, wenn ich nicht in 15 Jahren mit einer Knarre vor ihm stehen wollte, dann müsste ich wohl oder übel versuchen, mit der Bequemlichkeit aufzuhören, mit der Ängstlichkeit und mit der Feigheit.
Kapitel 7
Die nächsten 8 Jahre verbrachte ich mit genau diesem Versuch und um es gleich vorwegzunehmen: Ich war nicht sonderlich erfolgreich. Ich habe Politikwissenschaft studiert. Ich dachte, dass würde mir helfen, die Mechanismen zu verstehen, wie von Barkhausen an die Macht kommen könnte, aber während ich mehr oder weniger intensiv studierte, gründete er seine Partei der Mitte und erreichte gleich bei den ersten Wahlen ein Ergebnis von mehr als 20 %. Aber das hatte die AFD ja vorher auch schon in einigen Bundesländern locker geschafft. Nicht dass ich mich gar nicht engagiert hätte. Einige Zeit arbeitete ich bei Humans Right Watch mit, natürlich bei Fridays for Future, obwohl ich mir da schon zu alt vorkam, mit ein paar Kommiliton*innen wollte ich später eine eigene Organisation gründen, die sich gegen die Partei der Mitte direkt engagierte, aber über ein paar Sitzungen in einer Kneipe kamen wir nicht hinaus. Und so ging es mir mit meinem Engagement fast überall. Ein paar Mal ging ich zu irgendwelchen Treffen, auf Demos, Lichterketten und Trauermärschen, wenn zum Beispiel wieder irgendwo ein Flüchtlingslager in Flammen aufgegangen war. Natürlich suchte ich bei diesen Gelegenheiten immer nach Johanna und ich traf auch immer wieder Frauen dieses Namens, aber es war nie die aus dem Video. Ich hätte mir das damals nicht eingestanden, aber meine eigentliche Motivitation, mich auf die eine oder andere Weise politisch zu engagieren, war die Suche nach Johanna. Betrat ich zum ersten Mal einen Raum, in dem sich eine Initiative gegen Rechts oder eine Organisation zur Unterstützung der Pressefreiheit traf, war ich immer seltsam aufgeregt. Als ob ich zu einem Date gehen würde. Ich scannte die Frauen auf eine Ähnlichkeit mit dem weinenden Gesicht ab und wenn auch nur die kleinste Chance auf einen Treffer bestand, bekam ich innerhalb von Minuten ihren Namen raus und wenn sie wieder Lara, Maria oder Julia hiess, erlosch mein Interesse an ihr sofort. Da konnte sie noch so klug, engagiert, nett oder hübsch oder alles auf einmal sein. Hin und wieder kam es trotzdem zu kleinen Flirts, aber außer ein paar Onenightstands hat sich nichts daraus ergeben. Oder um es ehrlicher zu formulieren: Habe ich nichts zugelassen. Johanna würde ja irgendwann kommen. Und warum sollte ich dann einer Lara, Maria oder Julia Aufmerksamkeit schenken, oder Zuneigung, von Liebe ganz zu schweigen?
Und so war es auch mit meinem politischen Engagement. Ich wollte einerseits die Machtübernahme von Robert von Barkhausens Partei der Mitte verhindern, aber ich wusste andererseits, dass es mir nicht gelingen würde. Ich hatte keine Chance. Die Zukunft stand fest. Ich hatte nichts zu entscheiden. Dafür brauchte ich keinen Brandon Ford.
Ich unternahm zwei mehr oder weniger halbherzige Versuche, meinem Schicksal zu entrinnen. Das erste war an Silvester 2022. Ich hatte mir vorgenommen, ab jetzt nicht mehr an die Vorbestimmtheit meiner und unserer aller Zukunft zu glauben und hatte deshalb um halb drei Uhr nachts angefangen, allen auf der Party befindlichen Menschen den Maskensmileypulli aufzudrängen, aber natürlich wollte niemand das Monstrum haben. Um 10 nach drei ging ich mit dem festen Vorsatz, ihn und damit die Zukunft samt Robert von Barkhausen und der Republik von Zentraleuropa und der in Endlosschleife weinenden Johanna zu vernichten auf den Balkon, aber da stand dann eine Lara, Maria oder Julia, ich weiß es wirklich nicht mehr und sie war furchtbar nett und sie mochte den Pulli und laberte mich voll, den dürfte ich keinesfalls verbrennen, vor allem nachdem ich ihr erzählt hatte, dass es ein Geschenk meiner Mutter war. Ja und dann habe ich ihr erzählt, dass das Ding mir einfach kein Glück brachte, dass meine Freundin sich am nächsten Tag, nach dem ich den Pulli bekommen hatte, von mir getrennt hätte und dass ich mich seitdem nicht mehr verliebt hätte.
Dabei muss ich sie wohl komisch angeschaut haben, jedenfalls knutschten wir eine halbe Stunde später heftig miteinander und der Pulli lag ein paar Tage vergessen auf dem Balkon herum. Ende Januar war es mit Laramariajulia schon wieder vorbei und ich versteckte den Pulli ganz tief in meinen Kleiderschrank.
Der zweite Versuch war der Plan einer Reise nach Sri Lanka. Den Luna Tower finden. Brandon Ford aufsuchen und ihn fragen, woher er sich das Recht anmaßt, meine Zukunft zu kennen?
Aber wie das Wort Plan schon mehr als andeutet: Ich fuhr nicht nach Sri Lanka. Ich kannte niemand, der mit mir gefahren wäre und alleine wollte ich nicht: Zu bequem. Zu ängstlich. Zu feige.
Ganz klar: Ich war einsam. Ich war unzufrieden. Ich war ängstlich. Ich war feige. Aber hätte mich jemand damals angesprochen und direkt gefragt, wie es mir ginge: Alles gut. Alles easy. Warum fragst du? Ganz o.k. Und dir?
Und so war es in diesen Jahren ja auch politisch: Ganz o.k. Nicht wirklich alles gut und schon gar nicht easy. Aber ganz sicher ganz o.k., also für uns, für mich und meine Kumpels und Kommiliton*innen, allen Laras, Marias und Julias, meinen Eltern und ihren Freund*innen aus der Kultur – und Medienbranche. Corona war vorbei und wir hatten alle immer noch unsere priviligierte Nische in der Welt, die sich ziemlich rasant, aber für uns immer noch auf eine irgendwie unmerkliche Art, veränderte. Die Gewalt gegen demokratische Einrichtungen wurde häufiger und heftiger, in immer mehr demokratischen Ländern gab es Verfassungsänderungen, die die Pressefreiheit einschränkten. Die Justizorgane verloren stückchenweise ihre Unabhängigkeit und in einem Land nach dem anderen wurden Änderungen an den Wahlgesetzen vorgenommen, die immer nur das eine Ziel hatten: Die Macht derer zu sichern, die gerade an der Macht waren. Die Europäische Union hatte, um sich selbst zu erhalten, die ursprünglich noch als undemokratisch geltenden Veränderungen vieler Länder in immer abstruseren Konstruktionen akzeptiert und sich damit jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt. Und trotzdem drohte ein Staat nach dem anderen, aus der Gemeinschaft zu verschwinden.
Den großen weltweiten Technologiekonzernen ging es nach wie vor blendend. Die Menschen liebten ihre Handys. Sie waren ihr Zugang zur Welt. Ihre Sicht auf die Welt. Sie ersetzten längst die reale Welt. Bilder. Worte. Meinungen. Haltungen. Werte. Die Welt war gleichzeitig unendlich groß und sehr sehr klein geworden. Und so sah es am 12. Februar 2028, dem achtzehnten Geburtstag der Zwillinge in meiner kleinen Welt aus: Alles gut. Alles easy. Warum fragst du? Ganz o.k. Und dir?
Kapitel 8
Meine Mutter hatte zusammen mit den beiden eine Riesenparty geplant. Über 100 Gäste. Da platzte selbst unsere fette Ottenser Altbauwohnung aus allen Nähten. Mein Vater war natürlich da, samt derzeitiger Freundin. Er wechselte sie alle paar Jahre, so dass er zwar älter, aber die Freundinnen immer ungefähr Anfang 30 blieben. Die derzeitige hatte einen 5 jährigen Sohn, den sie ebenfalls mitgebracht hatte, samt dem dazugehörigen Erzeuger. Patchwork at its best. Ebenfalls eingeladen waren natürlich Jennys und Jennifers Schulfreund*innen und vor allem jede Menge Medienleute. Schauspieler*innen, Castingagent*innen, Drehbuchautor*innen und auch ein oder zwei allerdings nicht mehr wahnsinnig angesagte Regisseur*innen. Meine Mutter war selbst nicht mehr sonderlich gut im Geschäft, wie die meisten Schauspieler*innen über 50. Die Heideklinik war vorletztes Jahr endgültig eingestellt worden, aber Frau Dr. Kessler musste schon drei Jahre vorher einen tränenreichen Serientod sterben. Meine Mutter behauptete standhaft, dass sie sowieso nicht mehr gewollt hätte, aber das glaubte ich ihr nicht. Die Angebote wurden immer weniger, inzwischen drehten die Zwillinge mehr als sie. Aber meine Mutter war eine Kämpferin. Deshalb hatte sie nahezu alle für sie wichtigen Leute eingeladen. Offiziell natürlich für die Karriere ihrer Töchter – ich muss doch niemand und nichts mehr beweisen -, sagte sie im Vorfeld mehr als einmal und dass sie viel lieber endlich wieder Theater spielen wollte, was ich ihr ebenfalls nicht glaubte, aber auch von dieser Seite kamen keine Angebote.
Ich hatte kurz zuvor mein Studium endgültig abgebrochen und jobbte wie schon die Jahre zuvor in einem angesagten Bioladen, der vor kurzem bereits die 4.te Filiale aufgemacht hatte. Ich hatte da als Aushilfsverkäufer und Regaleinräumer in den Semesterferien angefangen und war jetzt beinahe für den gesamten Einkauf zuständig. Von welchem Müsli wieviel Portionen zu welchem Zeitpunkt und solche Sachen. Das machte mir Spaß und irgendwie hatte ich ein Händchen dafür. Die meiste Zeit saß ich am Computer, schrieb Mails oder telefonierte mit den Lieferanten. Es war eine gute Arbeit, die mich weder über – noch unterforderte und die Frau, der die Läden gehörten, war sehr zufrieden mit mir. Geld verdiente ich nicht übermäßig, aber ich brauchte auch nicht viel. Trotzdem war ich der Meinung und kommunizierte das auch so, dass ich das nur so für den Übergang machen würde. Ich wäre mir noch nicht richtig klar, aber ich würde mich bald eher im politischen Bereich sehen. Soziale Kampagnen machen oder doch bei einer NGO anfangen. Sowas eben. Ich glaubte mir selbst. Alles gut, alles easy, genau.
Kurz vor der Party saß ich noch in meinem kleinen Büro über dem größten der 4 Biomärkte. Es hatte ein ziemliches Problem mit einem der vielen Fairtradelabels gegeben. Anscheinend hatten sie ihre eigenen Standards nicht wirklich ernst genommen und waren jetzt in mehreren afrikanischen Ländern rausgeschmissen worden. Das war die Zeit kurz bevor sich diese Länder zu den Vereinigten Staaten von Afrika zusammentaten.
Wir mussten entscheiden, ob wir den Kaffee und die Schokoladen aus dem doch nicht so Fairtradelabel im Sortiment behalten wollten oder nicht. Ich hatte erst kurz zuvor größere Mengen geordert, weil unsere Kundschaft das Zeug wie blöd gekauft hatte, aber jetzt brach in unserer Handywelt ein Shitstorm los, also tendierte ich zur Schadensbegrenzung und meinte, wir können das Zeug doch medienwirksam an eine der vielen Obdachlosentafeln verschenken, anstatt uns der Gefahr auszusetzen, in den Sog dieses Betrugsskandals zu geraten. Aber meine Chefin fürchtete den finanziellen Verlust und war der Ansicht, dass dahinter doch wie immer die Chinesen stecken würden, die ja mit ihrem vielen Geld in nicht einmal zwei Jahren alles kaputt gemacht hätten, was wir uns in zwei Jahrzehnten gemeinsam mit den Afrikanern aufgebaut hätten und so zogen sich die Beratungen ziemlich hin. Die Party sollte um 20.00 beginnen und um 10 vor acht saß ich immer noch in dem Büro und redete mir den Mund fusslig. Als ich zum x.ten Mal auf mein Handy schaute, fragte mich eine Pushnachricht: Wird Von Barkhausen der nächste deutsche Bundeskanzler? Anscheinend hatten Beratungen zwischen seiner Partei der Mitte und zwei kleineren Parteien ergeben, dass diese zur nächsten Bundestagswahl ein Bündnis schmieden wollten und dem wurde in ersten Umfragen eine deutliche Mehrheit vorhergesagt.
„Was ist denn los?“, wollte meine Chefin wissen, „du bist ja ganz blaß geworden?“
„Ach nur wieder der unsägliche von Barkhausen“, sagte ich und schlug vor, dass wir unsere Entscheidung vertagen sollten, da ich jetzt wirklich mal los müsste.
Sie stimmte mir zu und wir verabredeten uns für den nächsten Morgen. Um 10.00 sollte ich mit einem schlüssigen Konzept auftreten, wie wir die größten Verluste vermeiden konnten und bei aller Liebe, ich solle das Geschenkmodell vergessen, wir könnten uns das im Moment einfach nicht leisten.
Als ich schon in der Tür stand, fragte sie mich noch, was denn mit von Barkhausen schon wieder sei? „Ach der wird der nächste Bundeskanzler“, sagte ich und erklärte ihr kurz, was ich gelesen hatte.
„Den wählt doch niemand“, sagte sie.
„Über 20 % haben das schon getan.“
„Ja aber vielmehr wird das einfach nicht werden. Soviele Idioten gibt das bei uns einfach nicht“, sagte sie und lachte.
„Wenn du dich da nicht irrst“, sagte ich und verließ ebenfalls lachend den Laden.
Als ich endlich bei meiner Mutter ankam, war die Party längst in vollem Gange. In der Küche stand ein Riesenbüffett, das schon zur Hälfte leer gegessen war und im Wohnzimmer drängelten sich die Medienleute um meine Eltern. Die Zwillinge hatten ihre Zimmer im hinteren Teil der Wohnung und da waren alle ihre Freund*innen. Ich gratulierte Jenny und überreichte ihr mein Geschenk. Sie bedankte sich, wirkte aber überhaupt nicht in Feierlaune. Ich fragte sie, wo ihre Schwester sei, aber sie tat so, als ob sie meine Frage nicht gehört hätte und verschwand zwischen ihren Freund*innen.
Also kämpfte ich mich zu meiner Mutter durch, die ebenfalls merkwürdig angespannt wirkte. Normalerweise genoß sie solche Gelegenheiten und war immer eine phantastische Gastgeberin. Als sie mich sah, gab sie mir ein Zeichen, ich solle zurück auf den Flur gehen. Sie würde gleich nachkommen.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie kam. Sie dirigierte mich in mein ehemaliges Zimmer, dass sich inzwischen in ein kleines Jogastudio verwandelt hatte. Sie schloß die Tür und in dem Moment fiel die Gastgeberinrolle komplett von ihr ab und ich erschrak.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie. Sie atmetete schwer und kämpfte einen Moment mit den Tränen.
„Wo ist Jennifer?“, fragte ich. Meine Mutter atmetete noch einmal schwer. Dann erzählte sie. Jennifer wäre schon den ganzen Tag so merkwürdig drauf gewesen. Total schweigsam und schlecht gelaunt. Die meiste Zeit saß sie in ihrem Zimmer und arbeitete irgendwas am Computer. Jenny sagte nur, sie hätte keine Ahnung, was mit ihr los sei.
Eine Stunde bevor die ersten Gäste kommen sollten, kam sie wohl endlich aus ihrem Zimmer. Sie müsse mit uns reden. Ob das denn unbedingt jetzt sein müsse, wir hätten noch soviel vorzubereiten, aber sie meinte, es ginge leider nicht anders. Sie wisse schon, dass es furchtbar schlechtes Timing sei und sie würde sich damit auch richtig beschissen fühlen, aber nachher würden die ganzen Fernsehleute kommen und dann würden alle über die Serie reden, die ihnen vor kurzem angeboten worden war. Zwillingsmädchen auf einem Reiterhof, die aber nicht wissen, dass sie Zwillinge sind. Der völlig unnötige x.te Aufguss vom „doppelten Lottchen“, aber meine Mutter war der Meinung, dass das der endgültige Durchbruch für die beiden werden würde.
Jennifer stand in der Küchentür und machte eine Pause. Meine Mutter meinte, den Kampf in ihren Augen sehen zu können, den sie gerade mit sich selbst ausfechten würde, aber Jennifer hat mir später erzählt, dass sie Zahnschmerzen gehabt hätte und deshalb wäre ihr Gesichtsausdruck wohl etwas verzerrt gewesen. Im Gegenteil, meinte sie, nachdem sie sich entschieden hatte, war ihr ganz leicht ums Herz gewesen.
Und die Entscheidung war, dass sie die Reiterhofserie nicht machen würde, dass sie überhaupt mit dem Drehen aufhören würde. Das hätte ihr alles viel zu wenig Substanz.
„Substanz!“, sagte meine Mutter zu mir und legte soviel Verachtung in die Aussprache dieses Wortes, wie sie nur konnte. „Als ob es beim Fernsehen jemals um Substanz gegangen ist.“ Aber Jennifer hätte gar nicht darüber reden wollen. Sie hätte nur ihre Entscheidung verkündet. „Wie ein auswendig gelerntes Statement“, sagte meine Mutter. Das einzige, was nach dem Hammer mit der Absage wegen der Substanzlosigkeit noch kam, war, dass sie jetzt leider los müsse, sie hätte noch ein Meeting wegen der Vorbereitung zu einer Demo gegen von Barkhausens Kanzlerpläne. Sie wünsche allen eine schöne Party und würde sicher später noch dazu stoßen. Dann wandte sie sich direkt an ihre Schwester und sagte: „Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht anders“ und verließ Küche und Wohnung.
Meine Mutter stand in diesem Moment so trostlos auf ihrer Jogamatte, dass ich sie einfach in den Arm nehmen musste. Ich tat das und sie weinte an meiner Schulter. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich, dass meine Mutter weinte. Weil ihre erwachsene Tochter keine verlogene Kitschserie spielen wollte. „Das wird schon wieder“, sagte ich.
Die Party war dann genau so, wie solche Partys immer waren. Irgendwo lief laute Musik, obwohl kaum jemand tanzte. Wegen der Lautstärke ähnelten die Gespräche eher einem gegenseitigen Anschreien, was den Lärmpegel noch einmal erhöhte. Alle tranken sehr viel und alle hatten viel Spaß. Ich versuchte mit Jenny zu reden, aber sie ging mir standhaft den ganzen Abend aus dem Weg. Meine Mutter hatte sich schnell wieder im Griff und flirtete mit der Hälfte ihrer männlichen Gäste, mein Vater stritt sich den halben Abend mit seiner Freundin, weil die ihren 5 – jährigen Sohn partout nicht im Jogastudio ins Bett legen wollte. In der Küche standen wie immer die meisten Leute und tauschten sich gegenseitig darüber aus, was ihre Handys ihnen in den letzten 24 Stunden an Einsichten beschert hatten.
Jennifer schien niemand zu vermissen. Auf jeden Fall redete niemand über sie. Ich stand die meiste Zeit in der Küche in der Nähe des Buffetts. Dippte abwechselnd Weißbrot in eine ziemlich heftige Aioli oder nahm einen von meiner Mutters Käsespießchen. Dazu trank ich ein Bier nach dem anderen und verschwand alle halbe Stunde einmal zum Rauchen auf den Balkon.
Gegen Mitternacht ging in der Küche eine Diskussion über Politik los. Diskussion ist vielleicht der falsche Ausdruck. Es war mehr ein abwechselndes Halten von Kurzvorträgen. Oft rauschten auch zwei oder drei Vorträge gleichzeitig durch die Küche, so dass nichts mehr zu verstehen war, aber das machte niemand etwas aus, weil wir alle sowieso dieselbe Sicht auf die Welt unserer Handys hatten. Man fand die Entwicklung der politischen Lage irgendwie bedrohlich, aber war sich auch einig, dass es nicht wirklich schlimmer werden würde, weil es doch genug Menschen gab, die wie man selber dachten. Dann gab es die etwas pessimistischeren Beiträge, vor allem in Bezug auf den Klimawandel, der müsse doch jetzt endlich mal gestoppt werden, andere fanden, da wäre in den letzten zehn Jahren doch schon ne ganze Menge passiert. Nur weil du dir schon vor 5 Jahren einen dicken Tesla geleistet hast und außerdem seien doch die Batterien immer noch umweltschädlicher als ein sparsamer Benziner. Und ob wir denn wüssten, dass in Grönland der Eisschild in den letzten zehn Jahren über 7,23 Billionen Tonnen Eis verloren hat. 7,23 Billionen Tonnen!!! Alle nickten besorgt, als hätten sie eine Vorstellung davon, wieviel das sein könnte. Nahezu alles wurde in Windeseile durchdekliniert: Die Verschandelung der Landschaft durch die viel zu vielen Windräder, der immer weiter herausgezögerte Kohleausstieg, die Stagnation der Wirtschaft seit beinahe 3 Jahren, aber auf was für einem Niveau, die Gefahr durch die Immobilienblase, aber andererseits ist die Eigentumswohnung natürlich jetzt ordentlich was wert. Ja und zuguterletzt auch noch der Lieblingsfeind des aufgeklärten Stadtbewohners in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts: die industrielle Landwirtschaft. Unser Landschaftsverbrauch durch das andauernde Steakessen. Du musst das gerade sagen, ich hab dich doch neulich bei Mac Doof gesehen! Da hätte er plötzlich so einen Heißhunger gehabt und außerdem, der Mensch sei nun mal evolutionstechnisch ein Carnivor, sonst hätten wir ganz andere Zähne, und dann schossen sich alle auf die Überbevölkerung ein, das sei doch nun mal das Hauptproblem, wir sind einfach zu viele, ja vor allem hier in der Küche, ob man nicht langsam mal tanzen wolle?
Daraufhin verschwanden die Frauen aus der Küche und es blieben außer mir nur noch 4 Männer übrig. Drei so zwischen 50 und 60, der vierte vielleicht in meinem Alter. Der schoss sich langsam auf von Barkhausen ein. Alle waren sich einig, dass der unbedingt verhindert werden müsste und das würde auch geschehen, aber der Älteste fand, dass er in manchen Dingen ja nicht völlig daneben liege. Hoho, da regten sich die anderen aber richtig auf und dann legte der andere nach: Die Frauenfeindlichkeit der Islamisten! Da waren sich alle einig, dass das in keinem Falle zu tolerieren sei, aber deshalb könne man von Barkhausen doch in keinem Fall wählen und natürlich müsse man die Flüchtlingsproblematik nach wie vor in den Herkunftsländern lösen und so weiter und so weiter...
Ich kam gerade wieder von einer meiner Rauchpausen vom Balkon zurück, als einer der Männer mit einem verschwörerischen Unterton sagte, dass sich das von Barkhausen – Problem ja unter Umständen auch von alleine erledigen würde. Vielleicht würde sich ja irgend ein „Verrückter“ erbarmen , er deutete dabei Anführungszeichen um das Wort „Verrückter“ an - und den Möchtegerndiktator aus der Welt ballern. „Den würde ich sofort für den nächsten Friedensnobelpreis vorschlagen“, sagte ein anderer und darüber lachten sie sich alle kaputt.
Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte mich besser im Griff haben sollen. Ich hätte nicht so viel Bier trinken sollen. Ich hätte einfach früh nach Hause gehen sollen. Oder wie blöd tanzen. Irgendwas anderes, als mir das Gelaber die ganze Zeit anzuhören und zu schweigen. Aber hinterher ist man immer schlauer.
„Ihr kotzt mich sowas von an, ihr selbstgerechten Arschlöcher“, sagte ich plötzlich. Sehr laut und ein wenig lallend. „Ihr tut nichts außer Scheiße reden und dann sollen andere auch noch für euch die Arbeit machen.“ Immerhin habe ich nicht in der ersten Person gesprochen, aber ich war sehr kurz davor, mich als zukünftigen Attentäter und damit Retter der westlichen Welt und Friedensnobelpreisträger in spe zu offenbaren. Die Männer waren einen Moment vor Verblüffung auf stumm gestellt und zu meinem Glück kam in diesem Moment Jennifer in die Küche.
„Da bist du ja“, lallte ich und fiel ihr um den Hals. „Alles Gute zum Geburtstag und herzlich willkommen in der beschissenen Welt der wie immer alles besserwissenden Erwachsenen.“
„Du bist ein bisschen betrunken“, sagte sie und löste sich von mir.
Die vier Männer starrten mich an.
„Was war das denn eben?“, wollte der wissen, der den Knaller mit dem Friedensnobelpreis gemacht hatte.
Ich hätte ihm am liebsten einfach in die Fresse gehauen, aber Jennifer nahm meine Hand und sagte zu den Männern, „mein Bruder ist ein bisschen betrunken“ und zu mir „vielleicht entschuldigst du dich besser mal“.
„Tut mir leid“, nuschelte ich. „Ich konnte euer Gelaber einfach nicht mehr ertragen.“
„Musst ja nicht zuhören“, sagte der eine, lachte aber.
„Das macht er jetzt auch nicht mehr“, sagte Jennifer und schob mich auf den Balkon.
Dort sassen wir ungefähr die nächsten zwei Stunden. Jennifer holte eine Wolldecke und zwei dicke Pullover. Langsam wurde ich wieder nüchtern. Ich erzählte ihr, dass ich das unreflektierte Geschwätz der 4 Männer einfach nicht mehr ausgehalten hätte. Jennifer meinte, dass das nicht wirklich unreflektiert sei, nachdenken würden wir alle schon, jeder halt so gut wie er könnte, wir seien nur alle so – sie suchte lange nach dem richtigen Wort – so satt, so substanzlos. Da musste ich lachen und erzählte ihr, wie unsere Mutter sie vorhin nachgemacht hatte. Jennifer lächelte etwas verquält, dann sagte sie, „ich habe mich bei beiden entschuldigt“.
„Warum das denn?“, wollte ich wissen.
„Die ganze Aktion war ziemlich arrogant von mir und dann auch noch so kurz vor der Party und das beste war dann auch noch einfach wegzulaufen und den beiden keine Chance zu geben, mir irgendwas dazu zu sagen. Also das hatte überhaupt keine Substanz von mir. Mama ist auch noch ganz schön sauer, aber wie immer behält sie das lieber für sich.“
„Und deine Schwester?“, fragte ich?
„Jenny ist die größte“, sagte sie und strahlte. „Sie hat gesagt, es wäre höchste Eisenbahn, dass wir endlich mal verschiedene Sachen machen würden, also solle ich mal schön die Welt retten und sie würde ordentlich Kohle mit dem substanzlosen Reiterhofkitsch verdienen.“
„Das freut mich, dass ihr euch wieder vertragt“, sagte ich. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Unter der Decke eng aneinander geschmiegt, schwiegen wir ein paar Minuten. Dann fragte meine kleine – meine sehr große, achtzehnjährige Schwester plötzlich, ob ich sie mal ganz fest drücken könne?
Ich nahm sie in den Arm und sagte, es sei doch jetzt alles gut.
„Ja“, sagte sie, „aber ich hab manchmal so eine Angst“.
„Aber wovor denn?“
„Vor der Zukunft“, sagte sie.
„Ich pass auf dich auf“, sagte ich und drückte sie noch fester.
Kapitel 9
Und dieses „ich pass auf dich auf“, meinte ich in diesem Moment todernst. In den nächsten 4 Jahren bis zu ihrem endgültigem Verschwinden habe ich wirklich alles in meiner Macht stehende versucht, um diesen Satz auch in die Tat umzusetzen. Aber was heisst schon „in meiner Macht stehend“? Brandon Ford würde mich wahrscheinlich etwas höhnisch angrinsen, wenn er das hören würde, denn seiner Meinung nach habe ich keine Macht. Nicht über meine Zukunft und schon gar nicht über die Zukunft von anderen Menschen.
Natürlich sah ich mich immer wieder mit der Knarre in der Hand in von Barkhausens Garderobe stehen, aber was an dieser Tat, wie immer sie auch ausgehen sollte, könnte bedeuten, dass ich auf Jennifer aufpasste?! Nichts. Überhaupt nichts.
Und genauso endeten im Grunde alle meine Versuche auf meine Schwester aufzupassen.
Ich ging mit ihr zusammen auf Demos, aber wenn die Wasserwerfer zum Einsatz kamen, war ich meistens schon wieder zuhause oder hatte sie kurz vorher im Durcheinander der immer härter werdenden Polizeieinsätze aus den Augen verloren. Sie tauchte dann spät in der Nacht bei mir auf. Völlig durchnäßt, die Augen vom Reizgas geschwollen und immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt, weil sie das Pfefferspray auch noch eingeatmet hatte. Aber sie hat sich nicht beklagt. Niemals. Sie saß in meiner Küche, trank ein Bier und plante schon die nächste Aktion. Meine Schwester kam nach meiner Mutter, sie war eine Kämpferin, aber wer bei dem Wort Kampf an Steinewerfen, Autosanzünden oder ähnliche Aktionen denkt, liegt komplett falsch. Jennifer war wie so viele andere bei den Demos in diesen Jahren immer weiß gekleidet und ihr Widerstand war strikt gewaltlos.
Aber das nützte ihr nichts. Anfang der 30er Jahre hatte das Aktionsbündnis, in dem wir beide mitarbeiteten zu den sogenannten weißen Nächten aufgerufen. Es ging um ein ganzes Bündel von Gesetzesänderungen, die von Barkhausens Regierung plante, die die Grundrechte der Bürger*innen wie Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Pressefreiheit in sogenannten von der Regierung auszurufenden Notstandsituationen extrem einschränkte. Diese Gesetze trugen auf ihre Weise massiv zum Ende der Demokratie bei, aber natürlich sagte das damals niemand aus der Regierung. Um dieses Schweigen zu brechen, auf die Gefahren aufmerksam zu machen und diese Notstandsgesetze zu verhindern, riefen wir zu den Weißen Nächten auf. In allen Großstädten sollten in den Abendstunden beginnende Demonstrationen stattfinden, die überall in kleinere Aktionen und möglichst die ganze Nacht andauernden Straßenfeste münden sollten. Diese weißen Nächte gingen aber als rote Nächte in die Geschichte ein, wegen des vielen Blutes, dass in diesen drei Tagen vergoßen wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es weit über 100 Tote in ganz Deutschland und natürlich wurden die Notstandsgesetze kurz darauf verabschiedet und galten samt ihren noch weitaus schärferen Nachfolgegesetzen ab da für viele Jahre. Um es kurz zu sagen: Diese Nächte waren der Anfang vom Ende. Und auch damals passte ich nicht auf Jennifer auf.
Wir waren am Spätnachmittag zusammen losgezogen, in unseren weißen Outfits. Niemals in meinem Leben habe ich einen schöneren Menschen gesehen als Jennifer in dieser ersten weißen Nacht. Natürlich war sie auch an normalen Tagen eine wunderschöne Frau von gerade mal 20 Jahren. Und sie hatte sich wirklich in Schale geworfen. Einen taillierten weißen Hosenanzug, der aussah als ob er für einen Filmball entworfen wäre. Und sie hatte sich weiße Blumen ins Haar gesteckt. Chrysanthemen. Aber was ihre Schönheit ins Magische erhob, war ihre Hoffnung. Sie war so voller Hoffnung, dass diese weißen Nächte von Erfolg gekrönt sein würden.
Dazu kam noch, dass sie zu dieser Zeit zum ersten Mal so richtig verliebt war. Er hiess Djakery und war Ende der 20er Jahre aus Äthiopien nach Deutschland gekommen. Er war einen Meter 95 groß und hatte ebenfalls einen weißen Anzug an, sogar mit einem weißen Zylinder. Die Kostüme hatte Jenny gemeinsam mit meiner Mutter aus dem Fundus einer Filmausstatterin geliehen.
Daneben sah ich ziemlich popelig aus. Ein weißes T – Shirt zu meiner üblichen blauen Jeans und meine Hoffnung war aus den bekannten Gründen eher marginal. Da half die Chrysantheme, die Jennifer mir an einer Kette um den Hals gehängt hatte, auch nicht viel.
Die Schlägertrupps kamen um kurz nach Mitternacht. Bis dahin war es wirklich mehr ein Fest als eine Demonstration. Bands spielten. Es wurde getanzt und gesungen. Es waren so viele Menschen. Was sollte uns passieren? Die Regierung würde einlenken müssen. Da wo wir waren, waren es ungefähr 100 rechte Schläger. Mit Knüppeln und Messern und sie zögerten keine Sekunde. Ich war kurz vorher losgezogen, um uns ein Bier zu holen und war deshalb etwas außerhalb der Schneise der Gewalt, die die Schläger durch das weiße Fest zogen. Jennifer war mittendrin. Soviel zum Thema Aufpassen. Ich habe sie erst Tage später im Gefängnis wieder gesehen.
Gut, ich habe die drei Bier sofort weggeworfen und versucht zu Djakery zu kommen, dessen weißen Zylinder ich aus der Menge herausragen sah, aber ich kam nicht durch die in alle Richtungen wegrennenden weißgekleideten Menschen hindurch. Irgendjemand bekam mich am Hals zu fassen und zerriß die Kette mit der Chrysantheme. Aus mir nicht ganz verständlichen Gründen wollte ich sie unbedingt aufheben und dabei trat mir jemand mit schweren Stiefeln auf die Finger. Ich fiel hin und saß vielleicht eine Minute meinen Kopf mit den Händen irgendwie schützend inmitten der rasenden Menge. Dann trampelten ein paar Leute einfach über mich rüber und ich verlor das Bewußtsein.
Aber letztendlich habe ich Glück gehabt: Mein Ringfinger war gebrochen und ist, weil ich in dem Chaos der nächsten Tage keine ärztliche Behandlung bekam, etwas krumm wieder angewachsen. Meine linke Hand sieht deswegen immer ein klein wenig so aus, als ob ich mit Mittelfinger und Ringfinger ein V abbilden wollte. Eine bleibende Erinnerung an die weißen Nächte. Aber an sich völlig harmlos. Jennifer hatte eine gebrochene Schulter und mehrere Platzwunden am Kopf. Und Djakery – ich zögere selbst jetzt, über 60 Jahre später, es auszusprechen, war tot. Mehrere Messerstiche in den Unterleib. Jennifer versuchte selbst blutüberströmt die Wunden mit ihrem weißen Anzug irgendwie zu stopfen, aber er starb in ihren Armen.
Der ganze Angriff dauerte vielleicht zwei Minuten und wurde in fast allen Städten zur selben Zeit durchgeführt. Etwa zehn Minuten später – Djakery war gerade gestorben, riegelte die Polizei den Platz ab und nahm alle weißgekleideten Demonstranten fest, die noch da waren, die meisten von ihnen mehr oder weniger schwer verletzt. Ich war in diesem Moment gerade wieder zu mir gekommen, weil mich irgendjemand aus der Gefahrenzone trug.
In den Medien wurden das Ganze als Straßenschlacht zwischen linken und rechten Chaoten dargestellt, das durch das schnelle Eingreifen der Polizei beendet werden konnte. Die Notfallgesetze wurden im Eilverfahren erlassen. 100 Tote. Von Barkhausen versprach in einer zentralen staatlichen Trauerfeier, dass er alles dafür tun würde, dass so etwas nie wieder passieren könne.
Jennifer kam nach zwei Wochen wieder aus dem Gefängnis heraus, aber Djakerys Ermordung hatte ihren Kampfgeist gebrochen. Sie war schweigsam, zog sich von allen Freund*innen und Aktivitäten zurück und wartete scheinbar apathisch auf den Prozess, der ihr und vielen anderen wegen schwerer Ruhestörung und terroristischem Anschlag auf das Staatswohl gemacht werden sollte.
In diesen Tagen wurde mir klar, dass ich nur auf eine Weise auf meine Schwester aufpassen konnte. Und zwar so, wie ich es schon 2012 in der orangenen Vollmondnacht auf dem Video gesehen hatte. Ich wusste, dass meine Chefin in den Bioläden sich ein Jahr zuvor aus Angst vor möglichen Plünderungen eine Pistole besorgt hatte. Ich wusste, wo sie die Waffe aufbewahrte. Ich ging wie immer zur Arbeit in den Laden, hörte ihren Klagen zu, dass die Geschäfte nicht mehr liefen, weil die Nachfrage zusammengebrochen war, bestellte trotzdem Bergblumenkäse und einen Haufen Gemüse und in einem unbeobachteten Moment nahm ich mir die Pistole aus der Schublade neben der Kasse, wünschte ihr eine gute Zeit und verschwand.
Am selben Abend sass ich in meiner kleinen Küche – ich wohnte damals alleine in einer winzigenen Anderthalbzimmerwohnung in St. Pauli – und betrachtete die Pistole. Sie war geladen. Sechs Schüsse. Dann holte ich den Videoplayer aus seinem Versteck und drückte auf PLAY. Ich hätte es auch ohne nachzuschauen sagen können: Natürlich sah die Pistole exakt so aus, wie die Knarre, die ich in dem Video auf Robert von Barkhausen richtete. Ich legte Pistole und den Player zurück in das Versteck. Ich würde sie erst in cirka drei Jahren brauchen.
Kapitel 10
Diese drei Jahre brachten extreme politische Turbulenzen mit sich. Es begann alles mit der zweiten Bankenkrise dieses Jahrhunderts. Nachdem 2008 die faulen Immobilienkredite der Auslöser waren, waren es 2032 schlichte massenhafte Fehlspekulationen mehrerer großer Investmentbanken, bzw. ihrer angeblich fehlerfrei funktionierenden inzwischen den ganzen Handel selbstständig kontrollierenden Algorithmen. Panikverkäufe liessen zuerst die Aktienmärkte kollabieren und wie immer hatte das massive Auswirkungen auf die reale Existenz vor allem des ärmeren Teils der Weltbevölkerung. Als Folge davon und den immer deutlicher spürbaren Auswirkungen der Klimakrise kam es innerhalb kürzester Zeit zu einer Verzehnfachung der weltweiten Migrationsbewegungen und das führte in vielen europäischen Ländern und der USA zu einem Rechtsruck. Die Europäische Union brach endgültig auseinander und die sehr viel kleinere Republik Zentraleuropa entstand. Von Barkhausens Partei der Mitte und ihre Verbündeten bekamen in der ersten Wahl sofort die absolute Mehrheit. Die Proteste dagegen wurden schnell niedergeschlagen, aber in diesem Zusammenhang wurden – auf der Rechtsgrundlage schon wieder verschärfter Notstandsgesetze – alle oppositionellen Parteien verboten. Weltweit kam es in vielen Ländern der westlichen Welt zu vergleichbaren Veränderungen. Die Zahl der militärischen Konflikte nahm kurzfristig zu, aber da die undemokratischen Regierungen gut zusammenarbeiteten, beruhigte die Weltlage sich schnell wieder. Eben diese Regierungen führten das auf ihr „besonnenes Eingreifen“ zurück, was ihnen erstaunlich viele Menschen glaubten, so dass sie im Laufe des Jahres 2035 in ihren Ländern kaum noch auf offenen Widerstand trafen.
Es waren politisch vielleicht die drei turbulentesten Jahre dieses Jahrhunderts. Auf jeden Fall für mich, denn auch in meinem Leben änderte sich nahezu alles.
Von meinem 93 jährigen Heute aus betrachtet, waren diese drei Jahre von 1932 bis 35 zwar politisch eine einzige Katastrophe, aber in meinem kleinen Kosmos waren eben diese Jahre meine glücklichste Zeit. Obwohl sie natürlich mit Djakerys Tod und Jennifers daraus resultierendem Rückzug aus dem Leben alles andere als glücklich begannen.
Kurz nachdem ich mir die Pistole besorgt hatte, zog Jennifer wieder zurück in unsere alte Wohnung. Sie wollte ihre Ruhe haben, sagte sie mir, aber ich besuchte sie fast täglich. Meistens sass ich mit ihr eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, dass sie ansonsten laut meiner Mutter nur zu den Mahlzeiten verliess. Wir tranken eine Tasse Tee und ich erzählte ihr, was ich in meinem Handy so alles von den Schwierigkeiten in der Welt mitbekommen hatte. Jennifer schwieg. Manchmal stellte sie eine Frage oder sagte etwas wie „ach so, das ist ja irre“, aber das war wohl nur, weil sie mir ansah, wie sehr ich mir Sorgen machte und wie wahnsinnig ich mich freute, wenn sie ausnahmsweise mal ein paar Worte an mich richtete.
Jenny drehte fast durch vor Angst um ihre Schwester und fing andauernd an zu heulen, aber unsere Mutter war einfach großartig. Sie war mit einer warmherzigen Selbstverständlichkeit für ihre Tochter da, wie ich es ihr gar nicht zugetraut hätte. Meine Mutter wirkte ausgeglichen, ruhig und auf eine unaufdringliche Art optimistisch. Jennifer bräuchte sehr viel Zeit, Ruhe und Kraft, um zu trauern und sie würde dafür sorgen, dass sie die bekommt, sagte sie zu mir.
„Und wenn es das Einzigste ist, was ich für sie tun kann“, fügte sie hinzu und gestattete sich ausnahmsweise einen kleinen Seufzer.
„Du bist toll“, sagte ich zu ihr, worauf sie mich komisch ansah.
„Findest du?“
Ich nickte.
„Danke“, sagte sie.
Auch mein Vater war auf seine Weise sehr für Jennifer da. Er kam alle paar Tage vorbei und bestand darauf, dass Jennifer mit ihm nach draußen ging. Komischerweise widersprach sie ihm nicht und ging mit ihm an die Elbe spazieren oder sie machten Ausflüge ins Umland wie wir früher alle zusammen. Einmal gingen sie sogar in den Zoo. Ansonsten, also ohne meinen Vater, verließ sie nie die Wohnung.
Mein Vater fühlte sich auch für die – wie er sagte – praktischen Dinge zuständig. Er brachte zu seinen Besuchen immer eine halbe Kühlschrankfüllung mit. Er sorgte für Jennifers ärztliche Betreuung. Sie hatte noch einige Zeit mit den Nachwirkungen ihrer Verletzungen aus den weißen Nächten zu tun. Eine therapeutische Behandlung der seelischen Folgen hatte Jennifer allerdings mehrfach abgelehnt.
Vor allem aber kümmerte sich mein Vater um den bevorstehenden Prozess. Er hatte Kontakt mit einer Anwaltskanzlei aufgenommen und damit begann meine glückliche Zeit.
Es war am Tag, als der Aktienindex in ein paar Stunden um 27 % gefallen war. Ich kam am frühen Nachmittag zu meinem täglichen Besuch bei Jennifer an und war total überrascht, Lachen aus ihrem Zimmer zu hören.
Ein klares lautes Lachen. Weder Jenny noch meine Mutter lachten so und in den letzten Wochen lachten sie sowieso nicht. Mein Vater lachte ja nie und außerdem war es eindeutig eine Frau, die da in Jennifers Zimmer lachte. Laut und ausdauernd. Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe mich in dieses Lachen verliebt, bevor ich wusste, wer da so wunderschön lachte.
„Dein Vater hat jetzt Nägel mit Köpfen gemacht“, sagte meine Mutter als ich sie fragend ansah. „Das ist eine Anwältin“, sagte sie. „Eine Frau Dr. Lange.“
„Doktor Johanna Lange“, sagte ich, ohne eine Sekunde nachzudenken.
„Du kennst sie?“, fragte meine Mutter.
„Keine Ahnung“, sagte ich, „Ich glaube Papa hat mal den Namen erwähnt.“
Und in dem Moment öffnete Dr. Johanna Lange die Tür zu Jennifers Zimmer und trat endgültig in mein Leben.
Natürlich habe ich sie total entgeistert angesehen und mich die ersten Minuten unseres Kennenlernens wie ein emotionaler Zombie verhalten, aber Johanna hat mir später erzählt, dass sie sich eigentlich gleich in den ersten Minuten in mich verliebt hätte. Ich habe etwas von Liebe auf den ersten Blick gestammelt und sie hat sehr selig geguckt. Nur dass das mit dem ersten Blick in meinem Fall natürlich nicht wirklich stimmte, es sei denn, man lässt die zwanzig Jahre, in denen ich Johannas weinendes Gesicht mehrere hundert Male angestarrt hatte, einfach außer Acht.
Johanna übernahm Jennifers Verteidigung und da ich ja mit ihr zusammen bei der weißen Nacht gewesen war, befragte sie mich gleich am nächsten Tag zu meiner Version der Ereignisse. Wir wurden innerhalb von ein paar Tagen ein Paar. Es fühlte sich wunderbar einfach an. So als ob wir gar keine andere Möglichkeit gehabt hätten. Ich weiß, Brandon Ford würde sagen, dass wir genau das auch nicht hatten. Keine Chance, nicht glücklich zu werden und wenn es auch nur für knapp drei Jahre war. Es musste so kommen. Das Schicksal wollte, dass wir zusammen kamen. Man ist ja bei glücklichen Entwicklungen viel eher geneigt, dem Schicksal eine bestimmende Kraft zuzugestehen. Also: Wir gehörten einfach zusammen. Da war nichts zu machen.
Kapitel 11
Entschuldigt, dass ich schon wieder aus meinem „Alterssitz“ Widerspruch anmelde: Aber heute denke ich, vielleicht ist dieses ganze Glücksgerede ja Quatsch. Ist Glück nicht eine sehr merkwürdige Kategorie um dauerhafte Gefühlsbewegungen zu beschreiben? Niemand ist 3 Jahre durchgängig glücklich. Außer in Kitschfilmen.
Sagen wir es mal mit den fast 60 Jahren Abstand, die ich jetzt in meinem Hochhausversteck auf diese drei Jahre habe: Ich war wirklich gern mit Johanna zusammen. Ihr Lachen war wahnsinnig ansteckend und obwohl das ja politisch wirklich harte Zeiten waren, haben wir viel gelacht in diesen 3 Jahren. Wir gingen oft ins Kino und fast immer in irgendwelche dämlichen Komödien. Slapstick war uns am liebsten. Wo Leute gegen Hauswände liefen und dämliche Grimassen zogen, weil sie in Rosinenbrötchen bissen, in denen doch Senf steckte. Je bekloppter, desto glücklicher waren wir.
Schon wieder dieses Wort.
Natürlich will ich jetzt eher an diese Momente denken, an Abende mit einer riesigen Schüssel mit selbstgemachten Kartoffelsalat oder Käsefondue und dazu alte Mr. Bean Filme gucken. An Fahrradtouren ins Hamburger Umland – ich zeigte ihr alle Highlights aus meinen Familienausflügen. An einen Urlaub im nördlichen Norwegen. Wir wanderten tagelang durch endlose, eigentlich ziemlich öde Landschaft, bis wir kurz vor dem Nordkap einfach wieder umdrehten. Die Sonne ging niemals unter und manchmal wanderten wir die ganze Nacht durch. Manchmal saßen wir stundenlang vor unserem kleinen roten Zelt und lasen Bücher über Polarexpeditionen. Nichts besonderes, nichts Spektakuläres, nur zwei Menschen, die gut miteinander sein konnten.
Ich sitze in meinem Hochhaus in Sri Lanka und warte auf Brandon Ford. Ich will ihn überraschen. Ich will etwas tun, was das Schicksal nicht für mich vorgesehen hat. Zum ersten Mal, seit ich auf den PLAY Button gedrückt habe, will ich meinem Schicksal wirklich entkommen. Keine Ahnung, ob das überhaupt einen Unterschied macht. Aber ich werde es tun. Es fühlt sich genau wie die anderen Male so an, als ob ich es tun muss. Aber es ist meine Entscheidung.
Um Brandon Ford überraschen zu können, sollte ich wach bleiben, nicht in sentimentalen Erinnerungen an sonnendurchtränkte Nächte in Nordnorwegen versinken. Nicht an die Erzählungen von Amundsen, Scott und diesem Engländer Ernest Shakelton denken. Nicht an Johannas Augen. Nicht an ihre Art auf ihre Lippen zu beissen, wenn sie hart nachdachte. Nicht an ihre rote Windjacke. Nein. Nicht an das Glück denken. Da war ja auch genug anderes in diesen drei Jahren.
Der Prozess gegen Jennifer, der aufgrund Johannas Verteidigung mit einem vergleichsweise milden Urteil von zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung endete. Vergleichsweise milde, weil andere von den eigentlichen Opfern 5 – 10 Jahre aufgedrückt bekommen hatten. Johanna legte natürlich Berufung ein und in dieser Zeit sahen wir uns sehr wenig, weil sie auch viele andere Mandate in diesen Prozessen übernommen hatte. Sie liebte ihre Arbeit und sie war eine verdammt gute Anwältin, aber in den Prozessen tauchten eine Menge Zeugen auf, auch von der Polizei, die genau gesehen haben wollten, wie Jennifer einen am Boden liegenden Mann mehrfach in den Unterleib getreten haben sollte. Es gab sogar Handyvideos davon. Sie war zwar meines Erachtens nicht wirklich darauf zu erkennen, aber für zwei Jahre reichte es bei der Justiz dieser Zeit allemal. Es war keine Zeit für Gerechtigkeit und deshalb waren zwei Jahre noch ein vergleichsweise gutes Urteil.
Vor allem, weil Von Barkhausen in einer „großen Geste der Versöhnung“ ein halbes Jahr später alle Menschen begnadigte, die unter drei Jahren bekommen hatten, also auch Jennifer. Sie kam an einem sonnigen Tag im März frei. Wir holten sie gemeinsam ab. Meine Mutter, mein Vater, Jenny, ich und Johanna. Jennifer hatte sehr abgenommen und sie war immer noch schweigsam. Aber sie umarmte uns alle und lächelte dabei sogar. Mein Vater hatte einen Tisch in einem Sushi – Restaurant bestellt und ich erinnere diesen Abend als einen der schönsten, den unsere Familie je miteinander verbracht hat. Still, sich auf das phantastische Essen konzentrierend, haben wir uns immer wieder angesehen. Ohne etwas zu sagen. Es war ja sowieso alles klar. Wir waren für einander da. Und würden es immer sein.
Dachte ich damals noch, aber dieser Abend war auch der letzte, den wir als Familie verbrachten. Jennifer verschwand schon eine gute Woche später auf Nimmerwiedersehen.
Sie war einfach nicht mehr da. Ohne etwas zu sagen. Ohne einen Brief, ohne eine Nachricht. Sie verschwand am Vormittag, meine Mutter war bei ihrer Jogagruppe, Jenny bei ihrem Freund und ich und mein Vater waren ja sowieso nur sporadisch da. Noch zwei Tage vorher hatte sie sich mit anderen aus der alten Widerstandsgruppe getroffen, deshalb glaubten meine Eltern Zeit ihres Lebens, dass sie einfach nur in den Untergrund gegangen wäre, aber ich teilte und teile ihre Ansicht nicht. Keine Ahnung, warum ich sie lieber als totes Opfer als als lebendige Täterin sehe? Es ist sowieso egal. Sie hat keine Spuren hinterlassen. Sie hat einen Rucksack mitgenommen und soweit wir das übersehen konnten, nur ein paar Klamotten. Ihr Handy lag auf ihrem Nachttisch. Für meine Eltern ein entscheidender Hinweis für ihre Untergrundtheorien.
Am Abend vor ihrem Verschwinden tauchte sie überraschend bei mir auf. Johanna saß wie meistens über ihren Akten und so setzten wir uns an den Küchentisch. Wir tranken ein Bier miteinander, was mich etwas wunderte, weil meine Schwester wenig trank und wenn, dann eher mal ein Glas Wein.
Wir stoßen miteinander an und plötzlich sagte sie „auf Djakery“, was mich fast aus den Socken haute, weil sie seinen Namen seit seiner Ermordung nicht mehr ausgesprochen hatte.
„Auf Djakery“, sagte ich.
Dann schwiegen wir wieder.
Irgendwann sagte sie mit einem kleinen Lächeln, dass sie vielleicht doch besser mit Jenny die Reiterhofserie hätte drehen sollen.
„Das ist Quatsch“, sagte ich. „Das war völlig ohne Substanz.“ Jennifer lachte. Sie lachte wirklich.
Johanna kam zu uns und fragte, „kann man mitlachen?“
„Ein alter Familienwitz, ohne Substanz und unerklärbar“, sagte Jennifer.
„Schade“, sagte Johanna, nahm sich einen Schluck von meinem Bier und liess uns wieder allein.
„Du hättest diesen Kitsch gar nicht drehen können, das war einfach nicht deine Bestimmung“, sagte ich, immer noch lachend.
Jennifer wurde auf einen Schlag sehr ernst. „Glaub bloß nicht so einen Scheiß“, sagte sie. „Du kannst dich immer entscheiden, ob du etwas tust oder nicht.“
„Es sei denn, das Schicksal hat etwas dagegen.“
„Du redest Scheiße“, sagte sie, „und du weißt das: Dieses Schicksalgelaber hat keinerlei Substanz“. Sie betonte das Wort wieder in der Art unserer Mutter, aber jetzt lachten wir nicht mehr.
Ich war niemals in meinem Leben so nah dran, die ganze Geschichte zu erzählen. Jennifer das Video zu zeigen. Den Pullover und die Pistole, aber dann hätte ich es auch Johanna erzählen müssen und wie hätte sie reagiert, wenn sie gewusst hätte, dass ich praktisch schon seit vielen Jahren auf sie gewartet hatte? Egal, denn ich habe es nicht erzählt: Zu verrückt, zu feige, zu was auch immer: Ich habe den Mund gehalten und Jennifer ist ein paar Minuten später gegangen. Sie hat mich umarmt und das letzte, was sie zu jemals zu mir sagte, war: „Pass auf dich auf.“
Kapitel 12
Die nächsten Tage waren die Hölle. Wir suchten nach einer Spur von Jennifer und als wir keine fanden, suchten wir nach einer Erklärung. Johanna und ich trafen uns mit den Resten der Widerstandsgruppe, aber die sagten nur, Jennifer wäre an dem letzten Abend sehr ruhig gewesen. Sie hätten eine ziemlich heftige Diskussion über die grundsätzliche Richtung des Widerstands gehabt und Jennifer wäre hundertprozentig für einen gewaltlosen Weg gewesen. Auch die Erinnerung an den Mord an Djakery hätte sie nicht umstimmen können. Sie hätte es nicht wirklich so ausgedrückt, aber jetzt mit ihrem Verschwinden, waren es eindeutig Abschiedsworte, die sie an die Gruppe gerichtet hätte. Meine Eltern waren der Meinung, dass genau das darauf hindeuten würde, dass Jennifer in den bewaffneten Kampf abgetaucht wäre, weil die Mitwisser natürlich genau das Gegenteil behaupten müssten, aber ich glaubte ihnen.
Aber warum war sie dann verschwunden? Es gab keine Erklärung. Für keines der möglichen Szenarien. Es gab nur das Verschwinden. Das riesige Loch, dass seitdem in unserer Familie existierte. Es gab keine Möglichkeit, dieses Loch zu füllen, keine irgendwie passende Art, damit umzugehen. Darüber zu schweigen war keine Lösung, obwohl wir auf Dauer eher dazu neigten. Aber die endlosen Diskussionen über die möglichen und unmöglichen Gründe ihres Verschwindens schmerzten nur und führten zu nichts. Meine Mutter gab Unmengen von Geld für Privatdedektive aus, aber keiner von denen brachte auch nur einen lausigen Hinweis zustande.
Ihr Zimmer blieb unberührt, bis meine Mutter in den 50er Jahren mit Mitte siebzig zuerst in ein Altenheim zog und kurz darauf verstarb. Mein Vater lebte noch ein paar Jahre länger, aber ich habe ihn in seinen letzten Jahren nur noch sehr selten gesehen. Jenny heiratete ein Jahr nach Jennifers Verschwinden, bekam zwei Kinder und arbeitete zeitweise sehr erfolgreich als Schauspielerin. Sie ist erst letztes Jahr verstorben und ich war kurz vor ihrem Tode noch bei ihr. Sie hatte wie man so schön dämlich sagt, einen guten Tod. Kurze aber schwere Krankheit und nach zwei Wochen war alles vorbei. Ihre Kinder waren bei ihr, ihr Mann und ich als ein merkwürdiger Schatten aus der Vergangenheit. In den letzten drei Tagen war sie nicht mehr ganz bei sich, sie erkannte uns nicht mehr und sprach nur noch wenig. Es dauerte etwas, bis ich kapierte, dass fast alle ihre Sätze an ihre Zwillingsschwester gerichtet waren: „Wo bist du?“ „Los, lass uns Kakerlakensalat spielen!“ „Du musst meinen Text abhören!“ „Ich kann mir den Unsinn nicht merken.“ „Wo bist du?“ „Wo bist du?“ Und dann ihr letzter klarer Satz: „Warst du glücklich?“
Ich habe genickt, als sie Frage nach dem Glück stellte. Ich saß an Jennys Bett, dachte an Jennifer und an Johanna und da habe ich genickt. Ja, ich war glücklich in dieser Zeit, in der soviel Schlimmes passierte. Ich war auch zuvor immer mal glücklich und auch später wieder. Also die Frage ist einfach idiotisch. Jeder ist glücklich. Jeder ist unglücklich. Also ja, ich war immer wieder ein glücklicher Mensch, aber ich war auch Zeit meines Lebens ein getriebener Mensch. Seit ich als 12 jähriger auf PLAY gedrückt hatte, war ich immer auf der Flucht vor dem, was ich über meine Zukunft wusste. Was ich über meine Zukunft zu wissen glaubte. Oder ich bewegte mich mit einer seltsamen Euphorie auf die Erfüllung meines Schicksals zu. Womit ich wieder bei Brandon Ford lande und es wird jetzt endlich Zeit, von unserem ersten Treffen zu erzählen.
Je länger ich mit Johanna zusammen war und wir unsere Glücksmomente inmitten der allgemeinen Katastrophe genossen, desto klarer wurde mir, dass ich dieses Glück verlieren würde: „Nein, Fritz, nein.“ Schon als 12 jähriger hatte ich kapiert, dass Johanna nicht wollte, dass Fritz auf Robert von Barkhausen schoss. Fritz war der überforderte Loser und Johanna war eher ein Opfer der Situation. Sie machte nur aus Liebe zu Fritz mit, so hatte ich mir das jahrelang erklärt. Je näher der Tag des Attentats kam, wirkte sie auf dem Video für mich so, als ob sie bei der ganzen Aktion nicht dabei sein wollte. Vielleicht hatte sie keine Ahnung, was Fritz, also ich, geplant hatte. Ich hatte ihr ja bis jetzt nichts gesagt und hielt für ausgeschlossen, dass ich ihr das Video zeigte. Sie würde mich innerhalb kürzester Zeit verlassen. Aber sie würde mich auch verlassen, wenn ich es ihr nicht sagte und sie trotzdem zu dem Treffen mit von Barkhausen in der Garderobe mitnehmen würde. Natürlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, wie ich dorthin kommen sollte, aber ich wusste, dass mein privates Glück mit Johanna auf einer Lüge aufgebaut war und spätestens am Tag X beendet wäre, an dem das Video zur Gegenwart werden würde, egal ob ich auf Von Barkhausen schiessen würde oder nicht.
Als das Jahr 2034 begann, war ich fast am Durchdrehen. Um mich herum veränderte sich die Welt in einem rasanten Tempo. Alle scheinbaren Sicherheiten drohten sich in Luft aufzulösen. Demokratie. Frieden. Wohlstand. Aber das interessierte mich damals nur sehr sehr peripher. Ich wachte morgens an Johannas warmen Körper geschmiegt auf und wusste, ich würde sie verlieren. Alles würde ich verlieren. Innerhalb von zwei Jahren würde ich zum Mörder werden – komischerweise konnte ich mir in dieser Zeit nicht vorstellen, dass der Schuss, der deutlich als Letztes auf dem Video zu hören war, nicht aus meiner Pistole stammte. Damals war ich mir sicher, dass die Garderobe in dem Moment, als das Video abbrach, gestürmt wurde und natürlich würde ich dabei getötet. Aber nicht ohne Robert von Barkhausen mit in den Tod zu nehmen. Johanna würde ebenfalls sterben. Weiter konnte ich nicht denken. Die namenlose Frau in dem von meiner Mutter gestrickten Maskensmileypulli spielte in meiner Phantasie keine Rolle.
Ich sitze jetzt 93 jährig im Luna Tower, also war meine Phantasie zumindest in diesem Punkt ziemlicher Blödsinn, aber zu Beginn des Jahres 2034 war das für mich die Realität. Genauso sichere Zukunft wie das Video und das klägliche Nachdenken, zu dem ich noch in der Lage war, drehte sich nur darum, wie ich diese Zukunft verhindern könnte. Noch einmal: Es kam für mich nicht in Frage, Johanna davon zu erzählen, weil sie mich für verrückt halten würde und zwar nicht im Sinne von ein bisschen durchaus auf sympathische Weise durchgeknallt, sondern im Sinne von psychotisch – verrückt. Er bildet sich ein, die Zukunft zu kennen. Er glaubt, ein Zeitreisender zu sein. Herr Doktor, sperren sie ihn weg. Pumpen Sie ihn mit Medikamenten voll. Er drückt immer auf einen kleinen schwarzen Kasten und behauptet, dann ein Video zu sehen. Er sieht es wahrscheinlich auch. Kann man ihm helfen? Elektroschocks? Psychopharmaka?! Am besten alles auf einmal. Und der Herr Doktor würde nicken und ich würde in irgendeiner Klinik für die ganz hoffnungslosen Fälle verschwinden.
Vielleicht wäre es besser so gekommen. Vielleicht war ich in diesem Sinne verrückt. Es ist nutzlos, darüber nachzudenken. Ich habe es nie darauf ankommen lassen. Ich habe das Video nie jemandem gezeigt.
Also gab es zwei Möglichkeiten: Ich war verrückt, dann würde nicht viel passieren, solange ich still hielt und mich von Von Barkhausen fern hielt. Oder die Zukunft meines Videos war meine Zukunft. Und die von Johanna. Und von Robert von Barkhausen und die der namenlosen Frau in dem Pulli. Dann hatte ich keine Chance. Ich würde alles verlieren und zum Mörder werden und selber sterben. Gemeinsam mit Von Barkhausen und Johanna.
Ja, ich weiß, dass habe ich gerade schon erzählt. Aber Anfang 2034 dachte ich diese Geschichte in einer Art Endlosschleife. Kein Ausweg. Nirgends. Keine Chance. Kein Entrinnen und was die schicksalshafte Endgültigkeit zementierenden Worte sonst noch herumflattern.
Alle paar Tage schaute ich mir wieder und wieder heimlich das Video an. Aber da gab es schon lange nichts mehr zu entdecken. Den Pullover zu verbrennen, hatte ich als Möglichkeit längst aufgegeben: Dann hätte eben jemand anderes einen identischen Pulli gestrickt und die Frau in dem Video hätte dieses Exemplar an und eben nicht das von meiner Mutter gestrickte. Entweder ich war verrückt oder das war die Zukunft. Als ich eines Nachts wieder an meinem Schreibtisch sass und den Player gerade wieder zu der Pistole ganz hinten in meine Schublade mit den Steuerunterlagen verschwinden lassen wollte, drückte ich plötzlich, ohne zu wissen warum, noch einmal auf den DONT PLAY Button: Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Da war die Lösung. Der Ausweg. Die einzige Chance auf eine andere Zukunft. Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka. Seit meinem sehr halbherzigen Versuch vor mehr als 10 Jahren, nach Sri Lanka zu reisen, hatte ich nie wieder an diese Möglichkeit gedacht. Ich hatte Brandon Ford aus reiner Gewohnheit alle halbe Jahre gegoogelt, aber er tauchte nach wie vor nicht im Internet auf. Also nicht im Zusammenhang mit Sri Lanka und dem 447 Luna Tower. Es gab nach wie vor den Golfspieler, ein Footballspieler dieses Namens tauchte irgendwann auf, es gab ein Autohaus in Florida und ein anderer Brandon Ford hatte Kochbücher geschrieben. Kochen wie Harry Potter und so etwas Beklopptes. Ich hatte schon vor Jahren an alle diese Brandon Fords etwas kryptisch formulierte Mails geschrieben, ich hätte Nachricht bekommen, dass ich sie kontaktieren sollte. Wenn Ihnen die Adresse 447 Luna Tower in Colombo, Sri Lanka etwas sagen würde, dann sollten Sie sich bitte bei mir melden. Ich würde mir Sorgen um meine Zukunft machen. Weder vom Golf – noch vom Footballspieler bekam ich eine Antwort. Das Autohaus schickte mir einige Zeit Newsletter mit phantastischen Gebrauchtwagenangeboten, nur der Kochbuchbrandon schickte mir eine kurze persönliche Antwort. Wenn ich mir Angst über die Zukunft machen würde, würde er mir seine Kürbispasteten ala Hermine empfehlen. Die würden mit ihrer süssen Zauberkraft sämtliche Sorgen in Windeseile in Luft auflösen.
Über diese Brandon Fords kam ich nicht weiter. Ich hatte auch schon in den 20 er Jahren alle Bewohner des 447 Luna Towers herausgefunden. Natürlich wohnte da kein Brandon Ford. Da konnte ich mir die Reise nach Sri Lanka sparen.
Erst im Jahre 2034, als ich spät nachts und ziemlich verzweifelt wieder auf den DONT PLAY Button drückte, wusste ich, dass die Lösung nur so zu finden war: Please contact Brandon Ford, 447 Luna Tower, Colombo, Sri Lanka.
Noch in der Nacht buchte ich für den übernächsten Tag einen Flug nach Colombo. Ich arbeitete damals schon einige Zeit für eine größere Biolädenkette, die die 4 Läden meiner ehemaligen Chefin aufgekauft hatte. Bio war zwar kein Wachstumsmarkt mehr wie die ganzen 20 er Jahre, aber als eine hochpreisige Nische funktionierten die Läden immer noch sehr gut. Ich hatte sehr viele Überstunden angesammelt und bekam zu meinem Erstaunen auch kurzfristig eine Woche Urlaub. Aber nur, wenn ich einem unserer Lieferanten, einer sehr exklusiven Bioteefirma im Hochland Sri Lankas einen Besuch machen würde. Ich sagte zu und erzählte Johanna beim Abendessen, dass ich kurzfristig geschäftlich nach Sri Lanka müsse. Johanna versuchte zu meinem Entsetzen sofort, sich die nächsten Tage freizuschaufeln, damit sie mich begleiten konnte, aber das scheiterte zum Glück an einem unaufschiebbaren Prozesstermin.
Also brachte sie mich am nächsten Tag zum Flughafen. Wir umarmten uns lange und ich war so verliebt wie ein das erste Mal die Wonnen der Liebe erlebender Teenager. Ich war mir sicher, dass ich Brandon Ford in Colombo treffen würde und dass nach diesem Treffen mein Schicksal ein anderes sein würde, ein sehr viel Glücklicheres. Um dem ganzen nur ein klein bisschen vorzugreifen: Die erste Annahme stimmte. Die zweite nicht.
Kapitel 13
Ich kam am späten Nachmittag in Colombo an und noch bevor ich in meinem Hotel eincheckte, fuhr ich zum 447 Luna Tower. Am Eingang des Hochhauses standen 2 Securityleute, denen ich erzählte, ich müsste unbedingt zu Mister Brandon Ford, der müsste hier wohnen. No, no Mister Ford in Luna Tower. Vielleicht hat er hier ein Büro? No, no Bureaus in Luna Tower. Only Appartements and Luxury Flats. And no, no Mister Brandon Ford. Aber Brandon Ford hätte mir den 447 Luna Tower als Kontaktadresse gegeben. No, no Mister Ford in Luna Tower. Ich war wegen dieser Auskunft nicht wirklich überrascht, meine Internetrecherchen hatten ja das gleiche ergeben. Die Hoffnung stirbt zuletzt, hatte ich wohl gedacht und war noch im Flugzeug voller Zuversicht gewesen. Aber dann stand ich vor dem Luna Tower und kam nicht einmal herein. Die beiden Securityleute waren sehr nett und sahen mir wohl meine Enttäuschung an. Im obersten Stockwerk gäbe es ein Restaurant mit einer phantastischen Aussicht. Vielleicht würde Mister Ford ja da arbeiten. Wenn ich wollte, würden Sie fragen, ob ich noch einen Tisch für heute abend bekommen könne. Natürlich wollte ich und ich bekam einen Tisch für 20.00. Also ab ins Hotel, frisch machen und wieder zurück zum Luna Tower. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber dafür in Raten. Das Essen war gut, die Aussicht wirklich schön, aber natürlich auch hier: No Mister Ford.
Und so ging es weiter: zwei Tage fragte ich in allen möglichen und unmöglichen Orten nach ihm: In Hotels und Restaurants, auf Ämtern und Botschaften, ich hing überall in der Nähe des Luna Towers Zettel mit meiner Handynummer auf, aber natürlich meldete sich niemand. Den dritten Tag verbrachte ich damit, wahllos amerikanisch oder englisch aussehende Touristen anzusprechen, ob sie vielleicht Brandon Ford seien oder ob sie einen Mann dieses Namens kennen würden. An allen Abenden ging ich ins Restaurant im Luna Tower und wartete auf ihn, aber gegen 22.00 am dritten Abend war mein letztes bisschen Hoffnung aufgebraucht: No Mister Brandon Ford in ganz Colombo.
Ich kratzte meine übriggebliebene Vernunft zusammen und mietete mir am nächsten Tag ein Auto und fuhr in die Berge, verbrachte einen schönen Tag auf der Teefarm unseres Lieferanten – natürlich fragte ich auch da nach Brandon Ford – mit demselben negativen Ergebnis, dann liess ich mir von meinen Gastgebern einen Vorschlag machen, was ich mit meinen restlichen zwei Tagen in Sri Lanka anfangen sollte und ganz klar, bei nur zwei Tagen gab es nur eine Möglichkeit: Ich sollte unbedingt den Adams Peak besteigen, einen über 2000 Meter hohen heiligen Berg, auf dem jeder gute Buddhist mindestens einmal gewesen sein muss. Auf der Spitze des Berges ist ein kleines Kloster, wo man Buddhas Fussabdruck sehen kann – für andere Religionen gehört der Fussabdruck anderen Heiligen. Nur 5 Stunden Fussmarsch über mehr als 5000 Stufen und mehr als einem Höhenkilometer bergauf. Man geht mitten in der Nacht los, um die Hitze des Tages zu vermeiden. „Und warum soll ich mir als Nichtbuddhist diese Strapaze antun?“, fragte ich meinen Gastgeber. Der erzählte mir zuerst etwas von dem Supersonnenaufgang und den Ausblick den man da oben hätte und als ich antwortete, dass ich für keinen Sonnenaufgang der Welt soviele Stufen bergauf stiefeln würde, sagte er und wirkte dabei sehr ernst: „Wenn du da hoch gehst, wirst du ein Jahr länger leben.“
„Wirklich? Ein Jahr länger?“, sagte ich, „länger als was?“
„Länger als das Schicksal es eigentlich für dich vorgesehen hat“, sagte er und lächelte jetzt.
Er sagte noch, seine Großmutter sei jetzt 90 und die würde seit zwanzig Jahren jedes Jahr da hochkraxeln, aber da hatte ich mich schon entschieden. Ich fuhr noch am selben Tag an den Fuss des Berges und machte mich um ein Uhr nachts auf den Weg.
Um es kurz zu sagen: Der Aufstieg war die Hölle. Es war kalt, es war unglaublich steil und ich war völlig außer Form. Die letzten Tage hatte ich wenig geschlafen. Der Jetlag, der Kampf mit meiner rapide schwindenden Hoffnung. Ich hatte im Restaurant des Luna Tower zuviel Gin Tonic getrunken, ich war zuviel durch Colombo gerannt, die letzten beiden Tage war ich zuviel durch den wahnsinnigen Verkehr Sri Lankas gefahren. Und jetzt diese endlosen Treppenstufen. Aber ein Jahr mehr leben, als das Schicksal es für mich vorgesehen hatte! Das hiess, ich würde das Attentat um mindestens dieses eine Jahr überleben und wenn ich es wie die Oma meines Gastgebers machen würde, würde ich Brandon Ford aber sowas von austricksen.
Ich weiß, dass klingt alles ziemlich bescheuert, aber so war ich zu diesem Zeitpunkt drauf. Wirklich kurz vor dem Durchknallen.
Ich kam pünktlich zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel an. Stellte mich in die Massen, die alle den Sonnenaufgang filmten. Wurde mindestens ein Dutzend Mal mehr oder weniger freundlich aus dem Handybild gewinkt. Irgendwann hatte ich es satt und verliess das Kloster und machte mich an den Abstieg, ohne Buddhas Fussabdruck gesehen zu haben. Nach ein paar Hundert Abwärtsstufen taten mir die Knie bestialisch weh. Ich setzte mich auf eine der Stufen, rieb mir das schmerzende Knie und stürzte mich so tief es überhaupt nur ging ins Selbstmitleid.
In diesem Moment zeigte mir mein Handy, dass es eine Nachricht empfangen hatte. Unbekannter Absender, es wurde nicht einmal eine Nummer angezeigt, aber ich wusste sofort, dass er es war:
You can't outsmart your fate, young Man, schrieb er: Du kannst das Schicksal nicht austricksen und dass ich morgen um 15.00 in den Pagoda – Tearoom in Colombo kommen soll. Unterschrieben hatte er nur mit seinem Vornamen: Brandon.
Kapitel 14
Ich war schon eine Stunde früher da. Der Laden sah mehr wie eine große Kantine aus, als wie ich mir einen Tearoom vorgestellt hatte. Es war leer. Ich setzte mich an einen Tisch im hinteren Bereich, von dem ich den Eingang beobachten konnte. Ich aß ein Reiscurry und trank eine Cola. Danach nahm ich einen Kaffee und ich hatte mir gerade einen zweiten geholt, als er das Lokal betrat. Wieder wusste ich sofort, dass er es war. Ungefähr 50 Jahre, ein drahtiger Typ, kurze, ursprünglich wohl etwas rötliche Haare. Dreitagebart. Ein Jeanshemd und eine Leinenhose. Und eine Sonnenbrille.
Er kam direkt an meinen Tisch und setzte sich, ohne zu fragen, mir gegenüber. Aus seiner Hosentasche holte er ein exakt meinem Videoplayer gleichendes schwarzes Abspielgerät. PLAY und DONT PLAY Button. Ein mattes Display. Sonst nichts.
Er sah mich an. Also seine schwarzen Brillengläser starrten mich an. Er schwieg. Ich ebenso. Manchmal scheint die Zeit still zu stehen. Das sagt man so einfach und es soll eigentlich nur heissen, dass man gerade sehr sehr wach ist. Dass ein Moment als wahnsinnig intensiv empfunden wird. Dass das Wollen verschwunden ist, der Atem von alleine ein und ausströmt. Und doch ist es natürlich nur eine Metapher: Die Zeit steht nicht wirklich still. Niemals.
Ich bin mir nicht sicher, weil ich nicht auf die Uhr geschaut habe, aber von dem Moment an, als Brandon Ford den Videoplayer auf den Resopaltisch gelegt hatte und mich seine schwarzen Brillengläser fixierten, stand die Zeit auf eine andere Art still. Auf eine wirklichere Art. Alle äußeren Geräusche waren verschwunden. Ich dachte nicht den Hauch eines noch so winzigen Gedankens. In dem Lokal waren kaum Menschen und ich habe nur Brandon Ford angesehen. Also habe ich nicht bemerkt, ob sich in diesem Zeitloch, wie ich es für mich nenne, noch irgendjemand bewegt hat. Ob nur ich und Brandon Ford in diesem Zeitloch waren oder das ganze Lokal? Oder ganz Colombo? Die ganze Welt?
Natürlich ist das verrückt. Das geht nicht. Man kann die Zeit nicht anhalten. Man kann nicht in die Zukunft sehen. Aber da lag so ein Videoplayer auf dem Tisch vor mir und ich wollte unbedingt wissen, was darauf zu sehen war. Das war mein erster bewusster Gedanke und damit war das Zeitloch verschwunden. Alles wieder wie wir es kennen. Geräusche. Gedankenmüll. Bewegungen. Alles normal.
Er lächelte. Ab dem Moment, an dem ich dachte, dass ich wissen will, was auf dem Videoplayer zu sehen ist, lächelte er. Ein durchaus freundliches Lächeln, wenn man mit einer pechschwarzen Brille freundlich lächeln kann.
„Also das funktioniert so“, sagte er, „du darfst mich verschiedene Sachen fragen. Aber nicht auf alle Fragen bekommst du Antworten. Du musst dich schon ein bisschen anstrengen. Keine naheliegenden Fragen. Zum Beispiel nicht, warum ich mit dir deutsch rede. Nichts, worauf du dir die Antwort eigentlich selber geben kannst. Natürlich keine intimen Dinge. Keine Frechheiten. Und vor allem nicht die eine, die endgültige Frage. Alles andere werde ich beantworten. Drei falsche Fragen und unser kleines Spiel ist vorbei. Die Frage, ob du das Video sehen darfst, ist gestattet, aber sie ist automatisch die letzte Frage. Also wie gesagt, streng dich an.“
Natürlich wollte ich fragen, ob ich verrückt bin? Aber war das nicht sehr naheliegend? Ob er wirklich existierte? Woher er die Zukunft kennt? Ob das Attentat in der Garderobe wirklich meine Zukunft ist? Ob gerade die Zeit still stand? Wer sind Sie? Wer sind Sie? Wer sind Sie?
Ich sagte nichts. Er ging mir plötzlich nur noch auf die Nerven. Egal wer er war. Ich war kaputt, meine Knie schmerzten wie blöde, ich war schon seit Tagen kurz vorm Durchdrehen.
„Hören Sie, Mister Ford, ich bin nicht hierher gekommen, um mit Ihnen dämliche Quizspielchen zu spielen“, sagte ich schließlich und versuchte wie ein richtig harter Bursche zu wirken.
„Das ist mir bekannt und solange Sie keine Fragen stellen, können wir auf dieses Spiel ja durchaus verzichten“, sagte er und sein Lächeln wurde noch einen Tick breiter.
„Ich bin hierher gekommen, weil ich glücklich bin“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
„Was verstehen Sie unter Glück?“
„Keine naheliegenden Fragen bitte“, sagte ich und versuchte genauso zu lächeln wie er.
„Verzeihen Sie bitte, Sie haben recht, das ist naheliegend, allerdings ist es letztendlich vielleicht durchaus eine wichtige Frage, wenn Sie über das Leben der Menschen nachdenken wollen. Sie können die Frage auch umformulieren, vielleicht verstehen Sie dann eher, wovon ich spreche: Auf was für ein Leben glauben Sie, einen Anspruch zu haben?“
„Ich möchte vor einem kleinen roten Zelt sitzen und mich mit meiner Freundin ohne Worte verstehen. Ich möchte im Sommer schwimmen gehen. Ich möchte morgens aufstehen und mich auf die Arbeit freuen und abends mit Freunden etwas unternehmen. Ein Bier trinken. Ins Kino. Ich möchte so schnell ich nur kann mit dem Fahrrad fahren. Ich möchte einfach mein Leben weiterleben, so wie es kommt.“
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche, aber das wollen Sie nicht. Nicht so wie es kommt, sondern in einer Kontiniutät, auf die Sie glauben, einen Anspruch zu haben.“
Ich weiß nicht, warum ich plötzlich an Jennifer denken musste, aber ich sagte: „Ich möchte meine verschwundene Schwester wiedersehen. Ich möchte wissen, ob sie noch lebt.“
„Ist das eine Frage an mich?“
Ich hatte Angst vor einer endgültigen Antwort, also schüttelte ich nur schnell den Kopf.
Ich schwieg wieder, um meine Fragen an ihn irgendwie sortiert zu kriegen. Denn mir war hundertprozentig klar, dass mit Brandon Ford nicht zu verhandeln war.
Während ich alle möglichen Fragen in meinem Kopf durchging und die allermeisten davon sofort wieder verwarf, passierte etwas Merkwürdiges, aber wieder bin ich nicht sicher, ob dass nur meine hyperempfindliche Wahrnehmung war oder, ob es wirklich passierte. Ich hatte das Gefühl, dass ich schrumpfte. Sehr langsam, nahezu unmerklich zog ich mich in mir zusammen. Gleichzeitig blieb die äußere Hülle unversehrt, so dass es niemand bemerken konnte. Meine Augen traten zurück, vielleicht einen halben Zentimeter, der Zwischenraum zur ursprünglichen Form war eindeutig wahrzunehmen, meine Hände verkleinerten sich, meine Füße, aber am deutlichsten spürte ich die Veränderung am Herzen. Es fühlte sich an, als ob es nur noch faustgroß war, eine kleine Faust, die zusehends schrumpfte. Es schlug und pumpte dünnes Blut durch meine immer enger werdenden Adern. Wahrscheinlich würde ich gleich als ein halber Zwerg vom Stuhl fallen und kollabieren.
„Ich erzähle dir etwas von mir“, sagte Brandon Ford und in dem Moment hatte ich meine ursprüngliche Form wieder. „Vielleicht beantwortet diese Geschichte einige deiner Fragen.“
Ich nickte, froh meine normale Größe wieder zu haben.
„Ich war vielleicht in dem Alter, als du das Video gefunden hast, die Nacht mit dem orangenen Mond“.
„Da war ich 12“, sagte ich.
„12“, sagte er und lächelte einen kurzen Moment vor sich hin. „Das ist bei mir ganz schön lange her, denn ich bin ein klein wenig älter, als du mich freundlicherweise einschätzt. Ich lebte mit meinen Eltern in Kalifornien, ganz in der Nähe des pazifischen Ozeans. Wir waren da nur ein paar Jahre, mein Vater versuchte sich in dieser Zeit als Profisurfer und meine Mutter als Schauspielerin.“
„Meine Mutter ist auch Schauspielerin“, sagte ich.
„Ich weiß“, sagte er und fuhr genervt fort, „bitte lass einfach diese unnötigen Zwischenbemerkungen. Ich weiß, wer du bist und ich weiß, dass du weisst, dass ich das weiß, also tu bitte nicht so naiv.“
Wieder begann ich zu schrumpfen und nickte nur.
„Und bitte hör auf, deine Minderwertigkeitsgefühle mir gegenüber in körperliche Symptome umzuwandeln.“
Augenblicklich hatte ich meine ursprüngliche Größe wieder.
„Deine Mutter hat mal 20 Jahre lang eine Ärztin in der Heideklinik gespielt“, sagte er, „über so etwas wäre meine Mutter wahnsinnig froh gewesen. Ihre künstlerischen Höhepunkte waren kurze Auftritte in Teenagerhorrorfilmen wie „Die Todesrochen von Santa Barbara“. Da durfte sogar mein Vater mitspielen und sie wurden beide schon nach 10 Minuten in der ersten Rochenattacke massakriert. Auch mein Vater schaffte es nie auch nur annähernd in die erste Liga der Surfer, aber diese Jahre am Pazifik waren wirklich toll. Wir hatten sehr wenig Geld, aber wir hatten uns und das Meer und wir waren – nun du würdest es wahrscheinlich – glücklich nennen.
Eines Abends waren wir zu dritt noch am Strand gewesen, wir hatten ein kleines Lagerfeuer gemacht und Stockbrot und Würstchen gegrillt. Die Sonne war blutrot im Meer untergegangen und meine Eltern waren ganz kuschelig geworden. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, sie könnten gerne schon voraus gehen – wir wohnten nur wenige Minuten entfernt – ich wollte noch ein bisschen sitzenbleiben und die Sterne und den Mond aufgehen sehen. Meine Eltern waren eher Hippies und ich war für mein Alter schon ziemlich erwachsen, also verabschiedeten sie sich schon bald. Mein Vater legte noch etwas Holz nach und meine Mutter gab mir ihren dicken Pullover, nur falls mir später kalt würde.
Ich wünschte den beiden viel Spaß und eine gute Nacht und zog den Pullover meiner Mutter an. Ich glaube, ich bin innerhalb von ein paar Minuten eingeschlafen und als ich wieder aufwachte, war das Feuer ausgegangen. Ein strahlender Sternenhimmel war über mir aufgetaucht. Es war wunderschön und ich war sehr einverstanden mit mir und der Welt um mich herum. Und dann verfärbte sich das Meer ganz langsam. War es gerade noch dunkel und sternenglitzernd gewesen, wurde es jetzt allmählich, aber mit gleich bleibendem Tempo orangenfarben. Ja, der Mond ging auf und er war sehr groß und sehr sehr orange.“
Brandon Ford machte eine kleine Pause in seiner Erzählung und ich sah mich in genau diesem Licht auf der Wiese in der Lüneburger Heide stehen.
„Ich sehe, du erinnerst dich“, sagte er und erzählte weiter. „Ich richtete mich auf und drehte mich dem Mond zu und in diesem Moment sah ich es zum ersten Mal.“ Er zeigte auf den Videoplayer vor sich, aber mir war auch ohne diese Geste klar, was er meinte.
„Ich war etwas verwirrt, weil es zu dieser Zeit noch keine Handys oder ähnliches gab, aber es sah genauso aus. Sie sehen alle so aus. PLAY oder DONT PLAY. Genau wie du, drückte ich auf PLAY und sah einen kleinen Film auf dem meine Eltern mich in einem blauen Auto mit einem Kennzeichen aus Kentucky vor einer Schule absetzten, auf der der Name Western Hills Highschool, Frankfort Kentucky stand. Es war ein flaches langweiliges Gebäude in einer langweiligen Straße in einer langweiligen Stadt in einem langweiligen Staat. Der Film zeigte nur ein, zwei Minuten wie das blaue Auto einen vierspurigen Highway lang fuhr, dann zweimal abbog und vor der Schule abbremste. Meine Eltern und ich stiegen aus. Ich sah nur unwesentlich älter aus, als ich damals war und schien ziemlich schlecht gelaunt zu sein. Meine Eltern wünschten mir einen schönen ersten Schultag, umarmten mich beide, stiegen sofort wieder in das Auto und fuhren weg. Ich schaute dem blauen Auto einen Moment nach und drehte mich dann in die Richtung, wo man die Kamera vermuten musste. Ich schaute genau in die Kamera. Ungefähr fünf Sekunden, dann hörte der Film auf. Ab diesem Moment war mein Leben, wie ich es bis dahin kannte, zu Ende.
Schon eine Woche später hörte ich wie meine Eltern in einem scheinbar unbeobachteten Moment über den bevorstehenden Umzug nach Frankfort, Kentucky sprachen und 6 Wochen später stand ich vor der Western Hill Highschool und starrte in die Richtung einer nicht vorhandenden Kamera, denn soviel kann ich dir verraten, diese Videos werden nicht aufgenommen. Sie existieren einfach. Und noch eins kann ich dir verraten, ohne dass du eine Frage verbrauchen musst: Die Zukunft ist nicht dein Feind. Sie ist nur eine andere Form von Gegenwart.“
Brandon Ford machte eine Pause. Oder er war fertig mit seiner Geschichte. Da er sich nicht bewegte, wenn er nicht sprach, konnte ich einen möglichen Unterschied nicht erkennen. Ich war wie erschlagen. Es ist lange her, aber ich weiß noch genau, dass es das war, was ich fühlte: irgendjemand hatte einen dicken Stein genommen und ihn mir auf den Kopf gehauen. Also schwiegen wir wieder. Aber dieses Mal stand die Zeit nicht still. Ich versuchte, wieder zu mir zu kommen. Den Stein von meinem Schädel zu rollen.
„Hast du wirklich gar keine Fragen?“, sagte er nach einer langen Weile. „Oder bist du nicht mutig genug?“
Damit erwischte er mich. Ich wollte mutig sein. Quatsch, ich war mutig. Dass ich hier mit ihm sass, dass ich überhaupt nach Colombo geflogen war, bewies meinen Mut. Ich erklärte ihm das mit ziemlich vielen Worten, in die ich auch einiges ihn Beleidigendes einstreute. Ich sei nicht gekommen, um seine dämliche Kindheitsgeschichte zu hören und Ähnliches. Leider steigerte ich mich ziemlich in diese Richtung hinein und beendete mein sinnloses, aber irgendwie befreiendes Geschwafel damit, dass er sich nicht so aufplustern solle, mit seiner dämlichen Sonnenbrille, was er denn von mir denken würde, dass würde mich überhaupt nicht beeindrucken und dann wiederholte ich den vorletzten Satz: „Was denken Sie denn von mir?“
„Ich denke, du bist selbstverliebt, du bist ängstlich und du nimmst dich viel zu wichtig“, sagte er und lächelte wieder.
„Wer sind Sie?“ Die Frage war mir einfach so rausgerutscht. Ich wollte sie ja von Anfang an stellen, aber ich befürchtete, dass sie zu den falschen Fragen gehörte. Eine auf die es von ihm keine Antwort gab. Und so war es auch.
„Ich habe gesagt, keine naheliegenden Fragen. Also bleiben nur noch zwei.“
Und dann wurde sein Lächeln richtig breit. „Ich will mal nicht so sein und trotzdem antworten, aber es bleibt bei nur noch zwei Fragen. Du wolltest wissen, wer ich bin?“
Ich nickte.
„Mein Name ist Brandon Ford. Ich bin Amerikaner. Du kennst ein bisschen was aus meiner dämlichen Kindheit. Ich lebe seit vielen Jahren abwechselnd hier in Sri Lanka oder ich bin weltweit unterwegs. Geschäftlich unterwegs. Und damit du keine Frage nach der Art meiner Geschäfte stellst: Ich handle mit Informationen. In ziemlich großem Stil.“
Als er Informationen sagte, tippte er kurz auf den Videoplayer vor sich, als ob ich nicht selbst darauf gekommen wäre, welche Art von Informationen er meinte.
Ich wurde langsam wirklich wütend. Ich fand ihn herablassend, er behandelte mich wie einen kleinen Jungen und das ging mir schon auf den Geist, als ich noch ein kleiner Junge war. Also drehte ich jetzt richtig auf. „Ach so, sie handeln mit Informationen! Das heisst, ich darf noch dafür bezahlen, dass sie mein Leben zerstören, sie arroganter alter Sack. Ich habe nichts bei Ihnen bestellt und ich wäre sowas von froh, wenn Sie Ihre beschissene Zukunft wieder zurücknähmen. Nehmen sie ihre verdammten Informationen“ - natürlich tippte ich bei diesem Wort ihn nachmachend auf den Videoplayer - „und verschwinden Sie aus meinem Leben. Gehen Sie zurück nach Frankfort, Kentucky.“
Jetzt lachte er.
Und natürlich regte mich das erst richtig auf.
„Finden Sie das komisch, Sie alter Sack?“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, wusste ich es. Falsche Frage. Naheliegend. Und ein bisschen frech. Und genau das sagte er mir.
„Sie haben nur noch eine falsche Frage. Denken Sie lieber etwas nach als nur ihre kleinteilige Wut an mir auszulassen. Und um auch diese Frage zu beantworten: Ja, ich finde das komisch, ich alter Sack. Ich finde Sie komisch. Diese Angst, die Sie ohne sich umzuschauen, auf den Abgrund zutreibt. Sie hätten mir drei vernünftige Fragen stellen können. Sie hätten drei Antworten bekommen, aber Sie echauffieren sich lieber in kleingeistigen Beleidigungen. Ich habe Sie nicht gezwungen auf Play zu drücken. Das haben Sie schon ganz alleine entschieden. Aber Sie wollen die Folgen dieser Entscheidung nicht annehmen. Sie fliegen einen halben Tag hierher, in der eigentlich völlig absurden Hoffnung, mich zu treffen, damit ich Ihnen die Folgen Ihrer Entscheidung korrigieren kann. Aber Sie trauen sich nicht einmal diese Frage zu stellen und bitte, tu'n Sie es nicht. Die Frage können Sie sich ebenfalls selbst beantworten. Ich handele nur mit Informationen, ich verändere Sie nicht oder stelle Sie gar her. Ich bin nur eine Art geschäftstüchtiger Postbote. Und Sie sind ein viel zu kleiner Fisch, als dass ich mich normalerweise mit Ihnen befassen würde.“
Er machte wieder eine Pause. Ich dachte fieberhaft nach. Die Frage, warum er sich trotzdem mit mir befasste, lag auf der Hand. Es war eine Einladung, diese Frage zu stellen. Aber war die Antwort nicht naheliegend? War Sie zu intim? Ich wollte unbedingt das Video auf dem Player sehen. Und wenn Brandon Ford diese Frage nicht gefiel, dann würde er es mir niemals zeigen. Aber ich musste diese Frage stellen.
„Warum sind Sie hier?“, sagte ich und war hundertprozentig sicher, dass unsere Unterredung damit beendet sein würde.
„Weil mich jemand darum gebeten hat“, sagte er und fuhr gleich darauf fort, „die Frage wer das gewesen ist, ist leider zu intim. Normalerweise sind die Dinger so programmiert“ - wieder zeigte er auf den Player vor sich, „dass sie meinen Namen und die Kontaktadresse nur abspielen, wenn du als erstes auf den DONT PLAY Button drückst, aber in der Frühphase der Massenproduktion gab es ein paar Fehler. Dein Exemplar gehörte leider dazu.“
„Danke“, sagte ich.
„Wofür?“, wollte er wissen.
„Sie beantworten viel mehr als ich frage.“
„Sie erinnern mich an mich selbst. Damals in Frankfort Kentucky. Ich war sehr wütend. Viele Jahre lang, aber das wird jetzt wirklich zu intim. Haben Sie sonst noch Fragen?“
Ich dachte nicht mehr nach, ob ich etwas falsch machen könnte. Ich fragte einfach, was mir in den Sinn kam.
„Ich möchte Sie um etwas bitten: Bitte geben Sie mir einen Beweis, dass ich nicht verrückt bin.“
„Ist das wirklich Ihre Sorge?“
„Ja“, sagte ich ohne zu zögern.
Brandon Ford schaute auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt gleich 16.00. Gehen Sie in ihr Hotel. Nehmen Sie eine Dusche und ruhen Sie sich ein bisschen aus. Dann gehen Sie heute Abend auf den Peetah Markt. Das ist nicht weit von hier am Strand. Da sind sehr viele Leute. Ein bisschen touristisch, aber ganz nett. Bleiben Sie mindestens solange, bis Sie den Beweis sehen.“
„Danke“, sagte ich wieder. „Darf ich noch eine Frage stellen?“
„Aber sicher.“
„Würden Sie bitte einmal ihre Sonnenbrille abnehmen?“
„Das ist eine wirklich überraschende Frage und ich will Ihrer Bitte gerne nachkommen, obwohl es auf Dauer vielleicht etwas -“, er machte wieder eine seiner langen Pausen, „entschuldigen Sie bitte, dass ich solange nach dem richtigen Wort gesucht habe, aber ich möchte Ihnen keine unnötige Angst machen...“
„Was ist das richtige Wort?“
„Noch eine gute Frage: Wenn ich die Brille abnehme, werden wir uns anschauen. Wir werden uns sehr lange in die Augen schauen und das könnte – ich betone den Konjunktiv, etwas gefährlich werden. Und nein, die Frage auf welche Art gefährlich ist nun wirklich viel zu intim.“
Noch eine Pause. Aber dieses Mal nur kurz.
„Soll ich die Brille jetzt abnehmen?“
„Ja“, sagte ich.
Und dann sagte er die Sätze, die ich schon am Anfang meines Berichts zitiert habe:
„Wenn man einen Menschen ansieht, also wirklich ansieht, nicht nur hin – und gleich wieder weg – denn dann sieht man nur sich selbst und davon auch nur die Oberfläche – also wenn man den anderen wirklich betrachtet und man genau so betrachtet wird – und das für eine lange Zeit – und lang, das heißt immer etwas länger als das, was einem eigentlich schon lang vorkommt – also wenn man jemanden auf diese Art für eine wirklich lange Zeit anschaut, dann - verändert sich die Welt.“
Und nahm die Sonnenbrille ab. Er hatte braune Augen. Und wir sahen uns sehr lange an.
Ich spürte im ersten Moment keine Veränderungen, aber nach einer gewissen Zeit spürte ich etwas Merkwürdiges: Ein leichtes Ziehen. Über den Augen, in der Mitte meiner Stirn. Und dann hörte ich Geräusche. Als ob jemand eine Treppe hinuntergeht. Eine metallene Wendeltreppe. Klipp Klapp. Sehr langsam, aber stetig stieg jemand in mir herab. Vielleicht 50 Stufen, dann wurde es wieder still. Mehr war nicht, aber das war real.
Die Veränderungen kamen erst sehr viel später. Und ich empfinde sie als heftig, aber nicht wirklich gefährlich. Obwohl, vielleicht doch. Aber dann für ihn. Für Brandon Ford.
Ein paar Sekunden, nachdem es in meinem Kopf still geworden war, setzte er seine Brille wieder auf.
„Sind Sie gerade in meinem Kopf eine Treppe herunter gegangen?“, fragte ich ihn.
„Schade“, sagte er, stand abrupt auf und steckte den Player ein, „ich hatte Sie für einen intelligenteren Fragesteller gehalten.“ Damit ging er los.
„Werde ich bei dem Attentat sterben?“, schrie ich ihm in einer Lautstärke hinterher, dass alle Menschen in dem Lokal zu uns beiden schauten. Er blieb nicht stehen und zuckte nur im Gehen mit den Schultern, als ob ihm nichts auf der Welt egaler sein konnte.
Ich rannte hinter ihm her und holte ihn auf der Strasse ein. Er blieb zu meiner Überraschung einfach stehen.
„Werde ich Sie noch einmal wiedersehen?“, fragte ich. Jetzt war schon alles egal.
„Sie sind ganz schön hartnäckig“, sagte er. „Und das Video“ – er holte den Player aus seiner Hosentasche, „wollen Sie wahrscheinlich auch noch sehen, oder?“
„Aber sicher“, sagte ich.
„Ich hätte die Brille nicht abnehmen sollen, ich habe ja gesagt, es ist gefährlich“, sagte er und lächelte mit einem Anflug des Bedauerns.
„Also Frage eins, die zentrale Frage nach Ihrem Tod. Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Das ist nicht vorgesehen und bitte nicht fragen, warum nicht? Oder von wem nicht vorgesehen? Es gibt einfach keine Videos vom Ende. Bei niemandem. Ist mir noch nie untergekommen und du kannst mir glauben“, duzte er mich plötzlich, „ich habe sehr sehr viele von den Dingern gesehen.
Zweite Frage, nach dem Wiedersehen und frag mich nicht, warum ich auch das noch beantworte: Ja, wir werden uns wiedersehen.“
„Das freut mich“, sagte ich und meinte das auch so. „Warum haben Sie mir so viel mehr Fragen beantwortet, als Sie ursprünglich wollten?“
„Habe ich das?“, fragte er zurück.
„Ja. Das haben Sie.“
„Und ich glaube, ich habe dir das schon gesagt: Du erinnerst mich ein wenig an mich selbst, als ich jünger war. Also eine gewisse sentimentale Identifikation.“
„Was meinen Sie damit?“
„Nun ja, ich mag mich. Du erinnerst mich an mein jüngeres Ich, also glaube ich, dich zu mögen.“
Und damit hielt er den Player vor mich und ich drückte auf den PLAY Button.
Es war ein sehr kurzes Video. Es zeigte Johanna, wie sie mich in Hamburg vom Flughafen abholte. Sie sah sehr glücklich aus. Sie fragte mich, wie der Flug war und überhaupt die Reise, ob ich mich erholt habe? Ich sagte gar nichts. Ich umarmte sie nur. Drückte sie fest. Ich konnte mein Gesicht dabei nicht sehen. Dann lösten wir uns voneinander und sie zeigte mir etwas auf ihrem Handy. „Hast du das gesehen, das muss gestern in Colombo gewesen sein. Haben Sie sogar in den Nachrichten gezeigt. Hast du je einen solchen Mond gesehen?“
Ich nickte und dann sagte ich „ich war dabei, das war gestern Abend am Strand“. Damit war das Video beendet.
„Damit wäre das mit dem Verrücktsein ja auch noch geklärt“, sagte Brandon Ford, steckte den Player wieder in seine Hosentasche, überquerte die Straße und verschwand in einer kleinen Gasse.
Ich kehrte in mein Hotel zurück, nahm eine Dusche und legte mich nackt und ohne mich abzutrocknen auf das Bett. Zwei Stunden später machte ich mich auf den Weg zum Peetah Markt. Ich trank an einem der unzähligen Stände einen frischen Mangosaft und setzte mich dann an den Strand. Eine halbe Stunde später tauchte der größte Mond, den ich je gesehen hatte, aus dem Meer auf. Riesig und in einem knalligen Orange leuchtend. Alle Menschen um mich herum waren wahnsinnig aufgeregt und zückten ihre Handys, um dieses Bild um die Welt zu schicken. Ich wurde zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz ganz ruhig. Ich war nicht verrückt.
Kapitel 15
Am nächsten Abend landete ich in Hamburg. Johanna holte mich wie geplant vom Flughafen ab. Und jetzt wollt ihr wissen, wie es ist, eine Situation in der Gegenwart zu erleben, die man in der Vergangenheit schon als Zukunft gesehen hat? Die Frage zu formulieren ist das einzig Schwierige daran. Das Erlebnis ist von einer überraschenden Einfachheit. Es ist ein bisschen wie Theater spielen. Da hat man seinen Text gelernt oder eine Geste und versucht sich dann vor Publikum möglichst entspannt daran zu erinnern, was man in den Proben verabredet hat. So hat mir das meine Mutter sehr oft erklärt. Nur als ich Johanna am Flughafen in die Arme nahm und sie mir dann den orangenen Riesenmond vom Strand zeigte, war es genau das, was in diesem Moment geschehen musste. Es fühlt sich nicht anders an als jede andere vergleichbare Situation. Nur dass ich schon wusste, dass sie gleich sagen würde: „Hast du das gesehen, das muss gestern in Colombo gewesen sein. Haben Sie sogar in den Nachrichten gezeigt. Hast du je einen solchen Mond gesehen?“
Und ich wusste, was ich zu sagen hatte, aber nicht, weil ich wie im Theater diesen Text gelernt hatte, sondern weil es der Satz war, der in diesem Moment gesagt werden musste: „Ich war dabei, das war gestern Abend am Strand.“ Ich hätte das auch gesagt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich das sagen würde.
Jeder Mensch kennt doch so etwas wie die berüchtigten Dejavu – Erlebnisse. Dass man weiß, was jemand gleich sagen wird, weil man denkt, dass man diesen Moment schon genauso erlebt hat. Aber das ist ja nur so, weil so viele Momente inclusive aller Träume sich so ähneln. Niemand erlebt ein und dasselbe genau gleich ein zweites Mal. Nicht einmal ich. Denn einen Moment auf einem Video zu sehen und selbst in diesem schon unzählige Mal gesehenen Moment in der Realität zu agieren ist etwas sehr sehr Unterschiedliches. Nur der Unterschied zwischen einem x – beliebigen Moment aus der Realität, den man neu und ohne Dejavu – Gedanken erlebt und einem Moment, von dem man weiß, dass er passieren wird, der ist gar nicht so groß.
Das Merkwürdigste war, dass ich den Moment, als ich ihn real erlebte, überhaupt nicht merkwürdig fand. Ich freute mich, Johanna in den Arm zu nehmen. Ich liebte sie, weil sie wegen des Mondvideos so begeistert war und meinen Kommentar sagte ich mit einem gewissen Stolz, weil laut den Handynachrichten, der orangene Mond der größte Mond gewesen sei, der jemals beobachtet worden war: „Ich war dabei, das war gestern Abend am Strand.“
Johanna wollte wissen, ob ich mich denn ein bisschen erholt hätte. Und ich sagte wahrheitsgemäß, dass ich sehr kaputt sei. Ich erzählte ihr von Colombo, von der Fahrt zu unserem Teelieferanten in den Bergen, von meinem Aufstieg auf den Adams Peak und meinen immer noch leicht schmerzenden Knien. Ich erzählte von der ganzen Reise. Nur von Brandon Ford erzählte ich nichts. Es ging nicht. Als wir zuhause noch ein Glas Wein tranken, hätte ich fast davon angefangen. Für einen Moment schien es mir ganz einfach. Ich wollte schon den Videoplayer holen, ihr den kurzen Film zeigen und dann von Brandon Ford anfangen, aber plötzlich hörte ich wieder jemand die metallene Wendeltreppe in mir herabsteigen. Klipp Klapp. Nur ein paar Stufen. Dann war es wieder still. Und ich beschloss ihr lieber nicht davon zu erzählen. Es würde so oder so genau so kommen, wie ich es schon so oft gesehen hatte. Und ich würde überleben. Brandon Ford hatte gesagt, wir würden uns noch einmal begegnen. Und ich war mir auf eine komische Art sicher, dass diese Begegnung nicht in den nächsten 12 Monaten passieren würde.
Also lebte ich mein Leben so, als ob ich keine Ahnung hätte, was in von Barkhausens Garderobe passieren würde. Und das war das Beste, was ich tun konnte. Ich arbeitete. Ich lebte glücklich mit Johanna zusammen. Ich traf mich hin und wieder mit Jasmin und meiner Mutter. Wir suchten immer noch nach einem Lebenszeichen von Jennifer. Von Barkhausen war Präsident von Zentraleuropa, die Wirtschaftskrise hatte den Abbau der Demokratie beschleunigt und in einigen Ecken der Welt begannen neue, aber zunächst noch kleinere Kriege.
Ich versuchte, mich irgendwie anständig zu verhalten, aber mir wurde immer klarer, dass das nicht reichte. Immer öfter ertappte ich mich dabei, dass ich mir eine radikalere Lösung ausmalte. Und dieses Szenario führte unweigerlich dazu, dass ich mit der in meinem Schreibtisch versteckten Pistole in von Barkhausens Garderobe gehen und ihn zwingen würde, seinen Rücktritt und freie Wahlen bekannt zu geben. Ich hatte keinerlei Ahnung, wohin das führen sollte. Natürlich würde es die freien Wahlen niemals geben und von Barkhausen würde trotzdem Präsident bleiben. Es sei denn, ich schoss ihn nieder.
Seit meinem Treffen mit Brandon Ford hatte ich keine moralischen Bedenken mehr wegen meines Schusses. Ich ging inzwischen sogar davon aus, dass ich ihn erschiessen würde. In dem Moment, an dem seine Spezialeinheit die Garderobe stürmen würde, würde ich abdrücken. Er hatte es mehr als verdient. Schon wegen Djakery. Und da waren so viele Tote mehr. Ich war mir ja auch sicher, dass Jennifer inzwischen tot wäre und bei dieser Vorstellung konnte ich es kaum erwarten, von Barkhausen zu töten. Es würde niemandem helfen, wie er in Endlosschleife sagte. Es würde keinen Sinn machen. Aber es wäre mehr als gerecht. Und ich würde überleben.
Nur Johannas Rolle bei der ganzen Sache verstand ich nicht. Sie kämpfte auf ihre Weise gegen von Barkhausen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig bei einer Aktion wie der meinen mitmachen würde und ich war mir sicher, dass ich sie niemals dazu zwingen würde. Also warum war sie da? Warum filmte sie von Barkhausens Rücktrittsrede und weinte die ganze Zeit dabei?
Der Sommer 2035 war wunderschön. Die Kriegsgefahr war gerade wieder ein klein wenig zurückgegangen und die Wirtschaftskrise betraf wie immer eher die sowieso schon ärmeren Länder. Wenn man mitten in Zentraleuropa lebte wie wir, konnte man immer noch ein paar schöne Tage genießen. Natürlich war es wie fast jedes Jahr zu warm, aber die Abende waren wahnsinnig toll. Johanna und ich machten eine Fahrradtour zur Mecklenburgischen Seenplatte. Schliefen im Zelt, paddelten und schwammen jeden Tag in einem anderen See. Eines Abends machte ich ihr, ohne lange darüber nachgedacht zu haben, einen Heiratsantrag und sie sagte Ja. Wir stellten uns vor, im nächsten Sommer in dieser Gegend zu heiraten.
Natürlich kam es nie zu dieser Hochzeit, denn im nächsten Sommer waren wir beide im Gefängnis.
Kapitel 16
Brandon Ford hat gesagt, dass die Zukunft nicht der Feind ist, sondern nur eine andere Art von Gegenwart. Und die Zukunft, von der ich jetzt erzählen werde, ist inzwischen schon über ein halbes Jahrhundert Vergangenheit. Ich weiß schon lange, warum Johanna bei der ganzen Aktion dabei war. Da war ja noch eine vierte Person. Ihr erinnert euch, die auf dem Video nicht so richtig zu erkennen war. Eine Frau undefinierbaren Alters, nicht besonders groß, die meinen inzwischen schon uralten Maskensmileypullover trug. Um es kurz zu machen, sie hiess Barbara, sie lebte in Berlin und war eine alte Freundin von Johanna. Sie kannten sich seit dem Kindergarten. Sie war Maskenbildnerin und arbeitete beim Fernsehen. Sie besuchte uns Ende Oktober 2035 in Hamburg und die Nächte waren schon ziemlich kalt. Wir sassen auf unserem Balkon und sie fror etwas. Ich holte ihr einen Pulli und ohne darüber nachzudenken, nahm ich den Maskensmileypulli ganz unten aus dem Schrank. Ich wusste in diesem Moment noch nicht, dass sie die 4. Person war, weil ich ihr Gesicht auf dem Video ja nicht erkennen konnte. Aber vielleicht hatte ich ja so eine Ahnung. Ich brachte den Pulli auf den Balkon und Barbara war begeistert. Sie lachte sich über das Smiley mit der Maske kaputt und zog ihn an. Er war ihr in der Tat viel zu groß, aber sie wollte sich nicht mehr von ihm trennen. Natürlich habe ich ihn ihr geschenkt und ich schwöre, dass sie mir erst eine halbe Stunde später erzählt hat, dass sie nächste Woche Robert von Barkhausen für eine politische Sendung schminken würde. Nächste Woche. Noch eine Woche, bis die Zukunft endlich Gegenwart werden würde.
In den nächsten Minuten erinnerten wir uns gemeinsam an die Coronazeit am Anfang der 20er Jahre und waren uns schnell einig, wieviel lieber es uns jetzt wäre, wir würden wie durch einen Zauber wieder in der Pandemie stecken, als in den unzähligen sehr viel dramatischeren Krisen unserer Zeit. Was hätte man damals besser machen können, besser machen müssen, damit wir heute nicht so tief in der Scheiße stecken würden? Und natürlich führte uns diese Frage zu der viel entscheidenderen Frage, was man tun müsste, um aus dieser Scheiße wieder rauszukommen. Was wir tun müssten. Ob man nicht viel viel radikaler denken müsste. Radikaler handeln. Und ich schwöre noch einmal, dass nicht ich unser Gespräch in diese Richtung gelenkt habe.
In meiner Erinnerung gingen die wirklich radikaleren Szenarien von Barbara aus, aber vielleicht will ich mir Johanna nicht einmal in der Vergangenheit als eine im Wortsinn über Leichen gehende eiskalte Rächerin vorstellen.
Sie erzählte ihrer Freundin an diesem Abend die Geschichte von Djakerys Ermordung und Jennifers anschließendem Verschwinden so eindringlich, als wäre sie dabei gewesen. Nun ja, sie hatte das schon mehrfach in den Prozessen geschildert und sie war eine gute Anwältin. Barbara bat sie irgendwann damit aufzuhören. „Sonst kann ich nicht anders als nächste Woche ein Rasiermesser in einer Schubalde des Schminktisches zu verstecken und Von Barkhausen damit die Kehle durchzuschneiden.“
Einen Moment schwiegen wir alle drei.
Dann fragte Johanna, ob sie denn ernsthaft denke, dass sie zu so einer Tat überhaupt fähig wäre. Einem Menschen die Kehle durchzuschneiden?!
Barbara schwieg noch einen Moment, dann lachte sie und sagte: „Nee, das kann ich wohl nicht.“ Und lachte noch einmal und dieses Lachen wirkte traurig wie ein kleiner grauer Teich im November.
Wir verließen kurz darauf den Balkon und wechselten das Thema. Kurz vor dem Schlafengehen fragte uns Barbara sehr unvermittelt, ob uns Georg Elser ein Begriff sei. Mir sagte der Name nichts, aber Johanna kannte ihn: er hatte im November 1939, also kurz nach dem Beginn des zweiten Weltkrieges ein gescheitertes Attentat auf Hitler und die gesamte Führung der Nationalsozialisten gemacht.
Sie hätte vor kurzem einen uralten Film über den Typen gesehen, sagte sie. Ein toller Film über eine echt irre Geschichte: Hitler wäre 13 Minuten vor der Explosion aus dem Lokal abgehauen und sie würde sich fragen, wie sich wohl die Welt verändert hätte, wenn der Elser seinen Zeitzünder etwas schlampiger gebaut hätte und die Bombe ein paar Minuten früher explodiert wäre? Hitler wäre tot gewesen. Hätte das die Geschichte verändert? Und dann lachte sie wieder ihr kleines, trauriges Novemberlächeln.
Ganz ehrlich: Ich habe mir nichts dabei gedacht. Solche Gespräche über die richtigen und effektivsten Formen des Widerstands führten wir damals öfter. Natürlich immer rein theoretisch. Es gab wohl immer noch nicht genug Leidensdruck, als dass wir es ernsthaft bedacht hätten und so hatten wir es meistens am nächsten Tag schon wieder vergessen. Nun gut, ich hätte mir Gedanken machen müssen, denn ich wusste, dass Barbara bei meinem Attentat dabei war, aber sie verkroch sich in einer Ecke und in meinem Pullover. Es war mein Attentat, auch wenn ich eine Woche vorher immer noch keine Ahnung hatte, wie es wirklich dazu kommen sollte.
Kurz vor dem Schlafengehen ging ich noch einmal an meinen Schreibtisch und holte den Videoplayer aus seinem Versteck. Er steckte unter den Steuerunterlagen in der untersten Schublade, zusammen mit der Pistole. Ich hatte beides zusammen gegriffen und die Pistole vor mir auf den Schreibtisch gelegt. Dann schaute ich mir zum hunderttausendsten Mal das Video an. Und zum ersten Mal seit langer Zeit entdeckte ich etwas Neues. Oder ich glaubte, etwas Neues zu entdecken: Die Frau, die sich am Bildrand in meinen Pullover verkroch, hatte etwas in der Hand. Es war beim besten Willen nicht zu erkennen, was es genau war, aber wenn ich eins und eins zusammenzählte, dann konnte es nur ein Rasiermesser sein. Ein altmodisches Teil, zum Aufklappen, schwarz, klein, dünn und sicher sehr scharf. Bisher war es nur ein Strich für mich gewesen, vielleicht ein Bleistift oder nur ein unscharfer Streifen auf der Aufnahme. Aber diese Frau hatte jetzt einen Namen: Barbara, Johannas Kindergartenfreundin. Sie war Maskenbildnerin und würde von Barkhausen in einer Woche für einen Fernsehauftritt schminken. Und sie hatte gerade darüber gescherzt, von Barkhausen mit einem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden.
Soll sie es machen, dachte ich. Er hat es mehr als verdient und vielleicht würde dadurch die Geschichte zum Besseren verändert.
Es würde in der Garderobe passieren, in der Barbara von Barkhausen für den Fernsehauftritt schminken würde. Aber ich würde nicht nach Berlin fahren. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich keine Sekunde gezögert und hätte es getan, aber Johanna war dabei und ich riskierte damit ihr Leben. Nein, nicht mit mir. Barbara muss ihr Attentat schon alleine durchführen. Ich würde diese Art von Zukunft verweigern. Es würde nicht passieren, was auch immer Brandon Ford davon halten würde.
Ich nahm die Pistole in die Hand und erst in diesem Moment bemerkte ich Johanna, die mich sehr erschrocken anschaute.
„Was hast du da?“, fragte sie.
„Eine Pistole“, sagte ich.
„Wozu hast du eine Pistole? Was soll der Scheiß?“
Klick Klack. Klick Klack.
Ich glaube, das war meine letzte Chance, Johanna die ganze Geschichte zu erzählen, aber ich habe es nicht getan.
„Die hat mir Jennifer gegeben. Kurz bevor sie verschwunden ist. Sie hatte sie sich besorgt, nachdem sie aus dem Gefängnis freigekommen ist. Ich musste vorhin daran denken, als Barbara von dem Attentäter erzählt hat.“
„Warum hast du mir das nie gesagt?“, fragte Johanna und setzte sich neben mich. Ich hatte immer noch die Pistole in der Hand. Der Player lag mit den PLAY und DONT PLAY Buttons nach oben auf dem Schreibtisch.
Es wäre sehr einfach gewesen, die Wahrheit zu sagen. Das weiß ich jetzt. Das weiß ich seit vielen Jahren. Aber ich wusste es nicht in dieser Nacht.
Klick Klack. Klick Klack.
„Jennifer wollte es nicht. Es war ihr irgendwie peinlich, dass sie an Rache und Mord gedacht hat.“
„Ist die geladen?“
Ich nickte.
„Arme Jennifer“, sagte Johanna und dann fragte sie mich, ob sie die Pistole einmal in die Hand nehmen dürfte. Ich gab sie ihr. Und dann war es sehr still. Johanna streckte den Arm aus und zielte in die Dunkelheit.
„Das ist ekelhaft“, sagte sie.
Und ich nickte noch einmal.
Johanna gab mir die Pistole zurück. Ich legte sie zusammen mit dem Player in die Schublade.
„Das sind so beschissene Zeiten“, sagte Johanna und umarmte mich lange.
Klick Klack. Klick Klack.
Es ist leicht, einen Menschen zu verachten, weil er gelogen hat. Aber wenn ich Verachtung verdient habe, dann nicht wegen dieser kleinen Lüge. Ich habe alles dafür getan, das Attentat und die damit verbundene Zukunft zu verhindern. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, zu verweigern. Alles außer Johanna oder irgendjemand sonst, die Wahrheit über den Player zu erzählen. Aber ich glaube, selbst dann wäre es so gekommen, wie es nun mal gekommen ist. Johanna hat recht, es ist ekelhaft, mit einer Pistole auf Menschen zu zielen, aber es gibt so unendlich viele ekelhafte Dinge, die Menschen anderen Menschen antun.
Ich lag in dieser Nacht lange wach und lauschte Johannas ruhigem Schlafatem. Ich liebte diese Frau. Ich würde ihr diese Zukunft nicht zumuten. Da war ich mir in dem Moment todsicher. Ja, so sagt man doch, wenn man ganz ganz ganz sicher meint.
Klick Klack. Klick Klack. Je sicherer ich war, das Attentat und die Zukunft einfach zu verweigern, desto öfter hörte ich Brandon Ford in mir die Treppe hinunterlaufen, denn inzwischen war es mir klar, dass er es war, der diese Geräusche verursachte. Klick Klack, Klick Klack. Sehr leise und mehr war nie zu hören. Als ob er immer wieder dieselben Stufen der Wendeltreppe herunterstiefelte. Irgendwann müsste er doch mal unten angekommen sein. Aber es hörte nicht auf. Und er sprach nicht mit mir. Vergesst nicht, ich war nicht verrückt, ich hörte keine Stimmen und ich bildete mir auch keine Geräusche ein. Da war dieses Klick Klack. Immer wieder. Leise. Sehr ausdauernd und unglaublich enervierend.
Aber da konnte Brandon Ford so lange im Kreis Abwärtsspiralen laufen wie er wollte, ich würde die Zukunft verweigern. Ich würde nicht nach Berlin fahren.
Dafür fuhr Johanna. Drei Tage bevor Barbara ihre Arbeitsverabredung mit von Barkhausen hatte. Sie hätte beruflich in Berlin zu tun, erklärte sie mir und außerdem hätte sie das Gefühl, dass es Barbara nicht gut ginge. Ihre Freundin hätte schon öfter in ihrem Leben so Phasen durchgemacht und Johanna machte sich Sorgen, dass Barbara gerade wieder ziemlich tief in so einer Phase stecken würde. Mit 14 hätte sie sogar mal versucht, sich das Leben zu nehmen.
Ich fragte Johanna, ob ich mitkommen sollte, aber sie meinte, dass sei eher eine Freundinnensache und außerdem hätte ich doch zu arbeiten.
Ja, ich hatte zu arbeiten und außerdem würde ich sowieso nicht nach Berlin fahren.
Klick Klack, Klick Klack. Die nächsten drei Tage war Brandon Ford in einer Art Dauereinsatz und ich konnte mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren.
Dann kam der Tag, an dem es nun endlich passieren sollte. Oder beziehungsweise eben nicht passieren sollte. Weil ich mich gegen diese Zukunft entschieden hatte. Ich hatte die Nacht kaum geschlafen. Wegen des ewigen Klick Klack und meiner Aufregung. Um kurz nach 12.00 Uhr rief mich Johanna an. Ob ich sofort nach Berlin kommen könne? Barbara hätte einen Zusammenbruch gehabt. Lange geheult und gezittert und erst vor einer halben Stunde wäre sie plötzlich sehr ruhig geworden und hätte ihr gestanden, dass sie sich entschieden hätte, von Barkhausen heute in seiner Garderobe zu töten. Sie wäre wirklich entschlossen. Wir müssten sie irgendwie davon abhalten und Johanna alleine schaffe das einfach nicht. Ich sagte ihr, ich würde sofort losfahren.
Und ich verließ auch wirklich innerhalb von ein paar Minuten das Haus und hatte, ohne darüber nachzudenken, genau die Klamotten an, die ich in dem Video anhatte. Jeans, ein blaues Hemd, ein grüner Pullover und meine Lederjacke. Gut, so lief ich fast jeden Tag herum. Aber die Pistole hatte ich nicht mitgenommen.
Ich war erst ein paar Meter unterwegs, als Johanna nochmal anrief. „Nimm die Pistole mit“, sagte sie.
„Warum das denn?“
„Vielleicht können wir Barabara nur aufhalten, wenn wir ihr drohen. Keine Ahnung. Nimm sie einfach mit.“
Wenn ich es wirklich ernst gemeint hätte, mit meinem „die Zukunft verhindern“, dann hätte ich Johanna aber sowas von widersprochen und die Knarre in keinem Fall mitgenommen. Klick Klack, Klick Klack. Ich lief so schnell ich konnte, zurück in die Wohnung und steckte die Pistole ein. Ich hatte wohl doch keine andere Wahl.
Kapitel 17
Ich kam um kurz nach drei in Berlin an und nahm mir ein Taxi, um zu Barbara zu kommen, die im Wedding wohnte. Das Taxi war gerade erst losgefahren, als mich Johanna wieder anrief. Völlig aufgelöst. Barbara sei verschwunden. Sie wären die ganze Zeit in der Küche gesessen, hätten Tee getrunken und geredet. Barbara hätte wieder völlig normal gewirkt und gelacht und gesagt, dass sie das mit dem von Barkhausen ermorden natürlich nicht ernst gemeint hätte. Johanna sagte ihr, sie hätte aber verdammt ernst geklungen und dass ich auf dem Weg nach Berlin sei, weil sie sich so Sorgen machen würde, aber Barbara beruhigte sie und dann meinte sie, sie müsse mal auf Klo und natürlich kam sie nicht wieder und es hatte ein wenig gedauert, bis Johanna kapiert hatte, dass Barbara nicht auf der Toilette war, sondern schon vor ein paar Minuten die Wohnung verlassen hatte. Sie hätte von außen abgeschlossen. Johanna kam nicht heraus. Und ich nicht hinein.
Ich versuchte, die Tür aufzubrechen, aber das ist nicht so einfach wie in den Fernsehkrimis. Eintreten ging genausowenig. Barbara wohnte im dritten Stock in einem Altbau und die Tür war alt, aber sehr massiv. Schlüsseldienste weigerten sich überhaupt zu kommen, sie dürften die Tür sowieso in keinem Fall öffnen, weil weder ich noch Johanna in der Wohnung gemeldet waren. Bei einem Sonderfall wie unserem müssten wir die Polizei benachrichtigen. Das kam für uns aber nicht in Frage, weil wir nicht erklären konnten, beziehungsweise wollten, warum Barbara Johanna eingeschlossen hatte.
Und so verging die Zeit.
Wir unterhielten uns aufgeregt flüsternd durch den Briefschlitz in der Tür, um nicht zu sehr bei den Nachbarn aufzufallen.
Von Barkhausens Fernsehauftritt war um 19.00 Uhr. Also würde er irgendwann vorher von Barbara geschminkt werden. Wollten wir das noch verhindern, mussten wir sie also bis spätestens 17.00 oder 17.30 gefunden haben. Jetzt war es 15.25 Uhr. Natürlich hatte Barbara ihr Handy ausgestellt. Sie wollte das durchziehen. Mit einem Rasiermesser, genau wie sie es vor einer Woche bei mir auf dem Balkon mit ihrem kleinen traurigen Lachen das erste Mal gesagt hatte. Und ein Rasiermesser hatte sie auf meinem Video in der Hand. Aber diese Zukunft drohte jetzt nicht, Gegenwart zu werden. Es drohte ein Blutbad. Egal ob sie es schaffen würde, von Barkhausen zu töten. Konnte man das überhaupt mit einem Schnitt? Und wären da nicht die ganze Zeit irgendwelche Sicherheitskräfte? Die würden sie wahrscheinlich sofort erschiessen, wenn Sie das Messer ziehen würde.
Ich schlug vor, die Polizei anzurufen und eine Warnung auszusprechen, dass von Barkhausen heute im Fernsehsender ermordet werden sollte, aber Johanna meinte, dann wäre Barbaras Leben für immer zerstört und unseres gleich mit, weil sie natürlich rausfinden würden, wer das war. Alle Handyanrufe wurden doch gespeichert, schon lange war nichts mehr anonym.
Johanna sagte, wir müssen Sie erwischen, bevor sie zur Tat schreiten kann und dann bringen wir sie erstmal weit weg und sie wird sich beruhigen, sie wird zu sich kommen.
„Vielleicht“, flüsterte ich zurück, „ist sie ja ganz bei sich, so wie Georg Elser wusste, was er tat, als er die Bombe bastelte.“
„Bitte hilf mir, das geht doch nicht um von Barkhausen, das geht um Barbara, sie ist meine beste Freundin, sie darf das einfach nicht machen, sie darf ihr Leben nicht wegschmeissen.“
Und da fing Johanna an zu weinen. Das erste Mal an diesem Tag, an dem sie noch so viele Tränen vergiessen sollte.
Man kann einen Menschen nicht durch einen Briefschlitz trösten. Nicht, wenn dieser Mensch so verzweifelt ist wie Johanna in diesem Moment.
Ich sagte ihr, sie solle von der Tür weggehen und dann warf ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Fünf Mal, bis meine Schulter so weh tat, dass ich damit aufhören musste.
Johanna rief mir zu, ich solle nach draussen gehen. Es sei ja nur der dritte Stock.
Ich rannte hinunter und ging in den Hof. Johanna kletterte schon aus dem Küchenfenster. Sie hatte Bettlaken aneinandergeknotet und liess sich ohne zu zögern, daran herunter.
Der dritte Knoten löste sich, als sie ungefähr 4 Meter über der Erde schwebte. Sie fiel, ich schrie, sie merkwürdigerweise nicht und sie landete direkt in meinen Armen. Beziehungsweise auf mir drauf, weil ich sie nicht wirklich festhalten konnte. Wir gingen beide zu Boden. Ihr war außer einem ziemlichen Schreck nichts passiert. Ich hatte ein gestauchtes Handgelenk und kaputte Knie, aber was machte das schon. Johanna rannte los, ich humpelte hinterher. An den Fenstern standen Nachbarn. Die einen riefen uns nach, ob alles in Ordnung sei? Die anderen hatten uns mit ihren Handys gefilmt und tippten jetzt wie blöd darauf herum.
Wir brauchten etwas Zeit, bis wir ein Taxi hatten und fuhren um kurz vor 17.00 vor dem Sendegebäude vor. Wir rannten rein, aber schon am Empfang kamen wir nicht weiter. Kein Zutritt ohne Sendeausweis. Wir müssten zu Barbara König, Maskenbildnerin bei der Sendung „Berlin Mitte“.
„Da könnten sie nicht mal mit Ausweis rein, da ist doch heute unser Präsident“, sagte der Pförtner lachend.
Johanna fragte, ob man Frau König eine Nachricht zukommen lassen könne, aber nicht einmal das war möglich.
„Das ist Sicherheitszone, da kommt niemand rein und da geht niemand raus. Also bis nach der Sendung. Da müssen Sie sich jetzt einfach gedulden.“
„In Frau Königs Wohnung ist eingebrochen worden“, sagte Johanna und sprach mit Ihrer besten Schlußpladoyerstimme, „wir haben die Einbrecher sozusagen auf frischer Tat ertappt, deshalb sehen wir auch ein bisschen derangiert aus“, sie lächelte sehr gewinnend und schaltete dann plötzlich auf einen ernsten und traurigen Ton, „aber die kleine Tochter von Frau König ist dabei schwer verletzt worden, sie ist jetzt in der Charité im künstlichem Koma.“ Ich stieß Johanna am Ellenbogen an, damit sie nicht zu sehr übertrieb, aber sie weinte jetzt. Das zweite Mal an diesem Tag. Es sah genauso echt aus wie auf dem Video, aber natürlich hatte Barbara nicht mal Kinder.
„Ich will mal sehen, was ich tun kann“, sagte der Pförtner. Wählte eine Nummer und sagte „Gib mir mal Studio B“ und zog sich zum weiteren Telefonieren in den hinteren Teil seines Büros zurück. Ich schaute mich währenddessen um, ob wir auch ohne Erlaubnis eine Chance hatten, zu Studio B zu kommen. Laut der Beschilderung lag das im 1. Stock, aber sowohl an den Fahrstühlen, wie am Treppenaufgang standen Securitymänner.
Nach einer halben Minute kam der Pförtner wieder zurück, drückte sein Bedauern aus, „wie ich gesagt habe, da ist jetzt nichts zu machen, aber wenn die Kleine in der Charité ist, dann ist sie ja bestens versorgt.“
Und dann bat er uns den Eingangsbereich zu verlassen.
Die nächsten zwanzig Minuten verbrachten wir in größter Aufregung auf der Straße vor dem Fernsehgebäude. Ich rannte einmal um das ganze Gebäude herum, ob irgendwo eine Chance war, durch einen Parkplatzeingang oder einen Keller oder eine Feuerleiter hineinzukommen, aber da war einfach nichts und es standen überall Sicherheitsleute herum.
Ich rauchte und wurde langsam ruhig. Es gab keine Chance. Wenn Barbara von Barkhausen umbringen wollte, dann würde sie das tun. Es war ihre Entscheidung. Wir konnten sie nicht davon abhalten. Wir hatten damit nichts zu tun.
Ich machte die Zigarette aus und nahm Johanna in den Arm. Meine Schulter und meine Knie schmerzten, aber das würde alles vorbeigehen. Barbara war einsam. Sie hatte sich entschieden. Warum auch immer. Warum hatte Elser seine Bombe gebastelt? Wir konnten nichts machen. Barbaras Zukunft war ein schneller Tod oder ein langes Leben im Gefängnis, bis die inzwischen wieder eingeführte Todesstrafe vollstreckt werden würde. Johannas und meine Zukunft war eine andere.
„Wir müssen jetzt da rein“, sagte Johanna. „Gib mir die Pistole.“
„Bist du wahnsinnig?“, sagte ich.
„Wir müssen doch etwas machen.“
„Die knallen uns ab, bevor wir auch nur halb die Treppe hochgelaufen sind.“
Und dann fing Johanna erneut an zu weinen. Das dritte Mal. Sie weinte um ihre beste Freundin. Johanna und ich hielten uns aneinander fest und ich hörte ihr Herz sehr schnell schlagen. Und dann hörte ich noch ein anderes Geräusch, aber das war in mir und ich merkte an Johannas ausbleibender Reaktion, dass sie es nicht hören konnte: Klick Klack, Klick Klack.
Es waren nur ein paar Schritte, die Brandon Ford auf seiner Wendeltreppe hinabstieg und doch veränderte sich im selben Moment alles.
Ich sah es zuerst an Johannas Haaren. Da war ein orangener Schimmer und bevor ich mich umdrehte, wusste ich, was diesen Schimmer verursachte. Der Mond ging über Berlin auf und wenn er in Colombo schon riesig gewesen war, dann war es jetzt mindestens das Doppelte. Vollkommen unnatürlich, gigantisch groß und wahnsinnig schnell erschien er und tauchte die gesamte Szenerie in sein orangenes Licht. Alle Menschen drehten sich in die Richtung des Mondes und staunten, riefen ahh und ohh oder schwiegen ehrfürchtig. Und machten sich gegenseitig auf den Mond aufmerksam. Johanna nahm plötzlich meine Hand, drückte sie und ging mit mir im Schlepptau los. Rein in das Sendegebäude, vorbei am Pförtner, an den Sicherheitsleuten, die alle an die Türen und Fenster gelaufen waren, um den Mond anzustarren. Wir nahmen die Treppe rauf, auch im 1. Stock dasselbe Bild. Niemand kümmerte sich um uns. Johanna zeigte auf ein Schild, Maske und ein Pfeil darunter. Wir gingen einen kleinen Gang mit 5 Türen lang, öffneten alle, die ersten drei Räume waren leer, im vierten waren Barbara und Von Barkhausen. Sie waren allein. Er sass vor dem Schminkspiegel und sie stand hinter ihm, hielt seinen Kopf in den Nacken gedrückt und presste das Rasiermesser an seine Kehle.
Johanna machte die Tür zu und ich sah, dass ein Schlüssel von innen steckte. Ich drehte ihn um und schloss uns ein. Allzu lange würden die Sicherheitsleute nicht den Mond anstarren, wenn er auch noch so groß war.
„Barbara, leg das Messer weg“, sagte Johanna, aber ihre Freundin reagierte nicht darauf.
Sie schien versunken in einer Welt, die niemand außer ihr betreten konnte.
„Tu das nicht“, versuchte Johanna es erneut. „Das ist er nicht wert.“
Es war nicht zu erkennen, ob Barbara uns erkannt hatte, ob sie Johannas Worte hörte oder gar den Sinn verstand. Sie drückte das Messer in die Haut des Präsidenten von Zentraleuropa und bewegte sich keinen Millimeter.
„Hören Sie auf ihre Freundin“, sagte von Barkhausen und seine Stimme klang erstaunlich furchtlos, aber auch er bewegte sich nicht.
„Halten Sie den Mund“, sagte Johanna und zu Barbara „Gib mir das Messer“.
Sie streckte ihre Hand aus und dann bewegte sich niemand mehr.
Ein Handy klingelte. Es gehörte von Barkhausen. „Nicht rangehen“, sagte ich, obwohl er keine Anstalten gemacht hatte. Ich nahm das Handy und schaltete es aus. Dann legte ich es zurück auf den Tisch.
Wir waren für eine kleine Ewigkeit alle vier wie eingefroren. Johanna mit der zu ihrer Freundin ausgestreckten Hand. Die mit dem Rasiermesser an von Barkhausens Kehle. Ich mit einem Abstand von etwa anderthalb Metern daneben. Eine kleine Ewigkeit. Wahrscheinlich nur ein paar Sekunden. In der alles in der Schwebe schien. Barbara konnte den tödlichen Schnitt setzen. Sie konnte Johanna das Messer geben. Von Barkhausen konnte in Ohnmacht fallen. Ich konnte die Pistole ziehen und alle über den Haufen schiessen.
Aber wir warteten. Auf die Erlösung. Auf die Zukunft, wie sie von wem auch immer irgendwann einmal gedacht war. Und dann fiel mir die Lampe ein, die auf dem Video deutlich blendend zu sehen war. Sie war aus. Und ich schaltete sie an und beendete damit die kleine Ewigkeit. Die Zeit rastete ein und die Zukunft wurde ohne größere Probleme zur Gegenwart.
Als erstes bewegte sich Barbara. Erstaunt schaute sie zu der gerade angegangenen Lampe. Dann zu mir. Dann zu Johanna. „Johanna“, sagte sie, „was machst du hier?“
„Dich von einem ganz blöden Fehler abhalten“, sagte Johanna und fing an zu weinen. Die Tränen, die ich schon seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Wegen ihrer Freundin. Wegen des Elends der Welt. Wegen allem auf einmal. Aber niemals weil ich sie gezwungen hatte bei dieser Aktion mitzumachen. Oder gar aus Liebe zu mir.
Jetzt blickte Barbara auf das Rasiermesser, dass sie immer noch von Barkhausen an die Kehle drückte. Sie schien überrascht zu sein. Sie ließ das Messer sinken.
„Meinst du das?“, sagte sie zu Johanna und in diesem Moment stieß von Barkhausen Barbara mit großer Kraft von sich weg. Sie landete genau dort, wo sie auf meinem Video gesessen hatte. Das Messer hatte sie noch in der Hand.
„Lassen Sie sie in Ruhe“, sagte Johanna zu von Barkhausen.
„Ich danke Ihnen“, antwortete der.
„Das habe ich nicht für Sie getan“, sagte Johanna. „Meinetwegen könnten Sie hier verbluten, wie so viele Ihrer Opfer.“
„Ich habe nie jemanden verbluten lassen“, sagte er.
Ich habe Johanna niemals so wütend gesehen wie in diesem Moment. Sie machte einen Schritt auf mich zu und bevor ich begriff, was sie wollte, hatte sie die Pistole aus meiner Jackentasche gezogen und auf von Barkhausen gerichtet. „Sie und ihre Politik haben Tausende unschuldige Menschen verbluten lassen. Sie haben sie erschossen oder meinetwegen erschiessen lassen und hingerichtet und sonstwie massakriert. Sie sind für soviel Elend verantwortlich, dass ich nur noch kotzen könnte. Warum habe ich meine Freundin daran gehindert, sie umzubringen. Sagen Sie mir das?!“ Die ganze Zeit sprach sie mit fester Stimme, aber die Tränen liefen ihr wie kleine Bäche aus den Augen.
Von Barkhausen beantwortete die Frage nicht. „Das wird Ihnen nicht helfen, das wird niemandem helfen.“
Ich wusste, er würde diesen Satz gleich noch einmal sagen, aber vorher musste ich an die Pistole kommen.
„Lass das, Johanna“, sagte ich und streckte meine Hand nach ihr aus. „Du hast selbst gesagt, das ist ekelhaft.“
„Ja, ist es auch, aber irgendwas müssen wir doch machen. Wir können ihn doch nicht einfach so davon kommen lassen.“
„Sie werden vor allem selbst nicht davon kommen“, sagte von Barkhausen. „Meine Leute werden in wenigen Momenten diese lächerliche Tür aufbrechen und dann sterben sie alle drei.“
„Aber vorher werden Sie noch eine kleine Rede halten“, sagte ich und nahm Johanna einfach die Pistole ab und richtete sie sofort wieder auf von Barkhausen.
„Johanna, nimm dein Handy, nimm auf, was er sagt und poste es gleich“, sagte ich „und dann verschwinden wir von hier.“
Dann erklärte ich dem Präsidenten, dass er seinen Rücktritt erklären und freie Wahlen verkünden sollte. Ich sagte ihm seinen ganzen beschissenen Text vor. Natürlich konnte ich ihn auswendig, sooft wie ich ihn gehört hatte. Johanna nahm immer noch weinend ihr Handy und filmte ihn und damit wurde die Zukunft endgültig zur Gegenwart und eine halbe Minute später schon zur Vergangenheit.
„Fangen Sie endlich an“, sagte ich, wissend, dass genau dieser Satz jetzt gesagt werden musste.
„Es wird Ihnen nicht helfen, es wird niemandem helfen“, antwortete von Barkhausen, immer noch lächelnd. Ich konnte den Satz wirklich nicht mehr hören. Und sein selbstgerechtes falsches Lächeln macht mich sicher in meinem Handeln. Ich werde ihn erschiessen, dachte ich und fing an zu zählen.
Rückwärts von zehn beginnend. Ich ärgerte mich, aber obwohl ich wusste, dass er den Text gleich fehlerfrei aufsagen würde, wurde meine Stimme von Zahl zu Zahl immer dünner. Johanna hielt das Handy hoch und weinte noch immer.
Barbara verkroch sich immer weiter in den Pullover.
Als ich bei drei angekommen war, fing der Präsident an: „Ich, Robert von Barkhausen, Präsident der Republik Zentraleuropa erkläre hiermit meinen Rücktritt von allen Ämtern. Ich tue das freiwillig“ - natürlich wurde sein Lächeln noch einen Tick breiter - „und aus tiefster Überzeugung, dass damit der Weg zu einem dauerhaften Frieden möglich sein wird. Als letzte Amtshandlung hebe ich das Verbot aller politischen Parteien auf und ordne demokratische Neuwahlen zum 1. März 2036 an.“
An dieser Stelle hörte er auf und sagte noch einmal ganz leise zu Johanna: „Es wird Ihnen nichts helfen. Niemandem hilft das. Sagen Sie das ihrem Freund, Johanna.“
Johanna schaute zu mir.
Ich sagte, „Lad das Video hoch“.
Dann standen wir alle ein paar Sekunden sehr still. Wie eingefroren. Nur Barbara versuchte noch mehr in dem Pulli zu verschwinden.
Plötzlich hörten wir den kurzen sehr hohen Ton und eine Sekunde später das mechanische Klicken. Dreimal kurz hintereinander. Vielleicht Schalter, die umgelegt wurden. Ich denke das wirklich.
Von Barkhausen hörte auf zu lächeln. „Tut mir wirklich leid, Johanna“, sagte er und ich wusste, gleich wird der Raum explodieren und Johanna wird „Nein, Fritz, nein!“, schreien und damit endete alles. Mehr wusste ich nicht. Ich hatte zum ersten Mal seit meinem 12. Lebensjahr eine Zukunft vor mir, die nicht bestimmt war. Von der ich nichts, aber auch gar nichts wusste. Dieser Gedanke machte mich unendlich glücklich.
Klick Klack, klick klack.
Und dann drückte ich ab.
Ich verabschiede mich mit diesem zugegeben etwas fiesen Cliffhanger in eine Pause von unbestimmter Länge, weil ich in den nächsten Wochen das jahrmarkttheater Sommerstück "Patience Camp" schreiben werde. Ich melde mich, sobald es mit "Roman 3" weiter geht und selbstverständlich wird das auch auf unserer Website "www.jahrmarkttheater.de veröffentlicht. Bis dahin wünsche ich euch allen eine gute Zeit und vielen Dank für euer Interesse!
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